Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

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Neuntes Kapitel

Die Wende

Die Stadt wimmelte von Menschen, von weit her waren sie herbeigeströmt; ganze Eisenbahnzüge voll Schaulustiger über den Rhein hereingerollt. Die Hauptstraßen waren beflaggt, neben den Standes- und Landesfarben blähte sich da und dort fremdes Bannertuch in der silberigen Septemberluft. Die Stadt erhielt Monarchenbesuch. Seit Jahrhunderten hatte sie keinen Fürsten mehr öffentlich empfangen und wußte sich denn auch nicht recht ehrenfest und selbstsicher zu benehmen. Sie hatte etwas Kindisches in ihrer Schaulust und Festaufmachung und vergaß halb ihr republikanisches Herz und den Stolz eines Volkes, in dem auch der ärmste Schusterjunge in der Theorie auf alle Kronen und gekrönten Häupter pfeift.

Reinhart schlenderte dem Zentrum der Stadt zu. Er hoffte Jutta zu sehen, denn daß die Homberg von Aarwald hereingekommen seien, nahm er ohne weiteres an. Der Fahrdamm der Hauptstraße war frei gehalten, Polizisten, Soldaten, Turner, Feuerwehrmänner bildeten längs des Fußsteigs zwei undurchlässige Mauern, etwas fremdartig Neues für den Einheimischen. Buben hingen wie Länglerbirnen an den Ästen der Bäume, die längs der Straße standen. Alle Balkone und Fenster waren dicht besetzt, hohe Mietpreise waren dafür bezahlt worden. Wo Nebenstraßen einmündeten, hielten Automobile und andere Fuhrwerke, in denen die Leute erwartungsvoll standen oder saßen und über die Köpfe der Fußgänger hinwegspähten. Reinhart ging hinter der lebendigen Schutzmauer durch, von Gasse zu Gasse, und musterte alle Autos. Da endlich entdeckte er Jutta. Hans Beat, Tante Lilly und Direktor Geierling waren mit ihr. Vorn neben dem Chauffeur saß, eine Zigarette nachlässig im Mundwinkel hängen lassend, Georg. Jutta winkte eifrig mit dem Taschentuch nach einem gegenüberliegenden Bankgebäude. Dadurch hatte Reinhart sie zuerst wahrgenommen. Drüben, auf einem Balkon, standen Minna und ihr Mann in einem prunkenden Kreis von Bankdirektoren und alten und jungen Damen.

Reinhart näherte sich dem Hombergschen Automobil in der Hoffnung, einen Blick von Jutta zu erhaschen. Aber ihre Blicke flogen bald die Straße hinab, bald hinüber zu dem glänzenden Balkon, auf dem man fortwährend Diamanten und anderes Gestein aufblitzen sah. Sie selber trug ein kostbares Perlenhalsband, das Reinhart noch nie an ihr gesehen hatte. Zuweilen neigte sich Geierling zu ihr hinüber und schien etwas Verbindliches oder Erklärendes auf sie hinabrieseln zu lassen. Der alte Hans Beat saß unbeweglich auf dem Rücksitz neben seiner neugierig erregten Schwägerin. Reinhart schien, sein Blick sei auf ihn gerichtet. Hatte er ihn erkannt? Er mußte wohl, aber er verriet es mit keiner Miene, er schaute starr vor sich hin wie durch eine Maske. Reinhart schritt den Weg, den er gekommen war, zurück. Ein alter Mann mit struppigem grauem Bart machte sich an ihn heran und redete ihn wie einen Bekannten an: »Könnt Ihr mir sagen, guter Freund, bin ich in der Schweiz oder im großen Kanton?« Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg fort, kehrte aber nochmals zurück, klopfte Reinhart auf die Schulter, indem er verschmitzt blinzelte: »Der muß ein hagelschlechtes Gewissen haben!« Dabei deutete er auf die Schutzmauer der Soldaten und Turner. Man merkte an der Bewegung der Leute, an dem Recken und Drehen der Hälse, daß die Gäste nahten. Ein Trupp Kavallerie klapperte und klirrte vorüber, hinter ihm rollte ein Wagen mit ein paar glitzernden Uniformen, darauf ein Zweiter mit zwei Insassen: die massige Gestalt des Bundespräsidenten in Frack und Zylinderhut, in weißem Bart und Haar, an seiner Seite der erwartete Gast in der schmucklosen, für den Fall etwas zurechtgestutzten Uniform eines schweizerischen Obersten. Sein Schnurrbart war hoch gesträubt, Reinhart meinte einen Doppelgänger Geierlings zu sehen. Die Zuschauer lüfteten die Hüte, einige Kehlen schrien Hurra, die Uniform im Wagen salutierte in das Volk, streng-gnädig, und sprach dabei beständig auf den Zylinder ein, der hoch neben ihm aufragte. Während man den beiden nachgaffte, glitten die andern Wagen kaum beachtet vorüber. Die Menge drängte, die Schutzmauer durchbrechend, ungestüm nach. Hart an Reinharts Ohr schnarchte die Hupe eines Autos, die Familie Homberg suchte sich durch die Menge hindurchzuzwängen. Geierling sprach eifrig und freudig auf Tante Lilly ein. Hans Beat hatte sich in eine Miene geworfen, die zeigen sollte: »Mein Adel ist ebenso alt wie der des Gekrönten.« Jutta wiegte sich vornehm in ihrer fürstlichen Schönheit. Wovon träumte sie? Ihre Wangen schimmerten rot, ihre Lippen glühten.

