Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

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Fünftes Kapitel

Proletarier

Ein vornehmes Haus, etwas von der Straße abgerückt, ganz in Zedern, Weimutskiefern und Eiben versteckt. Reinhart läutete und wurde von einem Mädchen in einen großen Raum zu ebener Erde geführt, in dessen Mitte ein Bechsteinflügel aus Mahagoniholz protzte. An den Wänden hingen neuere Gemälde, eine Figur von Hodler neben Kitsch. Man ließ Reinhart lange warten. Endlich schob sich der Hausherr, ein breiter, etwa fünfzigjähriger Mann mit leicht ergrautem, borstigem Haar und Schnurrbart formlos herein. Es war ein Überseer, der in Seidengeschäften viel Geld verdient hatte. In die Heimat zurückgekehrt, spielte er sich als Förderer der Oper auf, und die ganze Stadt wußte, daß er eine Sängerin in Bankscheine bettete.

»Sie sind der junge Mann,« begann er ohne Umschweife, »der sich mir zu Privatstunden angeboten hat. Es handelt sich um meinen Jungen. Intelligentes Gewächs. Sie hätten ihn aufs Gymnasium vorzubereiten. Haben Sie Zeugnisse?«

Reinhart besaß nur seinen Maturitätsausweis. Herr Bornhauser, so hieß der Mann, warf einen flüchtigen Blick auf das Papier und blies Reinhart dann die Worte hin: »Na, probieren wir's mal, ich zahl' Ihnen anderthalb Franken für die Stunde. Paßt Ihnen das? Sie sind natürlich nicht der einzige Bewerber. Aber wenn ich einem ... Na, also, wie steht's?«

Reinhart fühlte sich durch den Ton der Verhandlung gedemütigt, aber er dachte an Küngold und Joseph Schmärzi, für die er sorgen wollte, und nahm an.

Am folgenden Tag wurde er in ein Dachstübchen gewiesen, das sich in dem prunkvollen Hause seltsam ausnahm. Die Dame des Hauses rauschte in tiefblauer Seide herein, stieß ein farbloses »Tag« hervor und stellte Reinhart seinen Schüler vor: »Hier, mein Eduard. Quälen Sie mir ihn, bitte, nicht allzu sehr. Er ist so zart. Und nun will ich nicht weiter stören.« Sie warf durch ihren goldenen Kneifer noch einen schwärmerischen Blick auf ihr Söhnchen, nickte Reinhart kalt zu und verschwand.

Lehrer und Schüler setzten sich an das Tischchen, das mitten in der Mansarde stand, und Reinhart begann, das Wissen des Knaben abzutasten, um zu sehen, wie er weiterzubauen hatte. Eduard fand dieses Vorgehen offenbar langweilig und suchte durch allerlei Seitensprünge den Lehrer auf einen lustigeren Pfad zu locken. Als seine Anschläge mißrieten, riß er durch eine Handbewegung, die Reinhart verborgen bleiben sollte, seine Krawatte herunter.

»Nun ist mir die Binde zu Boden gefallen,« sagte er in der Erwartung, der Lehrer werde sie ihm aufheben. Als Reinhart nicht auf das Scherzchen einging, befahl er: »Hängen Sie sie mir wieder an, Herr Lehrer.«

»Laß sie nur,« entgegnete Reinhart.

»Ich will doch nicht wie ein Schwein dasitzen!« zürnte der Junge.

»An der Krawatte liegt's nicht. Und übrigens kannst du sie wohl selber anhängen.«

»Nein, ich mach' das nie selber, ich läute der Grete!«

Er sah sich im Zimmer um: »Nicht einmal einen Läutknopf gibt's in diesem Stall!« Er wurde ganz wütend, sprang zur Türe und schrie in den Flur hinaus: »Grete, Grete!« Als keine Antwort erfolgte, fing er an zu brüllen, daß er rot wurde: »Grete, Grete – e – e!« Nun wurde es stürmisch im Haus. Das Dienstmädchen kam gestürzt, und bald schwamm auch Frau Bornhauser heran: »Was ist dir, Liebling?«

»Er will mir die Binde nicht anhängen!« schrie der Knabe und wies mit der kleinen Faust auf Reinhart.

»Wollen Sie das wirklich nicht?« fragte die Dame ganz ungläubig.

»Er hat sie mit Absicht heruntergerissen.«

»'s ist nicht wahr, Mama!«

»Ja, ja, Eduardlein, so eine Krawatte fällt leicht vom Knopf. Hätte es Ihnen an der Ehre geschadet, Herr Stapfer, wenn Sie ihm die kleine Handreichung bewilligt hätten?« Damit küßte sie ihr Söhnlein und hielt ihm zärtlich das Kinn hoch, damit Grete ihm die Krawatte leichter befestigen konnte.

