Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

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Neuntes Kapitel

Arbeiterfeiertag

Maitag. Er hatte in übler Wetterlaune begonnen, aber gegen elf Uhr hatte sich der Himmel entschleiert, die Sonne beherrschte den Nachmittag und die ganze Arbeitervorstadt strömte ihr zu. Die roten Bänder an der Brust und den Hüten und die roten Krawatten leuchteten wie Tulpen und Nelken. Die Straßen lachten und plauderten und sangen. Reinhart kehrte nach Hause zurück. Er war im Umzug mitgeschritten, in erhobener Stimmung. Früher hatte er die Demonstration belächelt, jetzt empfand er ihre Bedeutung und Schönheit: sie, die Werktag um Werktag im Lärm und Ölgeruch der Maschine standen, deren Sonntag dumpf oder überlaut war und immer unfestlich im Wirtshaus ausklang, wollten einen Feiertag, der ihnen allein gehörte, ihnen, ihrem Ziel, ihrer Freude, ihrer Brüderschaft, ihrer Seele. Nach dem Umzug hatte er den Reden zugehört, die an die große Arbeitergemeinde gerichtet wurden. Der erste Redner, ein älterer, bekannter Volksmann, forderte den Achtstundentag mit Kraft aber Besonnenheit. Dann sprang David Holzer auf die Rednerbühne wie zum Sturmangriff. Er schlug andere Akkorde an. Er schleuderte die Worte wie mit der Smitze einer Peitsche unter die Menge. Eine wilde Leidenschaft ging von ihm aus, drang ins Blut der Zuhörer und wühlte es auf. Bald unterbrachen begeisterte oder heftige Zurufe seine Rede. Er flammte noch wilder auf, die Worte: Streik, Solidarität, Kraftprobe, Kampf aufs Messer, Gewalt, Umsturz schwirrten wie Pfeile durch die Luft. Die Menge bebte und schwankte wie Ähren unter einem Sturm. Reinhart entdeckte Schucharinow in Davids Nähe. Er neigte den Kopf leicht auf die Seite und lächelte still vor sich hin. Plötzlich war Reinhart, der Russe stehe hinter dem Redner, blinzle ihm über die Achsel und blase ihm die Worte ein, wie Mephisto dem Astrologen im Faust. Der Platz ertoste vom Beifall. Reinhart ging nachdenklich davon. Warum schmerzte ihn diese aufpeitschende Rede, dieser Wutschrei nach Gewalt? War er zu weich? Zu unentschieden? Kannte er die Menschen und die Art, sie zu führen, sie zum Glück zu führen, noch zu wenig? Griff ihm die Not des Volkes noch nicht zornig genug in die Seele? Nein, so war es nicht. Es standen zwei Prinzipien gegeneinander auf: Kralle und Hand. Schucharinow und David vertraten die Kralle. Drum konnte Reinhart nicht mit ihnen gehen. Konnten Menschenglück und Fortschritt wirklich nur mit Gewalt und Blut, mit Raubtiermitteln erkauft werden? Von diesen Fragen bewegt kam Reinhart zum Hundertseelenhaus. Es lag in mißfarbiger Öde und wie ausgestorben da, die Straße war verlassen, alles schien zum Volksplatz geströmt zu sein. Der Gedanke kam Reinhart, bei Frau Reichling anzuklopfen. Sicherlich bückte sie sich auch an diesem Feiertag über ihr Nähzeug. So war es. Sie war ganz allein, Benedikt mit den Kindern fort. Die Ränder ihrer Augenlider waren noch röter als sonst.

Reinhart bat sie: »Kommen Sie ins Freie! Es ist ein froher Frühlingstag. Der Himmel soll keinem umsonst lachen.«

»Ich bin heut' weder für Frühling noch für schöne Worte,« erwiderte sie fast tadelnd. »Ich muß das da fertig machen.« Und rascher ging ihre Nadel.

»Was ist mit Benedikt?« forschte Reinhart, »er geht gedrückt umher.«

»Hat er Ihnen noch nichts gesagt? Ach, er verliert auf den Sommer seine Stunden im Institut.«

»Wieso das?« fuhr Reinhart erschreckt auf.

»Ach, das sind ja böse Hunde!« stieß die kleine, milde Frau hervor. »Und nun hat er die Hoffnung verloren, er, der Benedikt, die Hoffnung verloren! Stellen Sie sich das vor! Er lebte doch allein von ihr und wir mit ihm.«

»Er läßt sich nicht helfen,« erwiderte Reinhart. »Er hat mir fast Feindschaft angesagt, weil ...«

