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Tage waren vergangen. Der Kranke schlug die Augen auf und starrte aus seiner Wirrnis verschwommen ins Zimmer. Am Bette saß Estherlein und rief jubelnd, kaum vernehmbar: »Er schaut, er schaut!« Ihre Augenlider und der Mund zuckten. Adelheid und Küngold, die am Fenster nähten, warfen ihre Arbeit hin. Joseph Schmärzi trat auf den Fußspitzen ans Bett heran. Er war am Morgen herüber gekommen. Es war Sonntag. Das Abendrot funkelte durch die Baumkronen und troff durch die Scheiben aufs Bett. Alle standen nun bei Reinhart bis auf Adelheid, die sitzen geblieben war, denn sie erwartete stündlich ihre Niederkunft.
»Gelt, nun wirst du wieder ganz gesund,« flüsterte Estherlein zärtlich.
»Bin ich krank?« fragte er mit weiten Augen. »Aber natürlich, der Mensch ist krank. Ich hab' es ja immer gesagt. Der Arzt muß kommen.«
»Er kommt bald wieder,« versicherte Estherlein.
Küngold sah ihn mit ihren dunkeln Augen an: »Denk', Reiner, die Welt ist im Kriege.«
Er horchte auf. »Natürlich, im Kriege. Oder sagt man Krise? Nein! Im Schmelzofen! Die Menschheit wird geschmolzen. Ihr versteht: ein neuer Aggregatzustand. Ich weiß nicht recht! Mein Kopf ist so leer. Einerlei, wir müssen den Weltteufel erschlagen. Den Moloch, wißt ihr?«
»Nein, Reinhart, es ist wirklich Krieg, eine Welt gegen die andere.«
»Versteh schon, Mutter, eine Welt gegen die andere. Oder man könnte sagen: Der Weltteufel gegen den – – – wie sagt man doch? Ich muß aufstehen, ich muß für den Menschen fechten. Versteht ihr?«
»Wir wollen lieber vom Frieden sprechen,« ängstete Küngold.
»Ich spreche ja gerade vom Frieden, Mutter, was spreche ich anderes? Natürlich, Friede, Friede! Gelt, du bist blind?«
»Die Mutter ist doch tot, Reiner,« schluchzte Küngold.
»Man kann auch sagen tot. Aber nein, die gute Mutter ist nur blind. Man kann ihr helfen. Ich muß aufstehen, ich muß ihr die Augen öffnen! Ich habe doch ein Schlüsselbuch geschrieben. Aber meine Hände sind so schwer! Ich glaube, ich muß vorher schlafen. Rück mir das Kissen, Estherlein.«
Sein Blick fiel auf Joseph Schmärzi: »Du siehst übel aus,« sagte er leis. »In der Schublade ist noch etwas Geld. Geh damit ins Wirtshaus und bestell' dir etwas.«
»Hab' keine Sorge um mich,« erwiderte Joseph. »Benedikt läßt dich grüßen. Er kommt heut' auch wieder herüber, wenn er genug auf seinen Gräbern gesessen hat. Werktags schreibt er Adressen in der Schreibstube für Stellenlose.«
Reinhart horchte auf: »So, er schreibt Adressen! Hans Glückselig muß immer das Geistvollste tun. Aber das muß wohl so sein! Sag' ihm, er solle an alle Guten schreiben und sie zu einer Landsgemeinde laden. Ja, das soll er. Aber er soll auch an die Bösen schreiben und ihnen sagen: Werdet nur dick wie die Nacht, wenn der Mond abnimmt. Das ist gut. In den dunkelsten Nächten wächst das Gute am besten, Äpfel und Birnen und Zuckerrüben. Das hat mir die Großmutter Annabab einmal gesagt.«
Küngold hielt ihm die Hand über den Mund, wie um die wirren Worte nieder zu halten.
Onkel Melchior trat herein und faßte Reinharts Hand. Der Kranke sah ihn lange an und erkannte ihn endlich: »Du bist der Stärkste von uns. Du bist ein Held, weißt du, was den Helden macht? Das Herz, das Herz! Unbedingt, sagt der Russe. Auch du hast es, Esther, und das macht dich gerad'. Das Herz ist die stärkste Waffe. Man sagt doch: Er hat Herz. Schau, Melchior, Arnold Winkelried hat den Feind mit dem Herzen bezwungen. Einer für alle! Hörst du: ›für‹. Das hat sein Herz gesagt! Hat er es überhaupt gesagt? Ihr müßt mir helfen! Wenn ich geschlafen habe, wird es mir klarer sein, dann ziehen wir zusammen aus, Melchior, und drücken die Lanzen nieder. Joseph kommt auch mit.«
Alle weinten in sich hinein. Auch Adelheid war nun herangetreten. Er staunte ihr ins Gesicht und sagte: »Du bist die Adelheid. Du bist groß und stark, gebier das rechte starke Herz, das Herz der Mutter und der Großmutter und Abrahams und Estherleins und Melchiors zusammen, den rechten Golsterhofer, weißt du! Du hast viel zu schaffen! Ist das die Morgensonne oder die Abendsonne?«
»Sie geht bald unter.«
»Ich wollte, es wäre Morgen statt Abend. Aber gelt, wenn sie einem untergeht, geht sie immer einem anderen auf? Halt mir die Hand, Esther! So, fest!«
Er sann auf ihre kleine zitternde Hand hin. Nach einer Weile begann er wieder zu sprechen, aber ohne Zusammenhang. Dann wurde er still, und wie der letzte Sonnenstrahl aus dem Zimmer wich, entschlummerte er.
In diesem Augenblick kündete sich Adelheids Stunde und eine neue Generation auf dem Golsterhof an.