Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

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Zweites Kapitel

Auf dem Golsterhof

Die Sonne hatte den Nebel schon fast aus der Luft gewischt, als Reinhart aus einem unruhigen, von endlosen Träumen gerüttelten Schlaf aufwachte. Er hörte seine Schwester im Garten hantieren und trat zu ihr hinaus. Sie scheuerte mit einem Rechen welkes Laub aus den Wegen und sah ihn erst nicht. Ihm fuhr das Gespräch der Mutter durch den Sinn und er fragte sich: »Ist sie eine Stapfer oder eine Landert? Außen eine Stapfer, innen eine Landert,« gab er sich zur Antwort. Sie war fast so hoch gewachsen wie er, hatte blühende Wangen und Lippen, und auf den ersten Blick schien die Seele ihres Wesens Heiterkeit zu sein. Aber ihre dunkeln, fast schwarzen Augen waren ernst und versonnen. Sie hörte Reinharts Schritt. »Da bist du, du Nachtschwärmer!« scherzte sie. »Ich habe bis Mitternacht auf dich gewartet, ich wollte sehen, ob dir die Treppe breit genug sei.«

»Ich kenne eine Schwester, die hat länger ausgeharrt.«

»Ei, wer ist denn noch musterhafter als ich?«

Er zögerte einen Augenblick und rückte dann heraus: »Ich habe Georg Homberg nach Hause begleitet, da hat uns eine seiner Schwestern aufgeschlossen.«

»Minna?«

»Nein, Jutta. Kennst du sie?«

»Wie man den Mond kennt. Sie ging nicht in die Stadtschulen, die waren doch für sie nicht vornehm genug. In Lausanne geruhte sie, ein paarmal das Wort an mich zu richten.«

»Sei nicht so boshaft!«

»Aha!« lachte sie, »du willst dir einen Nasenstüber holen.«

»Keine Sorge! Übrigens soll die Ältere mit dem Pfarrer Schalcher verlobt sein. Der ist auch keine Weinblume, wie sich Oswald Wäspi gestern ausdrückte.«

»Oh, der ist viel mehr, der ist der Abgott aller vornehmen Jungfern, der heiratsfähigen und überständigen!«

Beide lachten. Reinhart schüttelte der Schwester die Hand und machte sich davon.

Es war ein traumhafter Herbsttag, die Luft voll blauen Dunstes, der den grellen Glanz der Sonne band und Himmel und Erde durch einen Seidenschleier schauen ließ. An Gras und Blatt hatten sich über Nacht schwere Tropfen gehängt, und das Spinnweb an den Sträuchern sah aus wie aus Perlenschnüren geflochten. Die letzten Schwalben schaukelten lautlos dahin, auf den Äckern gruben Bauern die Kartoffeln aus und Knaben verbrannten unter Jauchzen die Stauden. Die rauchenden Feuer glichen aus der Ferne heidnischen Dankopfern.

Reinhart verließ die Landstraße, die an der Berglehne langsam der Höhe zustrebte, und schlug einen steilen Pfad ein, der zuerst durch Buchen, dann durch niedere Föhren und Eiben zum Kamm führte. Er stieg bald rasch, bald langsam, wie ihn die Gedanken an Jutta jagten oder anhielten. Zuweilen seufzten die Worte der Mutter in sein Glückssinnen, und ihr still getragenes Leiden ging wie ein Schatten neben ihm her. »Genügt es denn nicht, gut zu sein, um auf dieser Erde glücklich zu werden? Oder gibt es nur deshalb Gute, damit jemand da sei, der saumtiergeduldig das Schwere für andere schleppe?«

Oben, auf dem Grat, wandte sich Reinhart zurück und schaute hinab auf die Stadt und den See, die, aus der Höhe betrachtet, immer noch in einem leichten Nebel schwammen; er schaute hinaus auf das herbstliche Land voll glühender Kirsch- und schwer behangener Apfelbäume, hinüber nach den Schneebergen, die sich in der allgemeinen Bläue fast verloren und unwirkliche Phantasiegebilde zu sein schienen. Eine Sehnsucht erfaßte ihn, all das, was vor ihm und unter ihm lag, zu durchstreifen, zu berühren, zu umfassen, ihm ›du‹ zu sagen. »Ich stehe an der Schwelle des Wunders, ihr seid es selber und in eurer Heiterkeit das dunkle Geheimnis, hinter das man kommen muß. Man kann doch nicht leben, wie das Tier im Wald oder auf der Weide. Irgendwie müssen mir die Schuppen von den Augen fallen. Wie wäre es sonst auszuhalten?« Er schritt weiter. »Ich will den Rätseln nachjagen wie ein Hund dem Wild, in das letzte Nest seiner Höhle will ich den Fuchs verfolgen und ihn herauszerren.«

Er beabsichtigte Geschichte und Philosophie zu studieren, da mußte er doch dem Weltwesen und dem Leben auf die Schliche kommen, da mußten doch dichter aufgehen, wenn auch nicht das große, letzte, von dem man behauptet, daß unser Auge es nicht ertragen würde. Er hatte ein grenzenloses Vertrauen in die menschliche Vernunft und in die Wissenschaft.