Reinhart schlenderte verdrossen auf leeren Seitenstraßen der ›Seewarte‹ zu. Er war mit allem unzufrieden, mit der Schweiz zumeist. Wie er in den Garten trat, kam ihm Küngold entgegen: »Er ist in schrecklicher Laune! Ist das ein Leben!«

Das Haus war still wie eine Totenkammer. Reinhart trat in die Wohnstube ein. In ihrem Lehnstuhl saß Frau Ulrike und weinte still vor sich hin. Ferdinand stand gebeugt am Tisch und starrte auf einen Papierbogen, der neben einem gelben Umschlag lag.

»Was ist vorgefallen?« forschte Reinhart.

»Hundsfötterei!« knurrte Ferdinand, indem er mit einer Bewegung des Kinns nach dem Papier wies.

Reinhart ergriff das Blatt; es enthielt das Urteil im Prozesse Ferdinands gegen den ›Schweizerspiegel‹. Der Form nach hatte Ferdinand gewonnen, Immergrün war in eine Buße verfällt worden, da ihm, wie es in der Begründung hieß, der Beweis für die gegen Ferdinand Stapfer erhobenen Anschuldigungen nicht einwandfrei gelungen war.

»Ist das nicht eine Infamie! Ein solcher Schuft, ein solcher Schmutzfink! Ich möchte ihn niederschießen wie einen räudigen Hund!« So wetterte Ferdinand und bückte sich nach einer Karte, die ihm aus der Tasche gefallen war. Er schlug sie wild auf den Tisch: »Auch das ist eine Infamie! Man hat es darauf abgesehen, mich zu verhöhnen. Und wer? Gerade sie, meine Freunde! Pfui Teufel!«

Reinhart hörte aus den Worten des Vaters eine Aufforderung, die Karte zu lesen. Sie enthielt die Einladung der Behörden zu einer Seefahrt, die man am Abend dem fürstlichen Gast zu Ehren veranstaltete.

»Was ist denn da weiter dahinter?« warf Reinhart hin, um den Vater zu beschwichtigen.

»Bist du so ein unschuldiges Lamm? Als was würde ich gelten und auftreten? Als abgedankter Oberst, als durchgefallener Nationalrat, als ein... Oh, sie wußten, daß ich der Einladung nicht folgen kann, darum haben sie sie geschickt!«

»Du siehst Dinge, die nicht sind!«

»Willst du mich die Menschen kennen lehren? Könnte man heut' abend meine Freunde durchsuchen, man würde bei jedem in einer Tasche den ›Schweizerspiegel‹ finden mit dem Kommentar zum Urteil.«

»Übertreib' doch nicht! Wie du argwöhnisch geworden bist!«

Frau Ulrike löste Reinhart sachte ab: »Laß doch die Welt und ihren Schmutz! Man hat schließlich nur sich selber. Man hat deiner politischen Laufbahn ein Ziel gesteckt, lebe nun dir, und wenn du es kannst, ein bißchen uns!«

Die arme Frau hatte es gut gemeint. Ferdinand aber war wie von einem Peitschenhieb getroffen. Er sprang empor: »Auch du höhnst mich, du sanfter Satan!« Er ergriff das schwere Falzbein, das vor ihm lag und erhob die Hand. Er beherrschte sich aber im letzten Augenblick und wandte sich um. Bei der Drehung erblickte er im Spiegel das Bild seiner Frau und schon flog das Falzbein in die blanke Scheibe und zerschmetterte sie. Sobald das Glas zu Boden klirrte, wurde Ferdinand ruhig und nüchtern. Er eilte auf Ulrike zu und bückte sich zu ihr nieder. Reinhart eilte hinaus. Er hätte sich erst auf seinen Vater stürzen mögen, wollte aber jetzt, da offenbar ein Versöhnungswerk im Gange war, es durch seine überflüssige Gegenwart nicht schwächen.

