Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

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Zehntes Kapitel

Einkehr

Reinhart setzte sich an den Rand des Berggrates. Unter ihm lag ein tiefer, schwarzer Abgrund, das Flußtal, und weiterhin eine Hügelkette, die zum See und zur Stadt wogte. Seine Finger wühlten krampfhaft im Gras. Er gedachte der Mutter. Das Wort eines Märtyrers kam ihm in den Sinn: »Gut sein heißt Gutes tun und Böses erdulden und darin ausharren bis ans Ende.« Wie viel hatte sie stumm gelitten, bis sie den gewaltsamen Weg ins Freie fand! Hätte doch ihr Geist in der ›Seewarte‹ geherrscht! Die Welt leidet an uns, den Vätern und Söhnen und Brüdern, hätte sie ausharren sollen bis ans Ende? Ach, es ist eine herrliche Gnade, daß der Mensch sein Leben in die Finsternis, in den Abgrund werfen kann!

Kaum hatte sich der schwarze Gedanke und damit ein halber Entschluß in Reinhart geballt, als sein Blick mit der Gewalt des Lebens von dem lockenden Abgrund weg und hinauf gezwungen wurde zum Licht, zu den Sternen, die in der föhnigen Herbstnacht fast greifbar nah funkelten. Lange sann er hinauf. Es war ihm, als zerfließe sein durch das Leid zerrissener Geist von der Erde weg und schwebe über ihr im Leeren. Alles kam ihm unwirklich, verschwommen vor, und er selber ganz abgelöst, nebelhaft, ohne Zeit und Ort. Wachte oder träumte er? Oder war er gestört? Plötzlich brach es in ihm wie ein mächtiger Lichtstrom auf und flutete über die Lippen seiner Seele: »Leben! Leben!« Er hatte an diesem Tag den Tod berührt, ihn fortwährend an der Seite gespürt und mit ihm Blicke und Gebärden getauscht. Jetzt stieß er ihn von sich, die Jugend übte ihre Gewalt aus: »Leben, Leben! Wir sitzen auf einem einsamen Stern im Unendlichen und Ewigen, vielleicht die einzigen Wesen im Weltenozean, die schauen und denken und erleben können. Welche Gnade, welche unfaßbare Gnade! Und was machen wir daraus, wir Armen, wir Würmer? Oder wir Meteore, die eine allgütige, unsichtbare Hand in den Schauer geworfen hat? Wir kommen aus dem Schoß des Dunkels und verwehen wieder in den Schoß des Dunkels, und dazwischen ist die kurze, leuchtende, freudige Bahn, dieser einzige, nie wiederkehrende Flug im Licht. Und wir sind so überrascht und wir sind so klein und erbärmlich, daß wir die Gnade nicht fassen und wie ein seelenloser Stein dahinsausen, eilig, eilig, als wäre das Glück etwas Unerträgliches, als wäre Lichtglanz und Gottesdasein ein Ekel, und Finsternis, Schmutz und Staub der höchste Preis! Wie unwürdig stehen wir da vor der werfenden, gütigen, schenkenden Hand, wie undankbar und armselig! Statt daß wir mit hoch und weit gesperrten Augen durch das Gotteswunder schreiten und den Augenblick lang, der uns beschieden ward, freudig erglänzen und hoch aufleuchten und in dem unendlichen Rätsel bis ins Tiefste erschauern, bücken wir uns nieder, waten in Schlamm und Schmutz und greifen nach Kröten und Molchen. Ein bißchen Hungersättigung, ein bißchen zerflatternde Luft! Stündlich segnen sollten wir unser Leben, alltäglich heiligen. Stündlich verschleudern, alltäglich schänden wir es. Und die Besten müssen ins Wasser.«

Reinhart schaute unverwandt empor. Und seltsam! In dem Schauen stiegen die Sterne herunter zu ihm, wie Brüder, ganz nah, und er redete mit ihnen: »Gibt es auch in euerm Bereich Menschheiten, die wie wir an den Rätselknoten des Lebens zupfen und zerren und kauen? Die in Wirrsal und Not, in Kampf und Leidenschaft befangen, einen Ausweg suchen und einen leuchtenden Glückstraum träumen? Oder schwebt ihr in Räumen, wo alles nach andern Gesetzen wandelt, wo weder Not noch Glück, weder Haß noch Liebe über dem Beseelten waltet?«