Jutta schritt durch seine Gedanken, das Weib, wie eine Lichtgestalt, und hinterher ein langer Zug Ahnungen und Wünsche und Gaukelbilder einer unerfahrenen, unwissenden, neugierigen jungen Seele.

Er war mehr als eine halbe Stunde auf dem Grat gewandert, als er angerufen wurde: »Ist's erlaubt mitzugehen, junger Herr? Wir scheinen den gleichen Weg zu haben.« Der so fragte, lag bäuchlings im Gras, stützte den Kopf auf die aufgestemmten Arme, wie man etwa tut, wenn man liegend die Weite wie einen Quell in sich aufsaugen will. Er erhob sich langsam und trat auf Reinhart zu. Er stak in ziemlich mißlichen Kleidern und machte durchaus den Eindruck eines Landstreichers, bis auf den schwarzen, sorgsam gepflegten Bart.

Die beiden gingen eine Strecke wortlos nebeneinander, Reinhart etwas ärgerlich, weil er in seiner köstlichen Feststimmung gestört worden war.

»Wohin des Wegs?« fragte endlich der Schönbärtige.

»Nach dem Golsterhof,« erwiderte Reinhart zerstreut.

»Kenne ich, den Golsterhof, s' ist der schönste Sitz im ganzen Amt.«

Da Reinhart nicht weiter auf den Gegenstand einging, stockte das Gespräch wieder, bis der Landstreicher, der unterdessen wohl seine Überlegungen gemacht hatte, die Frage aufwarf: »Sind Sie etwa der Sohn Ferdinands, ich meine, des Obersten oder des Nationalrats, ich weiß nicht, wie man schicklicher sagt?«

»Kennen Sie ihn?« forschte Reinhart, etwas überrascht.

Der andere stand still, umfaßte mit einer fürstlichen Gebärde seines rechten Armes das Land, das an den Berg angelehnt gegen Süden in langen Wellen hinflutete, und behauptete mit dem Tonfall eines Herrschers: »Das kenne ich alles wie meine Hand, und alles kennt mich im ganzen Amt, will sagen, man meint mich zu kennen, ... ha! Ich bin nämlich der Mauderli, das heißt, man nennt mich so, aber vom Vater hab' ich einen andern Namen geerbt, per se.«

»Was sind Sie, was treiben Sie?« fragte Reinhart, um die Prahlerei etwas hinabzuschrauben.

»Die einen sagen, ich sei ein Tagedieb, die andern, ich sei ein Landstreicher und die wohlgesinnten, ich sei ein verbummelter Student. Sie haben alle in ihrer Weise recht. Ihnen, dem Sohn Ferdinands, will ich richtig sagen, was ich tue. Ich suche nämlich Ihn.« Er deutete nach oben.

Reinhart stand still. Er verspürte Lust, dem Großsprecher ins Gesicht zu lachen.

Mauderli ließ sich nicht beirren. »Das tönt vielleicht wie eine Lästerung, aber es ist nicht mehr gelogen, als wenn ein Bauer sagt, er pflanze Brot, und doch nur Kartoffeln steckt. Immer hab' ich auf eine Art Gott gesucht, drei Semester auf der Hochschule, dort war er gar nicht zu Hause, dann im Wein, da meinte ich manchmal, ich hätte ihn am Zipfel, ach, man weiß ja, wie es sich damit verhält. Dann an einem Bach, im Buchenwald, im Gras unter Blumen, im warmen Sonnenschein, und dann wieder im Wein oder Most. Und einmal bei der Heilsarmee. Und wissen Sie, wo ich ihn in den letzten vierzehn Tagen suchte? Im Gefängnis, meiner Seel', dort unten im Bezirksgefängnis. Sie haben einen neuen Landjäger bekommen, der kennt den Mauderli nicht. Und weil der Mauderli in seiner Schwäche eben seinen Gott im Most gesucht hatte, gab es einen übeln Auftritt und vierzehn Tage Gewahrsam, per se. Das war heilsam, und hätte es nach etwas länger gedauert, wer weiß, ob ich Ihn nicht aufgespürt hätte.«

»Sie sind ein seltsamer Kauz,« lachte Reinhart.