Er irrte aus der Stadt hinaus wie im Taumel, an der Berglehne hinan. Wie war es doch? Der Vater hatte seine Hand gegen die Mutter erhoben und sie im Bild geschlagen. Stand es so zwischen den beiden? Arme Mutter! Du hast ihm alles geopfert, dein ganzes Leben, und nun? Die Liebe dahin, das Ansehen zertrümmert, das Augenlicht erstorben, Küngold unglücklich, die Armut vor der Türe, der Sohn ein Feigling, der dich im Stiche läßt!

Die Nacht kroch schon unten an die Stadt heran, als Reinhart, oben auf dem Berg, aus seinem Dämmerzustand heraussah. Er warf sich aus dem Pfad hinaus in eine Wiese, auf der das Emd in kleinen Haufen lag. Neben ihm flüsterte der Wald. Unten gärte das Häuserchaos der Stadt. Den See herunter glitt ein hell beleuchtetes großes Dampfboot, einer Unzahl farbiger Lichter zu, die auf dem Wasser wie Irrwische durcheinander tanzten. Man erriet die Schatten gleitender Gondeln, das Schwanken der Lampions, den friedlichen Gang der Wellen. Bengalisches Licht leuchtete da und dort auf, bald am Seeufer, bald auf einem der Hügel der Stadt, bald auf den gegenüberliegenden Höhen, und warf seinen magischen Schein auf eine Kirche, einen Turm, eine Villa, einen feenhaften Garten. Musik klang herauf, hier vom großen Schiff, dort vom Strand, wie Ruf und Gegenruf. Und nun schoß eine erste Rakete wie ein Jauchzer in steilem Bogen durch die Luft. Ihr folgte eine zweite, eine dritte, ein ganzer Schwarm. Die Luft erbebte von Schüssen, hoch über dem Seebecken wurden Sterne ausgesät, goldene und silberne, grüne, rote, blaue, einzeln, in Ketten, in Girlanden, ein ganzes Paradies. Sie verweilten kurz im Raum, schwebten groß herab, und erloschen, bald still, bald mit einem Knall. Über dem sich immer erneuernden Sternenregen begann eine Seeschlacht zu toben: Feuerkugeln in bunter Mischung wurden von Boot zu Boot geschleudert, schossen zornig aus dem Dunkel hervor, kreuzten ihre leuchtenden Farben und versanken im See oder löschten ihr Scheinleben und ihre unkriegerische Kunstseele im Fluge aus. Eine halbe Stunde mochte das Farben-, Licht- und Donnerspiel, immer belebter und prachtvoller werdend, gedauert haben, als sich auf einmal die Erde sprühend auftat und unter ohrbetäubendem Tosen eine ungeheure goldene Funken- und Sternengarbe in den pechschwarzen Himmel spie.

Reinhart sprang auf, er hatte in dem Feuersprühen deutlich die ›Seewarte‹ gesehen. Er dachte an die Mutter und ihre Blindheit, was wird sie in ihrer Finsternis während des Feuerwerks gedacht und gelitten haben! War der Vater bei ihr? Eine Sehnsucht nach ihr erfaßte ihn. Er eilte den Berghang hinunter. In den Uferanlagen wimmelte es von Menschen, er hatte Mühe, sich durchzudrängen, alle schienen von dem Licht- und Farbenspiel berauscht zu sein.