Reinhart war rot übergossen. Eine Wutwelle schoß in ihm auf. Er wollte Frau Bornhauser etwas über Zusammenarbeit sagen; aber sie war schon wieder hinausgerauscht. Eduard hatte ein sieghaftes Lächeln aufgesetzt und gab in den zwei Stunden keinen weiteren Anlaß zu Klagen. Erst als Reinhart ging, ließ er seine Bosheit wieder spielen. Reinhart wollte ihm zum Abschied die Hand reichen, der Junge stellte sich aber, als bemerke er sie nicht, er schlenkerte seine Rechte schlaff bis in Gesichtshöhe und warf sie dann nachlässig gegen die Türe, als wollte er einem Lakeien zu verstehen geben: »So, nun pack' dich aber!« Als Reinhart unter der Türe war, rief er ihm hochnäsig nach: »Also ich bestelle sie auf morgen zur gleichen Stunde, Sie hören doch?«

Reinhart schüttelte sich, als er draußen war. Die ›Seewarte‹ war ein Paradies, verglichen mit diesem Protzenpalast. Dort hatte wenigstens der gute Duldergeist der Mutter Ulrike gehaust. Sollte er tags darauf wieder zu seiner Demütigung zurückkehren? Es gab keine Wahl. Er war jetzt Proletarier. Demütigung, Mühsal, Entbehrung durften ihn nicht kränken. Er mußte stolz darauf sein, wie ein Krieger auf seine kotige Uniform.

Vor dem Hundertseelenhaus angelangt, blieb Reinhart stehen. Ihn ekelte, als er es im hellen Tageslicht vor sich sah. Wie erbärmlich und wasserfleckig schlotterte es in der frostigen Oktoberluft, wie ein Vagabund in zu leichten Kleidern, der sich in der Nacht zudem ein wenig in der Gosse gewälzt hat. Er suchte auf der langen und breiten Fläche sein Fenster und entdeckte hinter einer Scheibe das blasse Gesicht Joseph Schmärzis. Auch Joseph hatte ihn gewahrt und öffnete das Fenster. »Hier ist's,« rief er erratend hinunter.

»Lasciate ogni speranza!« antwortete Reinhart.

»Wie meinen Sie?«

»Wissen Sie, daß das Haus ›Zur Hoffnung‹ heißt?«

Joseph lächelte und wies mit der Hand schräg über die Straße nach dem Friedhof. In diesem Augenblick erschien im vierten Stock, gerade über Reinharts Fenster, der Kopf eines Mädchens in der Fensteröffnung, bleich, mager, von hellblonden, fast weißen Haaren umflattert. Es neigte sich weit vor, schaute neugierig zu Reinhart hinunter und stieß plötzlich einen scharfen Schrei aus, wie eine Spyrschwalbe, die um eine Hausecke saust. Es klang wie ein Notschrei oder eine Warnung oder ein Lockruf. Dann war der Kopf verschwunden.

War es dieser Schrei oder das widerliche Aussehen des Hauses: Reinhart konnte sich nicht entschließen einzutreten. Er lenkte in den Friedhof ein und schlenderte auf dem Labyrinth der Wege planlos hin, mit der uneingestandenen Erwartung, auf die Stelle zu stoßen, wo die Asche seiner Mutter lag. In einer Ecke schaufelten zwei Männer an einem Grab und machten, aus ihrem Lachen zu schließen, rohe Späße.

Reinhart ging zwischen den Gräbern, bis es dunkelte. Einmal blieb er vor einer Grabschrift lange stehen und hatte dabei einen seltsamen Gedanken: »Der Tod ist unsere wahre Heimat, das Leben ist die Fremde.« Das schien ihm fast tröstlich.

Durch die Dämmerung kam ihm ein merkwürdiger kleiner Zug entgegen. Voran schritt ein Mann mit einem schwarzumwickelten Särglein unter dem Arm, hinter ihm wankten zwei Gestalten, offenbar Vater und Kind, wie haltlose Schemen. Als die drei an Reinhart vorbeigingen, erkannte er in dem Leidtragenden den Brillenmann Benedikt Reichling, seinen Nachbarn. »Das Kindlein ist also schon gestorben,« dachte Reinhart und schloß sich unauffällig dem Begräbnis an.

Der ältere der Totengräber nahm den kleinen Schrein in seine derben Hände, stellte sich mit gespreizten Beinen über das Grab und ließ die Leiche in die Tiefe fallen, wo sie dumpf aufschlug.

»Ach Gott, jetzt hat es ihm weh getan,« rief das Mädchen, worauf die Totengräber verdrückt lachten.

»Nein, Dortchen,« tröstete Reichling sein Kind, »es hat ihm gar nicht weh getan, nur dir und mir.« Dann führte er die Kleine hart ans Grab hinan und sprach hinunter: »Sei in der Ruhe, Kindlein, wie wir im Kampf, sei in der Zufriedenheit, wie wir in der Not, sei in der Erfüllung, wie wir in der Hoffnung.« Hierauf zu seinem Dortchen: »Nun schenk' ihm etwas Erde in die Ruhe hinab. In meiner Heimat gibt man einem ein Schäufelchen dazu, hier machen wir's mit den Händen, sieh, so!« Dortchen weinte laut auf, als es die Scholle hinunterwarf.