»Nicht so seltsam. Jeder sucht etwas, und von tausend stellen es neunhundertneunundneunzig oder auch einer mehr töricht an. Zu den vielen gehöre auch ich. was suchen denn Sie? Und auf welchem Wege?«

Reinhart war etwas überrumpelt. »Ich fange da an, wo auch Sie einst angefangen haben, ich beziehe nächstens die Fakultät.«

»Die theologische?«

»Nein, die philosophische.«

»Nun, Gott sei Dank, da kann es noch erträglich werden. Aber ohne Enttäuschung wird es auch dort nicht ablaufen. Es kommt nur ein Schulmeister aus des Herrgotts Hand, und der heißt ›Leben‹. Alle andern sind Stümper.«

»Aber man studiert doch gerade um des Lebens willen.«

»Man würde richtiger sagen: um des Sterbens willen. Aber wir wollen hier abbrechen, sonst könnte ich traurig werden. Es muß jeder sein eigenes Garn abhaspeln. Per se.«

Die beiden setzten sich wieder in Bewegung. Mauderli hatte zuerst wieder das Bedürfnis zu reden. »Also nach dem Golsterhof gehen Sie? Es ist dort nicht alles, wie es früher war. Die Alten werden bald scheiden, verzeihen Sie, daß ich so unbekümmert davon rede, aber ich bin gar nicht unbekümmert. Sind das zwei Leute! Der Abraham ist wie aus dem Testament geholt, und die Annabab wie aus dem Himmel. Haben Sie ihr schon bei der Arbeit zugesehen? Mir ist immer, sie arbeite, wie man beten soll. So möchte auch ich arbeiten können, aber ich bin ja nur ein Lumpenhund. Wären doch die Jungen wie die Alten! Wie heißt es: Wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein.«

»War man hart mit Ihnen?«

»Ich klage nie. Ein Mauderli soll nie klagen. Doch da geht mein Weg rechter Hand. Ich habe mein Mittagessen beim Schuppisser im Tannhof bestellt, sechs Gänge, Nachtisch und Champagner. Grüßen Sie mir den Abraham und die Annabab. Und nichts für ungut, unsereiner schwatzt eben, wenn er dazu kommt.«

Er schwenkte ab und Reinhart sah ihm im Weitergehen verwundert nach. Der hatte also auch einmal an der Schwelle gestanden, voller Neugier und Wissensdrang, von den großen Geheimnissen und Rätseln gelockt, ratlos, voll innerer Unruhe und doch wieder voll Zuversicht und Hoffnung. Und nun? Eine heimliche Angst erfaßte Reinhart. Wenn auch er einmal so strandete und von allen seinen Zukunftsträumen nichts sichtbar bliebe als ein glänzender Bart?

Eine Stunde später stieg er zum Golsterhof hinab, der sich geruhsam und herbstgesegnet in der Sonne dehnte: das hochgieblige Dach des Wohnhauses, die breite Scheune voller Behäbigkeit, die Kirschbäume feurig rot, die Wipfel der Birnbäume wie Wein, die Apfelbäume unter der Last der Früchte purpurn oder gelb. Es war ein festlicher Empfang. Die Großmutter Annabab sah Reinhart von weitem kommen, trat vors Haus und faßte seine Rechte in ihre alten abgearbeiteten Hände, und in ihrem »Gottwillkommen« klang ihr Herz. Bei ihr stand schon Reinharts Bäschen Estherlein. Sie glänzte ihn mit ihren dunkeln, leuchtenden Augen an und harrte auf den Augenblick, da auch sie ihre Hand in die seine schmiegen konnte. Sie versteckte sich halb hinter der Großmutter, denn sie schämte sich immer ihrer verwachsenen Gestalt, sie hatte ein Höckerchen, das sie fast zur Zwergin machte, und sich, wie sie meinte, immer zwischen sie und die andern Menschen einschob. Als sich Reinhart zu ihr wandte und sein Blick ihre Mißform umfaßte, glänzte ihm ein anderes Mädchenbild durch den Sinn, und er empfand ein brennendes Mitleid mit ihr. Sie fühlte es gar wohl, und wenn Reinhart für sie den rechten Menschenblick gehabt hätte, würde ihm nicht entgangen sein, wie der freudig warme Glanz ihrer Augen sich plötzlich kühlte. Aus dem Garten kam Adelheid, Estherleins ältere Schwester, herbei, gemessen, selbstsicher, aber mit natürlicher Freundlichkeit. Sie ging, im Gegensatz zu Estherlein, in einem wohlgeratenen, starken Leib umher und erweckte den Eindruck, man könnte auf ihre Schultern ein ganzes Bauernhaus stellen.