Die ›Seewarte‹ lag still und dunkel in ihrem Garten, kein Fenster war hell. »Sie ist zu Bett gegangen,« dachte Reinhart, »und er und Küngold wohl auch, was soll ich da?« Er zog das Gartentor, das er halb aufgestoßen hatte, wieder zu. Ihm graute vor dem Haus. Es drängte ihn in dem Dunkel nach einem liebenden Herzen, vielleicht würde er Jutta antreffen. Liebende finden sich immer, hatte er einmal gehört. Er machte den Umweg durch die Rittergasse. Im Hombergschen Hause war Licht. Jutta brachte also die Nacht in der Stadt zu. Lange stand er im Schutze der Rotbuche, um einen Schein, einen Schatten, einen Ton zu erhaschen. Nichts. Ein Fenster erstarb, dann ein zweites, dann das letzte. Da ging er weiter. Am Ende des Sees, nah am Ufer, lag eine kleine Insel, auf der eine Gartenwirtschaft betrieben wurde. Vor der Brücke, die zur Insel hinüberführte, stand ein Auto, das Reinhart als den Hombergschen Martiniwagen erkannte. Die Insel war gedrängt voll. In den grünen Nischen, die den Garten einfaßten, herrschte lautes Festleben. Eine der Nischen schien zu überquellen, wie von der Festfreude gesprengt. Die Gesellschaft, die dort zechte, hatte Zuwachs erhalten und sich durch Anschieben von Tischen weit in den Garten hinausgedrängt. Reinhart hörte die schnarrende durchdringende Stimme Geierlings. Er hielt offenbar einen Trinkspruch und nun krächzte es aus zwanzig Kehlen: »Rra, rra, rra!« Tief in der Nische, in einer Ecke, saß Georg, wie von den andern abgesondert, und trieb den Zigarrenrauch in seine Versonnenheit. Reinhart wollte den Garten wieder verlassen, als ihm Geierling, der ihn entdeckt hatte, zurief: »Na, Herr Stapfer Junior, sind wir Ihnen zu vergnügt?« Reinhart sah sich nach einem Platz um und setzte sich trotzig. Geierling warf ein paar Worte in seine Tischgesellschaft, die sich gleich mit Schmunzeln überzog und flüchtige Blicke nach Reinhart zwinkerte. In der Nische nebenan sangen Welsche, junges Studentenvolk, ihr: »Gentille batelière, venez dans mon château...« Kaum war der trällernde Kehrreim verklungen, als Geierling und mit ihm sein ganzer Tisch losbrach: »Es braust ein Ruf wie Donnerhall ...« Der ganze Garten horchte auf bei den geharnischten Noten. Dann prallten die Biergläser zusammen wie Schilde in einem mittelalterlichen Gefecht. In der welschen Nische vibrierte eine hohe Frauenstimme: »Allons, enfants, de la patrie...«

»Unerhört!« schrie Geierling, »das ist eine Herausforderung!« Und zu den Welschen gewendet: »Unser allerhöchster Kriegsherr ist in dieser Stadt!«

Die Sängerin verstand es nicht oder wollte es nicht hören: »Contre nous de la tyrannie l'étendart sanglant est levé – – –«

»Skandal!« rief Geierling und schlug sein Bierglas mit Wucht auf die eiserne Tischplatte, die wie ein Alarmschuß aufdonnerte. Eine Sekunde später wuchteten alle Gläser der Tischreihe wie schwere Hämmer auf und nieder.

Nebenan sang nun der ganze Chor: »Aux armes, citoyens – – –«

Mit einem Schlag veränderte sich das Bild. wie zwei Kampftruppen stand man sich gegenüber, deutsche und welsche Flüche prasselten gegeneinander, helle und dunkle Augen blitzten ineinander. Krüge drohten in den Fäusten wie Keulen, Stuhllehnen wurden erfaßt. Der Wirt kam gelaufen und mahnte zur Ruhe. Der ganze Garten drängte sich heran. Geierling schrie: »Man hat uns beleidigt!«

»Ich rufe die Polizei,« drohte der Wirt. »Sommes-nous chez nous ou non? Vive la Suisse!« rief ein Welscher »Deutschland, Deutschland über alles!« sprang es ihm entgegen.

Die Umstehenden gruppierten sich. Es bildete sich eine große Leere um Geierlings Truppe, sein Tisch schien wie von den andern ausgeschieden. Ein rascher Stockhieb zerschlug die elektrische Lampe, die darüber strahlte, man wußte nicht, wer ihn geführt hatte.

»Ich rufe die Polizei!« schrie der Wirt wieder mit ohnmächtiger Stimme.

»Verlassen wir dieses gastfreundliche Lokal!« schnarrte Geierling. »Kellnerin, bezahlen!«

Es trat Ruhe ein. Die Zuschauer zerstreuten sich, die langen Tische wurden leer, nebenan begannen übermütige, verliebte Stimmen zu kichern und zu kosen.

Geierling schritt an Reinhart vorbei. Plötzlich, mit einem kurzen Ruck, stellte er sich vor ihn hin: »Schöne Bagage, was, Ihre welschen Brüder!«

»Gehen Sie, Sie sind ja betrunken!«

»Betrunken? Aber immer noch heller als Sie! Was macht denn der Herr Papa? Ist wohl auf dem Schiff seiner Majestät vorgestellt worden, Blüte der Schweiz!«