Als Vater und Kind das Grab verließen, trat Reinhart auf sie zu und sagte ihnen ein paar Worte der Teilnahme. Reichling starrte ihm mit seiner Brille ins Gesicht und stotterte: »Aha, Sie sind der Herr ... der Herr mit dem Hemd. Ganz gut, ganz gut. Das heißt, ich sage ganz gut, weil ich mich jetzt ganz gut auf Sie besinne. Sonst ist es schlimm. Sie haben's erraten: Das liebe Seelchen ist schon wieder von uns gegangen. Schon am ersten Tag. Es war zu klug, wohl auch zu gut. Und ich hatte schon geträumt, es werde der erste wahrhaft glückliche Mensch auf Erden sein. Es ist noch nicht an der Zeit, Herr Nachbar! Aber die Zeit wird kommen, und in dieser Erwartung müssen wir leben und zeugen, hoffen und sterben. Bedenken Sie, wie lange das Ausklügeln dauerte, bis nach dem ersten Tier der erste Mensch wurde! Die Natur kann sich Zeit lassen. Nur der Mensch hat es eilig. Leben Sie wohl, Herr Nachbar, ich bin zu Hause nötig. Komm, Dortchen, komm!«

So lehnte er Reinharts Begleitung ab.

Als Reinhart eine halbe Stunde später sein Zimmer aufsuchte, warf er im Flur einen Blick auf die Türe seines Nachbars. Ein Zettelchen war mit zwei Reißstiften daran angeschlagen und darauf standen in verwässerter Tinte wie verschämt die Worte: »Benedikt Reichling, Sprachlehrer«. Mit einem Schlag begriff Reinhart die Not dieses Mannes: Lehrer sein mit diesem Äußern, dieser Hilflosigkeit, dieser Stirn voll unpraktischer Ideen und Illusionen! Reinhart hatte selber am Gymnasium einen Lehrer dieses Schlages gehabt. Was hatte der von den Jungen erdulden müssen! Sie hatten ihn schließlich wie Hunde von der Schule weggebissen.

Joseph Schmärzi war wieder im Bett, als Reinhart eintrat. Der Arzt war dagewesen und hatte allerlei Anweisungen erteilt, auch Hoffnung gemacht. Die Nacht war nun ganz herabgesunken. Die Arbeiter kehrten von ihren Werkplätzen heim. Man hörte ihre Tritte und Stimmen, ihre Fragen, Antworten und Anrufe. Alles klang hart und unzufrieden, manches grollend. Schmärzis Bruderhusten drang wieder aus dem Erdgeschoß herauf, wie das Bellen eines Hofhundes. Kinder balgten sich irgendwo, eine Frauenstimme fuhr wie ein Rutenhieb dazwischen. Über Reinharts Zimmer brach ein wildes Poltern und Fluchen los, von einer qualligen Männerstimme, dann ein Klatschen und ein jäher Kinderaufschrei, dem ähnlich, den Reinhart an diesem Tage schon einmal gehört hatte, nur daß er jetzt heftiger, qualvoller klang.

»Über uns muß der Satan wohnen,« sagte Joseph. »Er hat ein lahmes Kind und prügelt es. Heut schon zum zweitenmal. Es sei ein Totengräber, berichtete Lotte, unser Zimmermädchen, und heiße Unold. Es gibt seltsame Namen.«

»Ich sah heut ein Mädchen am Fenster, dreizehn, vierzehn Jahre alt, weiß wie Milch.«

»Wird schon die sein.«

»Ich vermute, daß ich auch den Vater sah. Er hat ein Totenschreinchen in die Grube geworfen, als wär's eine verächtliche Scherbe. Wie ein Vater sein lahmes Kind schlagen kann!«

»Ach Gott, man verhaut Menschen und meint irgend eine Not. Stellen Sie sich vor, daß ich mich einmal mit meinem Alten verprügelte, nicht etwa im Rausch. Keiner wußte warum. Es sammelt sich etwas an und fährt dann irgendwie zu den Fäusten hinaus.« Joseph schwang die mageren Arme unter der Decke hervor, lachte aber gleich: »Nur keine Angst! Wenn ich zustoßen will, klappt das Messer zu und verletzt mich selber.«

Reinhart trat ans Fenster und lehnte hinaus. Durch die Straße schlich der Nebel und trübte die Gaslaternen. Er schien in diesem Quartier schmutziger zu sein als anderswo, vom Dachgeschoß herab lärmten Italiener. Plötzlich sang aus der Nähe, vom Haus zum »Friedhof« her, die Stimme einer Frau, und ein unbeholfenes, zitterndes Kinderstimmchen betete ihr eifrig und süß nach. Es klang in dem übrigen wüsten Lautgewirr, wie wenn am Himmel zwei Sterne, ein großer und ein kleiner, Zwiesprache hielten. Reinhart griff, zum Hut und eilte hinaus. In jener Nacht umschlich er sein Mutterhaus wie ein verstoßenes Kind, in quälenden Gedanken. Ihm war, er sei für die ganze Menschheit verantwortlich.


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