Eine selige Andacht hatte Reinhart ergriffen. Ganz fern war die Erde. Er sah sein Vaterhaus klein und dunkel am See. Er sah alles, was er in den letzten Jahren durchlebt und durchduldet hatte, wie fremdes Leid, fern, fern. Und nun verknäuelte sich sein Elend mit dem seiner ganzen Gemeinschaft zu einem Bündel, vom gleichen schmierigen Strick umschlungen und verschnürt. Aus dem Dunkel, in das Reinhart aus den Sternen starrte, tauchte ein ungeheures, garstiges Wesen auf, mit plumpen Gliedern, breitem, niedrig gestirntem Haupt, dem eines Nilpferdes ähnlich, und langen, goldfunkelnden Zähnen in dem weiten Rachen. Mit seinen Zähnen faßte es den großen geschnürten Knäuel und hielt ihn grinsend empor. Es legte ihn Reinhart vor die Füße und riß ihn mit den gelben Zähnen auf. Da lag alles ausgebreitet: Die ›Seewarte‹ und Ferdinand, der Golsterhof mit Hans Rudolf und Aga, Hans Beat und Tante Lilly, der Modepfarrer und Minna, alle vier um ein Auto gereiht, Georg und Paula und die alten Holzer, Immergrün und die kleine Kellnerin von gestern. Auch sich selbst sah Reinhart. In der Mitte aber erhob sich die Selbstsicherheit Helmut Geierlings. Auf einmal fuhr in alle eine Bewegung und sie begannen einen grotesken Tanz um den Moloch aufzuführen. Hans Beat reichte Tante Lilly, Schalcher Minna, Ferdinand der alten Holzerin, Hans Rudolf Aga, Immergrün der kleinen Kellnerin und Georg Paula die Hand, auch das Auto hopste mit, bald auf den Hinter-, bald auf den Vorderrädern. Geierling umkreiste Jutta, die etwas abseits stand und unschlüssig vorgeneigt auf das wunderliche Treiben schaute.

Während der Tanz sich austollte, wuchs das niedrig gestirnte Ungetüm weit hinaus in den Raum, wandte sich aus der Höhe übermächtig hinab und faßte den ganzen Erdball in seinen ungeheuren Schlund. Einige entwanden sich ihm, die Großmutter Annabab und Estherlein, Onkel Melchior und Bethli, auch die Mutter Ulrike meinte Reinhart zu sehen, sie war bleich, wie der Schweif eines Kometen.

»Auch ich muß mich retten,« stieß Reinhart, aus dem Halbtraum auffahrend, hervor. »Abwerfen die Schmach und Feigheit der vergangenen Jahre, abwerfen den Schmutz, der sich an meine Seele geklebt hat, abwerfen das Handeln wider das Gewissen, das ich mir habe aufnötigen lassen, was habe ich aus meinem Leben gemacht? Verbröckelt, vermodert ist es mir unter einer fremden Herrschaft. Meine Seele hat geschrien, aber ich habe ihren Hunger nicht gestillt, sie hat gebettelt, aber ich machte ein taubes Ohr. Wohl habe ich gesucht, aber ohne Kraft, ohne festen Glauben an das Gute, mit ewiger Scheu vor der schweren Last. Immer nur halbes Werk getan, immer wieder untergekrochen wie ein feiger Zughund in sein Geschirr. Nun muß die Wende nahen. Die Mutter hat mir den Weg in die Freiheit erkauft, mit ihrem Leben. Jetzt ist es an mir, mich zu finden, oder dann falle auch ich hinein in den Rachen des Molochs.«

Reinhart fühlte sich in dieser Stunde und Höhe zu allem bereit, zum Hungern und Frieren, zum Gang in Lumpen und Verachtung, seine Schultern drängten der schweren Last entgegen, wenn er nur endlich frei war, wenn nur endlich seine Seele sich recken und erheben konnte! Ein Wort der Mutter fuhr ihm durch den Sinn: »Wenn jeder sich rettet, sind alle gerettet!« Ja, er wollte sich retten aus dem allgemeinen Notstand. Etwas Näheres gab es für ihn nicht mehr. »Da drin ist ein lichter Punkt, den ich fühle, auf diesen winzigen Fleck muß ich bauen. Nichts anderes ist mir gewiß. Ich will Ich sein, alles andere ist Wahn.« Wie eine große Durchsonnung erwärmte es ihn: »Höhenleben! Höhenleben!«

Lange sann er dem nach.