Im nächsten Augenblick waren die beiden aneinander. Reinhart war dem Gegner in blinder Wut an den Hals gesprungen, drückte ihn gegen die Tischkante und schlug ihn mit der Faust ins Gesicht. Man eilte herbei und riß sie auseinander. Geierling verschwand. Reinhart setzte sich wieder. Er bebte. Er hatte Feuer in sich und stürzte sein Glas in einem Zug hinunter. Die Welschen tranken ihm zu. Da ging auch er. Er schämte sich. Er erinnerte sich an Mauderlis: »Ich ersäufe es zuweilen.« Ja, er wollte sich auch einmal sinnlos betrinken, auch einmal vergessen, vergessen! Er sah David in seinem Rausch: »Diese Leute tun immer triebhaft das Zweckmäßige.« Er ging an den großen hellen Bierlokalen vorüber, da war jetzt nicht sein Ort. Aus einer schmalen Nebengasse drang Musik. Er trat ein. Alle Augen waren auf seinen Rock gerichtet, so schien es ihm. Er setzte sich an einen leeren Tisch. »Hell? Dunkel?« fragte ihn eine Kellnerin. Er wußte nicht, warum er helles Bier begehrte, weil es Juttas Farbe war? Er leerte das Glas in zwei Zügen. Im Hintergrund hämmerte ein langer dünner Mann, eine ellstabförmige Gestalt, auf ein Klavier los, während ein Alter, Dicker die Flöte blies, mit seiner langen Nase, wie es schien. Die Kellnerin brachte das zweite Glas und blieb stehen. Reinhart spürte ihr Knie an seinem Schenkel. Er wich etwas zurück, das Knie rückte leise nach und es tönte Reinhart gutmütig ins Ohr: »Warum nicht lustig sein an einem solchen Tag, Herr?« Er horchte auf. Hatte er dieses Wort nicht schon einmal gehört? Richtig, in der ›Sommerfreude‹! Er sah dem Mädchen ins Gesicht. »Sind Sie jetzt hier, Fräulein?« fragte er, als wäre er sicher gewesen, die Kellnerin von der ›Sommerfreude‹ vor sich zu haben.

»Man geht dahin, wo man was verdient. Man lebt doch vom Geld!«

»Wirklich? Vom Geld?« warf er mechanisch hin.

»Man muß sich von Zeit zu Zeit verändern, Herr!«

»So, so, Sie haben sich also verändert.«

»Sie sind ein Spitzherr!« lachte sie überlaut. Sie wagte doch nicht zu sagen Spitzbube, wie sie es meinte. Ihre Hand stieß ihn leicht in die Lenden.

»Holen Sie mir noch ein Glas!« befahl er. Sie trippelte davon. Er brachte rasch seine Knie unter dem Tisch in Sicherheit. Sie entdeckte es gleich, als sie wiederkam.

»Der Herr sind traurig und lassen sich nicht helfen,« schmollte sie. »Es ist doch alles Wurst, einmal Knacker, einmal Frankfurter.«

Er goß noch ein paar Glas rasch hinunter, ohne Besinnung. Er spürte den Alkohol durch sich rieseln. Heiß fuhr es ihm durch den Hals zu den Schläfen empor. Der Biergeruch des dumpfen Raumes umhüllte ihn wie Nebeldunst. Er legte ein großes Trinkgeld auf den Tisch und erhob sich rasch. Die Kellnerin warf einen Blick darauf und flüsterte, während sie ihn zur Türe begleitete: »Ich bin immer da. Ich bin keine wie sie meinen, aber weil der Herr gar so traurig ist!«

Draußen wehte Reinhart die kühle Herbstluft entgegen. Es war wie ein Bad nach dem schmutzigen Dunst der Kneipe.

»Wo bring' ich's zu End'?« dachte er und schritt planlos durch die Gassen, die immer noch belebt waren. Er wußte nicht, wie lange er so gegangen war. »Ich habe Durst,« raunte er sich zu, obschon er wußte, daß er gar nicht durstig war. Viele Wirtschaften waren jetzt geschlossen, da und dort sah man durch die Fenster, wie die Stühle bei geschlossenen Türen auf die Tische gestellt wurden. Eines der großen Cafés war noch offen, die Leute saßen dicht gedrängt darin. Reinhart stürzte, am Schenktisch stehend, ein Glas hinunter. Und wieder irrte er durch die Nacht. »Wird es genügen?« schwamm es ihm durch den Sinn. Er gelangte in die Seeanlagen und setzte sich auf eine Bank. Sein Blick streifte über das Wasser. »Dort ist die ›Seewarte‹.« Sie stieg dunkel, dämonisch aus der Flut empor. Reinhart hatte Schlaf. Ein Stern funkelte so stark herab, daß er einen leichten Goldstreifen aufs Wasser streute, bis in den Schatten der ›Seewarte‹. »Seltsam, wie das Licht eine Macht hat,« dachte er. Dann nichts mehr.