Reinhart erkundigte sich nach dem Großvater. »Da steht er am Fenster,« entgegnete Annabab gedämpft.

Reinhart blickte zu der langen Fensterreihe empor und schaute in das große, glattrasierte Gesicht seines Großvaters, der ihm zunickte.

»Gehen wir zu ihm hinauf,« flüsterte die Großmutter, »es geht ihm nicht zum Besten.« Adelheid schob die Türe mit dem schweren Klopfer auf, Annabab führte Reinhart, als wäre er immer noch ein Knäblein, an der Hand ins Haus, Estherlein folgte ein paar Schritte hinterdrein, zaudernd, wie müde, den Blick vorwurfsvoll auf den schlank gewachsenen Stadtvetter gerichtet.

Der Großvater empfing Reinhart oben an der Treppe in dem breiten Gang und übernahm nun die Führung in die Stube. Er wies ihm den Ehrensitz neben sich am obern Tischende an, und nun begann zwischen Großvater und Enkel das Fragen und Auskunftgeben, her und hin, während Annabab und Adelheid in der Küche verschwanden und Estherlein den Tisch deckte und auf einen guten Blick hoffte.

»Wo ist der Oheim Hans Rudolf?« fragte Reinhart. Über das Gesicht des Großvaters glitt es dunkel. »Er ist in Geschäften in die Stadt gefahren, ich weiß nicht, ob er vor Abend nach Hause kommt. Bist du seinem Gefährt nicht begegnet?«

»Ich kam nicht auf der Landstraße.«

»Ja, es ist kurzweiliger über den Berggrat. Der weitere Weg ist nicht immer der längere.«

Ein Knabe von etwa vierzehn Jahren trat ein, warf den Schultornister geräuschvoll auf den Tisch und begrüßte Reinhart. »Haben Sie die Maturität bestanden, Herr Vetter?« war sein zweites Wort.

»Was fällt dir ein, mich zu siezen, Walter?« lachte ihm Reinhart ins Gesicht.

»Ja, ja, wenn man jetzt vierzehn Jahre alt ist, weiß man nicht mehr, wie man sich stellen soll,« meinte der Großvater tonlos. »Er hat es nun richtig durchgesetzt, daß er studieren darf.«

»Und der Hof?« fuhr Reinhart besorgt drein.

»Das ist es eben,« seufzte der Alte.

»Hat Onkel Ferdinand nicht auch studiert?« fragte Walter mit triumphierender Miene. »Hätte er jetzt eine große Fabrik und wäre er Oberst und Nationalrat, wenn er jung seinen Kopf nicht durch die Wand gestoßen hätte?«

»Der eine kommt auf den Bock und der andere unter die Felgen,« tönte es ihm eindringlich von den Lippen des Großvaters entgegen. Walter wollte die Mahnung nicht verstehen und ließ sich von Reinhart erklären, was er studieren wolle.

»Kann man damit Geld machen?« fragte er mit gekrausten Lippen.

Der Großvater und Reinhart zwinkerten sich zu, und beide mußten lächeln, der eine traurig, der andere belustigt. Der Alte sagte: »Ich glaube, die Buben lernen heutzutage kein anderes Wort mehr als ›Geld‹. Man fragt nicht mehr: Kann mir die Arbeit ein Stück Herz werden, sondern: macht man Geld damit? ›macht‹ man!«

»Natürlich,« rief Walter selbstbewußt, »man ist nicht mehr so dumm.« Er merkte, daß sein Wort unschicklich war und steckte das Gesicht in ein Buch.

Adelheid brachte die Suppe herein und hinter ihr erschien eine halb städtisch gekleidete Frau. Sie begrüßte Reinhart mit überschwenglicher Freundlichkeit, so daß er gar nicht zum Worte kam. Es war Hans Rudolfs zweite Frau, von ihm Aga, von den andern aber nach dem Kalender Agathe genannt. Früher hatte sie ihr hübsches Frätzchen in eine Spinnerei getragen, jetzt spielte sie sich als Herrin auf. Reinhart hatte sie erst ein paarmal gesehen, denn sie war kaum drei Jahre auf dem Hofe. Sie fragte ihn, ob man in der Stadt schon die Wintermode trage, und war fast beleidigt, daß er darüber keine Auskunft geben konnte. Sie hätte ihn am Ohrläppchen gezupft, wenn er sich ihrer Hand nicht rasch entzogen hätte.