Eine Stimme tönte aus der Nacht: »Alle guten Geister!« Reinhart erwachte aus seinem Phantasieren. Eine Gestalt schwankte des Weges und blieb stehen: »Nicht so laut,« flüsterte Reinhart, »ein armes Menschenkind vergißt sich dort.« Die Gestalt ließ sich nieder. Es war Mauderli. Das Licht des schmalen Mondes fing sich in seinem Bart und übersilberte ihn. Er sah Reinhart ins Gesicht und erkannte ihn. »Was zum Teufel oder Herrgott treiben Sie hier? Zu dieser Stunde?« fragte er halblaut.

»Ich tue die Welt von mir ab.«

Mauderli sann und nickte: »Die Welt abtun, das ist es freilich. Es ist das Gleiche, wie Gott finden, per se. Wünsche Ihnen Glück dazu. Mir ist die Welt immer wieder über den Hals gekommen. Ich bin eben ein Lump. Ich sehe wohl den Weg, aber ich kann ihn nicht gehen. Ich sage mir oft: ein Baum ist auf dem rechten Weg oder eine Blume. Sie stehen auf der Welt, aber nicht wie du: sie haben sich ganz unter Gott gestellt und er hat sie ganz in sich aufgenommen. Das hab' ich ihnen noch nicht abgeschaut. Ich stecke immer noch in mir selbst, wie eine Muschel in ihrer Schicksalsschale, und fürchte, erst der Tod wird mich aus mir selber herauslösen. Neulich war ich nahe bei der Lösung. Ich war auf etwas Großes, ganz Großes gestoßen! Ich erlebte, daß ich das Auge Gottes bin, das heißt, eines seiner vielen Augen, mit denen er sich und die Welt anschaut. Ich habe gefroren vor Glück. Ich glaube, so, nur viel gewaltiger, ist es im Tod, drum erstarrt man. Und dann ging das Auge Gottes vor lauter Glück zum Most und in den Rausch, herrlich! Nicht wahr?«

Reinhart tastete nach seiner Hand: »Ich bin heut halb von Sinnen. Ich mache eine Krankheit durch. Ich war vorhin unter die Steine versetzt, ich empfand wie ein Funken Freiheit und Licht. Und ich will es bleiben, ich will von den Menschen meiner Welt los. Ich hasse, hasse sie und muß mich vor ihnen retten!«

»Sich retten, ja, aber warum hassen?« fragte Mauderli. »Wir Menschlein hassen die Schlangen; meinen Sie, Gott hasse sie auch? Wenn ich einmal neben ihm sitze, wie jetzt neben Ihnen, werde ich ihn fragen: Kannst du eine Giftschlange hassen? Gelt, du kannst es nicht, wie sonst wärest du so groß?«

»Nehmen Sie mir meine Kraft nicht,« rief Reinhart fast wild, »ich muß meine Welt richten, sonst kann ich sie nicht bestehen. Es ist eine sinnlose, und es ist eine ruchlose Welt! Geld! Geld! Geld!«

»Ja, ja, wem Gott nichts Besseres gunnt, dem gunnt er Geld,« zitierte Mauderli. »Ich will Ihnen etwas sagen. Es ist uns nichts mehr heilig, weder die Natur, noch die Seele, da sitzt der Wurm!«

»Und weil wir den Geist nicht mehr heiligen, beten wir ein Scheibchen gelbes Metall an. Das ist uns Götze und Herrgott geworden, wir münzen unser Glück, wir münzen unsere Seele, wir münzen unsern Himmel. Diesem Götzendienst will ich entrinnen.«

»Wünsch Glück dazu! Rütteln Sie nur an Erde, Himmel und Hölle, wenn Sie ›Ihn‹, dabei finden, so sagen Sie mir ein Wort. Jetzt muß ich nach meinem Standquartier gehen, dem Tannhof. Ich hause nämlich immer dort um diese Jahreszeit. Ein warmer Kuhstall ist eine Wohltat nach des Herbstes Tagundnachtgleiche.«