Als er erwachte, lehnte sich eine Gestalt an seine Schulter. Er sprang erschreckt auf, die schlaffe Gestalt sank halb hin, raffte sich zusammen und schimpfte im Halbschlaf über die Störung. Er ging rasch davon. »Aller Schmutz hängt sich an mich in dieser fluchbeladenen Nacht.« Er schüttelte sich, wie um etwas von sich zu tun. Er schritt über die Brücke, der Morgen war nicht mehr fern. »Hier hat Georg damals gespien,« sagte er sich, verwundert, daß ihm nicht ein gleiches begegnete, »war ich überhaupt betrunken?« Es war ihm furchtbar öde in Brust und Kopf.

Er trat mit schlechtem Gewissen in den Garten der ›Seewarte‹. Etwas wie ein wimmern drang zu ihm hin. Er ging dem Laute nach und stieß aufs Gartenhäuschen, dessen Türe offen stand. Eine dunkle Gestalt kauerte darin. »Bist du's, Küngold? Was treibst du hier, so spät?«

»Ich hab' es nicht getan, ich hab' es nicht mit Fleiß getan!« stöhnte sie. »Hilf! Hilf! Ich habe es ihr vorgelesen, du weißt, und dann hat sie sich eingeschlossen und dann...«

Nun sah Reinhart genauer hin. Auf dem Boden lag eine andere Gestalt ausgestreckt. Er bückte sich und tastete danach. Seine Hand wurde feucht.

»Laß sie, laß sie schlafen!« flüsterte Küngold.

»Wer ist's? Die Mutter! Ums Himmelswillen!«

»Laß sie schlafen! Ich habe sie aus dem See gezogen. Ich allein, warum kamst du nicht, ich hab' dich doch gerufen! Sie war so schwer. Ich habe sie schleifen müssen, da auf dem Kiesweg. Jetzt wacht sie auf! Uüü!«

Küngold stürzte davon. Reinhart kniete neben der Mutter nieder und rief ihr zu, er rüttelte sie. Nach und nach dämmerte ihm der Zusammenhang auf. »Richtig, sie haben sich ja gezankt! Die Versöhnung war Scheinwerk, bloßes Scheinwerk. Sie hat sich von Küngold das Urteil vorlesen lassen, mit allen Anschuldigungen, sie hat seine Machenschaften erraten, sie hat den letzten Stützpunkt verloren. Dann stürzte sie in den See.«

Es dämmerte hinter dem Berge, als Reinhart die Mutter auf die Arme nahm und ins Haus trüg. Alle Türen standen offen. Er stieß das elterliche Schlafzimmer auf. Der Vater lag unausgekleidet auf dem Bett und schlief wie ein Stein. Er hatte sich wahrscheinlich im Zorn auch betrunken und, als er heimkehrte, gar nicht bemerkt, daß seine Frau nicht da war. Er machte ja nie Licht, wenn er so heim kam. Reinhart trug die Mutter in sein Zimmer hinauf, bettete sie auf den Boden und legte ihr sein Sofakissen unter den Kopf. Sie war ganz blau im Gesicht und sah unendlich traurig aus. Sie trug keine Schuhe, sie war im Nachtkleid. Nun erst strömten Reinhart die Tränen hervor, und er preßte seine Lippen auf den kalten, nach weichen Mund. »Der gute Geist ist tot, der gute Geist ist tot!« klagte er in endloser Wiederholung und dachte an die Mutter und die ganze Welt.

»Küngold!« fuhr es in ihm empor. Er schlich hinaus, auf den Zehen, als wäre Gefahr, die Mutter aus ihrem Erlösungsschlaf zu wecken. Er klopfte an die Türe seiner Schwester, es kam keine Antwort. Er trat ein, das Zimmer war leer. Er eilte in den Garten hinunter und suchte. Der Tag war erwacht und schlich sich durch die Büsche. Unter dein Eibenstrauch fand er sie, jenem alten Eibenstrauch. Sie hatte sich wie in eine Höhle verkrochen. Er bog die Zweige zurück. »Komm doch!« Sie sah ihn mit verstörten, fremden Augen an, wie ein verfolgtes, in die Enge getriebenes Wild. Er faßte sie sanft am Arm. Sie schrie auf wie unter einem fürchterlichen Schmerz. Wieder bat er. Sie fing an mit den Händen zu scharren, als könnte sie sich in die Erde wühlen. Lange feilschte er mit ihr und zog sie endlich mit Gewalt hervor. »Komm ins Haus!« Sie schauderte zusammen. Er wollte sie mit sich fortziehen, sie schrie, daß ihn fror, mit einer seelenlosen, fast tierischen Stimme. »Wo willst du denn hin?« fragte er.

»Fort, fort, zur Mutter!« stieß sie aus.

»Sie ist im Haus, komm!«

»Nein! Fort, fort!« Sie strebte nach dem See.