Sie ließ ihre Nadel im Tuch stecken und ihre Stimme klang hart: »Er hat recht. Man soll sich nicht selber erniedrigen. So viel ist das Leben nicht wert.« Auf einmal fing sie zu zucken an. Sie warf ihre Arbeit weg und verschwand in der Nebenkammer. Reinhart schlich wie geschlagen in sein Zimmer hinüber. Kaum hatte er sich auf einen Stuhl geworfen, als es über ihm klopfte, dreimal. »Ach ja, noch eine Arme!« stieß er hervor. Er hatte Trude Unold seit Weihnachten nur vier- oder fünfmal besucht, er war ja tagsüber selten zu Hause und die Arbeitersache sog fast sein ganzes Sinnen auf. Er suchte, was er dem Kind bringen könnte, fand aber nichts, und stieg mit leeren Händen die Treppe empor. Die Gangtüre war geschlossen. Er klingelte. Es blieb erst alles still. Der ganze Stock war bis auf den Krüppel beim Feste. Dann ging eine Türe und bald darauf drehte sich innen der Etagenschlüssel. Reinhart trat ein. Vor ihm, auf dem Boden, lag Trude und lächelte zu ihm auf. Sie war hergekrochen wie eine Schildkröte oder eine Blindschleiche und war stolz auf ihre Leistung. Er hob sie auf die Arme und trug sie hinein. Sie wog nicht schwer.

»Sie sind ein böser Onkel,« sagte sie. »Ich könnte sterben, und Sie kümmerten sich nicht darum.«

»Hast du geweint?« fragte er. Sie hatte rote Augen wie Frau Reichling.

»Oh, ich habe heut' viel geschrien, geschrien!« gab sie zur Antwort, »und ich habe mich auf dem Boden gewälzt und drein geschlagen wie eine Wilde. Sehen Sie nur!« Sie hatte ganz blutige Finger. »Alles ist draußen, alles freut sich und hat schöne Kleider an. Und ich? Sagen Sie, haben alle, alle schöne Kleider an?«

»Nicht alle, Kind, aber man kleidet sich an diesem Tag so gut, als man kann.«

»Ich müßte so gehen, wie ich bin. Ich habe ja keine Sonntagskleider. Für mich ist's immer Werktag, immer Maschinentag. Geben Sie mir dieses rote Band! So, jetzt feiere auch ich den Maien. Wissen Sie, was ich vorhin tun wollte? Ich wollte mich auf die Straße hinabfallen lassen. Aber dann ... sah ich Sie kommen, und ich dachte, es würde Sie erschrecken.«

»An so was denkst du? Das darfst du nicht, Kind. Hörst du, nie!«

»Ich weiß. Ich weiß ja alles, ich habe ja dann auch gleich gebetet. Und Gott wird mich schon davon abhalten.« sie wiederholte ihr Gebet laut und eindringlich, als stände ihr Herrgott vor ihr.

»Scheust du dich nicht, laut vor den Leuten zu beten?«

»Gott ist doch viel vornehmer als die Menschen und man sagt ihm doch alles ohne Scheu. Ich verwünsche ihn jetzt nicht mehr, aber er hilft mir nicht. Und weil er mir gar kein Zeichen gibt, habe ich mich wieder versündigt, grad' jetzt. Ich sah Sie ins Haus treten und horchte, ob Sie in Ihr Zimmer gingen und wollte klopfen. Aber Sie kamen nicht, wo waren Sie nur so lange? ›Er denkt mehr an andere als an mich,‹ schrie ich. Dann hab' ich die Maschine kaputt geschlagen. Sehen Sie, sie geht nicht mehr. Es ist schrecklich. Der Vater!«

Reinhart wollte das Kind schelten, er fand aber den Mut nicht dazu. Um es sein Elend vergessen zu lassen, erzählte er ihm das Märchen von dem häßlichen Entlein, das sich zum Schwan auswuchs.

»Das ist für kleine Kinder,« belehrte sie ihn altklug. »Ich werde aber auch einmal fliegen können. Doch daran zu denken ist traurig. Alles ist traurig! Gestern hat mein Vater gesagt, wenn er mir nur bald das Grab schaufeln könnte. Ist das etwa lustig? Für ihn wär' es vielleicht lustig. Er würde fest in die Hände spucken! Ich wollte Ihnen Socken stricken, verstohlen, nebenbei. Aber man hat's gemerkt. Man muß eben das Gewicht wieder abliefern. Ich kann keinem Menschen eine Freude machen! Das gehört auch dazu! Ich möchte Sie zerkratzen, weil Sie's können. Aber nein, ich schwatze ja Bruch! Seien Sie nicht böse!«

In diesem Augenblick ging die Gangtüre und schwere Schritte nahten. »Er kommt!« stieß Trude hervor, ihre grauen Augen wurden ganz dunkel. »Lieber Gott, mach' es gut. Amen.«

Der Totengräber war ein untersetzter, säbelbeiniger Mann mit wildem Schnurrbart, schwammigem Gesicht und angelaufenen Augen. Er blieb bei der Türe stehen und musterte Reinhart und das Kind mißtrauisch. »Was suchen Sie hier?«