Sie reichten sich die Hand. Mauderlis haltlose Gestalt verschattete im Dunkel. Reinhart staunte ihm nach. Es war ihm, es versinke ein Großer, ein Heiliger hinter dem Berggrat. »Er hat getan, was ich tun muß, und hat die Last auf sich genommen, damit er suchen kann.« Es schauderte Reinhart, »werde ich es vermögen?« Er dachte an Jutta. Bedeutete seine Rettung nicht ihren Verlust? Sie war ja doch ein Weltkind. Und er selber? Er wußte, wie viel Anteil die Welt schon an ihm hatte, an wie viele Bequemlichkeiten und Leckerbissen er sich gewöhnt hatte. Er sah sein Zimmer vor sich, mit dem kleinem Bücherschatz, dem sanften Sofa, auf dem sich's so überschwänglich träumen ließ, dem großen Fenster mit dem Blick auf den Garten und den See und darüber weg auf die guten Gesichter und starken Nacken der Hügel und Berge. Aber er spürte auch die Luft, die ihm entgegenschlug, sobald er in die Gemächer hinunterstieg, wo der Vater hauste. »Heraus aus seinem Joch?« Das gab ihm wieder Eifer zum Verzicht. Jutta wollte er überzeugen, sie mußte sich doch überzeugen lassen! Die große Freude, die ihn in dieser Nacht schon einmal beseligt hatte, rang sich wieder in ihm durch.

»So mag es einem Verurteilten, der lange eingekerkert war, zumute sein, in der Nacht, deren Morgen ihm die Freiheit bringt. Die Gefängnismauern weiten sich, zerfließen, versinken, und der Weltzauber öffnet ihm alle Wege und Steige, alle Brücken und Stege. Und von allen Seiten treten die Blumen und Bäume und Sträucher, ja die Steine, fließen die Bäche, Flüsse und Halden auf ihn zu, und es ist ein endloses Grüßen und Zusammenwandern und Verstehen.«

»Auge Gottes,« klang es in Reinharts Ohren nach. Er verlor sich wieder ganz in die Sternennacht, schaute hinauf und lauschte auf das Rauschen der Unendlichkeit. Er ist in dieser Stunde eins mit der Welt, ihr Leben ist sein Leben, ihre Seele die seine, und sein auch ihre Größe und Weite und Tiefe. Er ist ohne Schwere, ohne Abstand von irgend etwas, er ist einsam und doch verbunden mit allem, er fühlt sich endlich einmal, am Eingang zur Freiheit, glücklich. Er fühlt das tiefe Glück dessen, der durch den Schmerz gegangen ist.

Er blickt aus sich heraus. Das Land ist verändert. Überall in den Tiefen, im Flußtal, über dem See, hat sich Nebelschaum gebildet und überflutet weithin die Hügel, während oben der Himmel noch klarer funkelt als zuvor. Unten ist das Land und das Volk, ist die Menschheit, im Dunkel und im Trüben, kein Stern dringt hinab. Aber einmal wird es tagen über dem Tal, der Nebel wird zerreißen, und nicht nur Sternen-, sondern Sonnenglanz wird in die Seelen leuchten.

Ein Ton berührt Reinharts Ohr. Er fährt aus seinem Sinnen auf: »Bist du wach, Küngold?«

»Hab' ich denn geschlafen?« fragt sie, wie aus der Ferne. Und dann, wie erstaunt oder erschreckt: »Siehst du dort unten! Er naht, er schäumt herauf! Es ist der See. Wenn er hier oben ist, trinke ich ihn, und dann ist alles gut. Gelt?«

»Nein, nein, wir ertrinken nicht, wir leben auf! Komm! Es wird bald tagen. Schon dämmert es empor. Sieh, was für ein Stück Weges die Mondsichel derweil gemacht hat!«

»Der Mond hat auch Durst nach dem See, er neigt seinen Mund gierig zu ihm hinab, wie weit er ihn öffnet!«

Reinhart faßte sie um den Arm. »Komm!« Ihr Irrsinn zerriß ihn. Sie widersetzte sich: »Ich will es hier erwarten, ganz still, still.«

»Nein, du mußt zu Menschen.«

»Nicht zu Menschen. Lieber zu den Tieren, zu Tieren!« »Hör', Schwester, weder zu Menschen noch zu Tieren, ich führe dich zu Engeln, zu Melcher und Bethli. Willst du?«

Sie wußte nicht viel von Melchior und Bethli, aber sie folgte gläubig der Verheißung, die in dem Worte Engel lag.


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