Er wollte sie anfassen und ins Haus tragen, da schlug sie wild gegen ihn. »Fort! Fort!«

Der Golsterhof erschien ihm wie eine Rettungsinsel.

Sie horchte bei dem Wort auf und rief dann fast lachend: »Ja, nach dem Golsterhof!«

»So komm und kleid' dich um.« Er sah, daß sie naß und beschmutzt war. Aber wieder packte sie das Entsetzen vor dem Haus. Sie faßte ihn am Arm und zog ihn aus dem Garten. Die Straßen waren noch ganz still. Die Geschwister eilten wie Verfemte zwischen den Häuserreihen durch. Als die Sonne aufblitzte, waren sie am Fuß des Berges angelangt. Aber nun wollte Küngold nicht mehr weiter. »Jetzt ist sie erwacht, sie erwacht immer mit der Sonne,« stöhnte sie, »sie kann sich doch nicht allein anziehen.«

»Sie schläft fest und gut, Küngold.«

»Sie schläft und ist doch wach und hält den Finger auf, ich seh's, wenn ich die Augen schließe!«

Er schleppte sie mühsam mit sich. Auf halber Höhe sank sie wie gelähmt um. Er bettete sie auf den Waldboden und bald schlief sie ein, fast wie eine Tote.

Erst nach Mittag erwachte sie wieder. Sie setzte sich auf und fing an, sich selbst anzuklagen. »Ich bin an allem schuld! Ich hätte hineingehen sollen, als er wieder stritt. Aber ich war zu feig. Und ich hätte ihr die wüsten Dinge nicht vorlesen sollen! Und ich hätte nicht mehr von ihr weggehen sollen! Schlage mich! Schlage mich! Oh!« Sie hielt ihm die Backe hin.

»Ich bin schuld, Küngold, ich hätte ihn gestern niederschlagen sollen,« redet ihr Reinhart zu.

Sie schüttelte den Kopf: »Dann wär' sie noch früher gegangen.«

»Wann war's?« forschte er.

»Sie haben den Himmel heruntergeschossen, es war ganz hell, da sah ich sie im Garten. Sie ging wie betrunken. Sie stieß an den Büschen an. Zuletzt lief sie, sie lief und stieg über das Geländer.«

»Und der Vater?«

»Er war ja schon lang wieder fort.«

»Und du hast sie allein herausgezogen?«

»Oh, es war grausig!« Küngold zitterte am ganzen Leib und schaute starr nach dem See, der in der Tiefe lag. Dann fing sie wieder an zu klagen: »Ich bin nicht gleich gelaufen. Ich war wie lahm. Und dann war sie so schwer! Sie rutschte immer wieder ins Wasser. Schlag mich! Schlag mich!« Sie steckte eine Hand in den Mund und zog sie blutend heraus. Sie hatte sich gebissen. Reinhart hob sie empor und riß sie den Berg hinan. Ihn schauderte.

Es ging gegen Abend, als sie im Golsterhof anlangten. Sie standen auf der letzten Höhe still. Reinhart ordnete der Schwester Kleider und Haar. Sie ließ ihn schweigend gewähren. Still lag der Hof unter ihnen, fast feierlich in seiner Ruhe. Man meinte in einen Traum zu sehen. Leise ging sein Atem durch die herbstlich gesegneten Bäume. Im Steinacker, weit unten, sah Reinhart zwei Gestalten und das blanke Zucken von Hauen. Es waren Adelheid und der Knecht Hans Jörg. Die Großmutter Annabab saß vor dem Haus. Sie erhob sich mühsam, als die beiden Enkelkinder nahten, und wäre fast hingefallen, weil sie es eiliger meinte, als ihre Füße es vermochten. Reinhart ließ Küngold zurück, eilte auf die Großmutter zu und stützte sie. Sie klagte: »Es geht nicht mehr. Aber seid doch gottwillkommen!« Sie sah auf Küngold, die verschüchtert und blöd wie ein kleines Kind herankam. Nun erst sah Reinhart recht, wie verändert die Schwester war, und wie unordentlich sie in der Kleidung ging. »Ist ein Unglück geschehen?« wandte sich Annabab erschreckt an Reinhart.

»Ein großes Unglück!« würgte er zögernd hervor.

»Nun, ihr tragt doch nicht schwarz, gottlob! Es kann nicht so schlimm sein. Kommt ins Haus, ihr lieben Kinder!« Sie faßte Küngold an der Hand und nötigte sie, zu gehen.