»Ich mache Ihrem Kind einen Besuch, wie schon mehrmals.«

»Mehrmals? Und du hast mir nichts davon gesagt?« knurrte er Trude an. Dann wieder zu Reinhart: »Ich finde es unpassend, daß Sie bei mir eindringen, Herr! Ich will wissen, warum Sie das tun.«

»Weil das Kind einsam und unglücklich ist.«

»Das geht Sie einen Pfannenwisch an! Das gibt Ihnen kein Recht!«

»Wie man's nimmt! Sie quälen das Kind und müssen es einem Fremden zugute halten, wenn er ihm ein bißchen Menschlichkeit erweisen möchte. Seien Sie zufrieden, wenn es so geschieht und sich keine Behörde einmischt. Das ganze Haus kennt Ihre Roheit.«

Der Totengräber zuckte zusammen. Reinhart faßte ihn fest ins Auge wie ein Tier, das man bändigen will. Der Unhold hielt den Blick nicht aus und drehte sich nach dem Mädchen: »Warum schaffst du nicht, du Aff', einfältiger?«

Trude begann zu schluchzen: »Die Maschine ist kaputt.«

»Was?« Er drang auf sie ein, sie schrie auf, bevor seine Pranke auf ihrer Backe brannte. Sie fiel vom Schemel auf den Boden, wo sie hilflos liegen blieb. Der Vater machte sich schnell über die Maschine her, und als er den großen Schaden gewahrte, geriet er in einen unbändigen Zorn. »Du Krüppel, du Krüppel!« schrie er und trat auf Trude zu, um sie mit den Schuhen zu zerstampfen. Seine Augen waren rot wie die eines wilden Stiers. Reinhart schlug die Arme um ihn und warf ihn weg. Einen Augenblick starrten sich die Männer in die Augen. Der Totengräber war wie zum Sprung bereit. Auf einmal aber ging es wie eine Erschlaffung oder ein Anfall von Feigheit durch seine gedunsenen Glieder und er knurrte: »Gehen Sie, oder ich rufe die Polizei, Sie ... Sie Spitzel!«

Reinhart beeilte sich nicht, er hob Trude auf ihren Schemel und sagte zu dem Vater: »Schicken Sie die Rechnung für die Maschine mir, aber strafen Sie das Kind nicht weiter für den Schaden, vielleicht bin ich daran schuld.«

Die Worte wirkten beruhigend auf den Totengräber, er knurrte noch etwas von ausfallendem Verdienst und langte nach einer Schnapsflasche, die halb geleert auf einem Wandbrett stand. Reinharts Gruß überhörte er.

Am Abend kam Joseph Schmärzi in angeregter Stimmung nach Hause. Er hatte gegen seine Gewohnheit in der Feststimmung Wein über sein Maß getrunken. »Hast du's gehört?« rief er Reinhart zu, »nun soll die Kraftprobe gewagt werden. Bei der ersten Gelegenheit.«

»Ist das so ergötzlich?« fragte Reinhart.

»Für die andern sicher nicht!« lachte Joseph. Dann fügte er in seiner bedachten Weise hinzu: »Vielleicht auch für uns nicht. Aber man muß es doch einmal laut genug schreien, daß man Gerechtigkeit will.«

»Ja, wenn wir nur mit gutem Gewissen schreien könnten. Ich bin vorhin mit dem Untier da oben zusammengeprallt. Steig hinauf und sprich ihm von Gerechtigkeit! Aber jetzt könnte ich ihn schon nicht mehr in die Hölle schicken. Warum ist er eine Bestie geworden? So wird man nicht aus freiem Trieb, so wird man gemacht. Wir alle sind Insassen eines Armenhauses, verunglimpfen und bespeien einander und merken nicht, daß das Leben uns allesamt zu Krüppeln geschlagen hat.«

»So bist du nicht mehr für den Kampf?«

»Ich bin für kein Gericht mehr, Gericht ist Blindenerfindung oder Raubtiererinnerung. Hast du noch nie davon gehört, daß man keinen Stein auf einen Schuldigen werfen darf, wenn man selber nicht schuldlos ist? Und ist man schuldlos, so erhebt man ohnehin keinen Stein gegen einen andern.«

»Man wird den neuen Tag nie erleben,« klagte Joseph mit seiner gedämpften Stimme.

Reinhart hielt ihm seine Hand entgegen und sagte: »Wir müssen zwischen Hand und Kralle entscheiden, Joseph. Die Hand ist weich und kunstvoll, sie ist zum Streicheln und zum Schaffen da, sie ist menschlich, sie ist gütig gemeint. Es gab eine Zeit, da man sie abschlug, wenn sie sich gegen ihre Natur verging und Böses tat. Die Kralle aber ist tierisch, sie ist zum Zerreißen und Zerfleischen geschaffen, man kann sie sich so leicht blutig vorstellen, wir müssen sie von uns tun.«

Joseph schüttelte den Kopf, er verstand ihn nicht.


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