Aus dem Garten, um die Hausecke, kam Estherlein, rot, freudig, als wollte sie Reinhart gleich an die Brust springen, plötzlich aber stutzte sie. Auch sie sah, daß ein Unglück auf dem Hofe zu Besuch kam, und sie wurde ganz klein unter ihrer Höckerlast. Sie wagte kaum, Reinharts Hand zu fassen.

In der Stube schafften die beiden Bäuerinnen zuerst etwas Speise herbei, »wir reden nachher,« meinte Annabab. Küngold schlang gierig wie ein Tierchen etwas hinunter, Reinhart würgte an jedem Bissen. Dann erzählte er das Furchtbare, das geschehen war, und bat für Küngold um Aufnahme. Die Großmutter nahm das arme Kind in ihre gebrechliche Armkraft und konnte vor Weinen und Leid kein Wort sprechen. Estherlein eilte in die Gastkammer hinauf, um sie instand zu setzen. Man hörte sie durch die Diele laut klagen. Als sie wieder erschien, um zu melden, es sei alles bereit, und die beiden Frauen Küngold links und rechts zum Geleit faßten, polterte Hans Rudolf zur Haustüre herein. Er blieb unter der Stubentüre stehen und maß die Gruppe, die sich ihm entgegenbewegte und dann wie erstarrt stehen blieb. Er sah ganz verwildert aus. Sein Gesicht war gedunsen, sein Bart zerzaust und auf der einen Seite feucht, er schien mit offenem Munde geschlafen und sich mit Geifer besudelt zu haben. An seinen Kittel hatte sich dürres Laub geklebt. Er lallte: »Was ist Donners los?«

Annabab setzte ihm kurz die Lage auseinander.

»Hier in meinem Haus?« polterte er los, »eine aus der ›Seewarte‹? von dem Schelmenpack? Lieber zünde ich unsere alte Bude an! Er soll seine Suppe selber ausfressen, dein prächtiger Ferdinand!« Dann zu Reinhart: »Er hat schön ausgespielt, der Herr Oberst, der Herr Nationalrat! Es mußte so kommen! Ein Lotter strauchelt zuletzt über einen Strohhalm! Und du bist ihm drausgelaufen, Jüngferchen Küngelein! Troll' dich nur wieder heimzu!« Annabab verlegte sich aufs Bitten.

»Bin ich nicht auch elend, Sternhagel? Gib dir keine Mühe! Sag' meinem Brüderlein, er soll erst bei mir Ordnung machen, ehe er mir eine Pensionärin schickt! Ha!«

In diesem Augenblick wand sich Küngold von Annabab und Estherlein los und sprang an Hans Rudolf vorbei durch die Türe, in den Gang hinaus und ins Freie.

Hans Rudolf lachte: »Der Kröte hat's heiß gemacht! ha, ha, ha!«

Reinhart stieß seinen Onkel beiseite und eilte der Schwester nach. Als sie ihn hörte, fing sie aus Leibeskräften zu laufen an und schrie dabei mit quiekendem Tone: »Schlag mich! Schlag mich!« Der Golsterhof lag weit unter ihnen, als er sie endlich einholte.

Es wurde Nacht. Sie schritten oben auf dem Berggrat dahin. Ganz fern sah man einen hellen Schimmer auf breiter Flache: die Stadt hatte ihre Lichter angezündet. Reinhart wies mit der Hand darauf hin, nur um das brütende, unheimliche Schweigen der Schwester zu lösen. Aber die Wirkung entsprach nicht seiner Erwartung. Küngold stand still, starrte lange nach dem silbernen Schein und setzte sich dann nieder ins Gras. »Geh du allein!«

»Unsinn,« sprach er ihr zu, »willst du denn hier übernachten?«

»Ich möchte übernachten wie die Mutter. Ist nicht dort drüben der See?«

»Kind,« flehte er, »sei doch vernünftig, wir müssen entweder rückwärts oder vorwärts, nach dem Golsterhof oder heim.«

»Ich möchte mich im See spülen wie die Mutter.«

Er suchte sie aufzureißen, sie aber legte sich lang hin: »Wenn ich hier liege, so kommt der Tau und macht mich rein und kalt, und am Morgen bin ich tot.«

»Ach nein, aber du wirst krank.« Sie lachte ihn seelenlos an. Er drängte: »Komm, wir wollen zur Mutter, sie ist ganz allein.«

»Ich auch! Sie braucht mich nicht mehr, und sie würde mit mir schimpfen! Und er hat mich verlassen, verraten, oh, der Feigling! Du weißt schon! Sieh, so hätte ich es machen sollen.« Wieder erging sie sich in Selbstanklagen, bis ihr Worte und Gedanken ausblieben und sie einschlief. Reinhart zog seinen Rock aus und breitete ihn über sie.


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