Nach dem Essen streckte sich der Großvater auf dem Ruhebett zum Mittagsschlaf aus. Die andern verließen die Stube. Die Großmutter ging mit Reinhart in den Baumgarten, wo Obst aufzulesen war. »Wie findest du ihn?« fragte sie besorgt. Reinhart konnte nicht antworten, er hatte auf den ersten Blick gesehen, daß der Großvater dem Tod verfallen war. »Es ist nicht nur das Alter,« fuhr Annabab fort, »es drückt ihn anderes noch mehr. Es ist traurig, wenn einem das Leben die größten Sorgen auf das Ende aufspart. Höre ihm geduldig zu, wenn er davon anfängt, es tut ihm wohl, wieder einmal abzuladen.« Sie machte sich an ihre Arbeit und Reinhart sah ihr nachdenklich zu. Ihr Anblick war ihm eine Erbauung, und die Worte Mauderlis fielen ihm ein. »Er hat recht, es ist eine seltsame Andacht in ihrer Arbeit, es ist wirklich ein Gebet, wenn sie sich bückt, gerade als würde sie dem Baum oder der Erde oder sonst wem für jeden Apfel und jede Birne Dank sagen.«

Adelheid und Estherlein gesellten sich zu ihr. Estherlein arbeitete fast wie die Großmutter, nur daß sie bei ihrer Behindertheit etwas rührend Unbeholfenes an sich hatte, während das Tun der Großmutter schlicht und selbstverständlich war. Adelheid stieg beherzt auf die Leiter, schüttelte die Äste mit kräftigem Arm, so daß die Mostbirnen mit Getöse herabprasselten. wie ein Mann stand sie in der Baumkrone. »Die ist eine Stapfer,« dachte Reinhart und stieg, um nicht hinter ihr zurückzubleiben, auch auf den Baum. Auch Agathe schwänzelte heran. Sie hielt eine Häkelarbeit in der Hand und setzte sich vornehm auf einen mit Birnen gefüllten Sack.

Nach einer Weile humpelte der Großvater aus dem Haus, warf einen Blick auf seine Leute und setzte sich auf die Bank neben dem Bienenhäuschen. Reinhart stieg vom Baum herab und trat zu ihm hin. Der Großvater rückte ein bißchen auf die Seite und lud ihn ein, Platz zu nehmen. Es wollte sich nicht gleich ein Gesprächsstoff finden. Der Alte sann unschlüssig in die Weite. Reinharts Blick fiel auf das leere Hundehäuschen, und er fragte: »Wo ist der Hund, der Bello?«

Der Großvater machte mit der Hand eine Gebärde ins Leere: »Die Alten verlassen den Golsterhof.« Und dann wie mit einem Ruck: »Was hältst du von unserem Walter? Studierst du auch nur, um Geld zu machen?«

»Ich weiß, daß ich mit meinem Studium kein Vermögen ergattern werde,« gestand Reinhart lachend.

»Ich bin ein alter ungeschulter Mann und sollte in diesen Dingen nicht mitreden. Aber wie du's auffassest, freut mich. Ich weiß nicht, was in den letzten zehn, fünfzehn Jahren in die Menschen gefahren ist. Mein Sohn Hans Rudolf war früher ein Bauer, wie eine Axt in einer rechten Hand eine Axt ist, von früh bis spät am Hieb. Und jetzt? Er wägelt jede Woche ein- oder zweimal in die Stadt, er besitzt dort drei Mietshäuser, er spekuliere, sagt er, und könne damit an einem guten Tag mehr Geld verdienen als auf der Scholle in einem Jahr. Immer das Geld! Das verstehe ich nicht, aber da drin höre ich etwas, das sagt: Dergleichen kann kein Segen sein. Es zieht Hans Rudolf nach der Stadt, und seine Frau hetzt ihn dazu. Was ist ihr der Hof? Ich glaube, wenn ich gegangen bin, verkauft man ihn den Juden. Ich habe noch auf Walter gehofft...«

Er hüstelte trocken und setzte dann wieder an: »Die Annabab und ich, wir haben auch zu unserer Sache gesehen und den Rappen geachtet, aber wir ließen den Rappen nicht zu unserm Herrgott werden, und wenn ein Bettler kam und in Herrgottsnamen anhielt oder auch sonst, so haben wir ihm nicht den Handrücken gezeigt, weil wir fürchten mußten, mit einem Stückchen Geld oder einer Schüssel Suppe unsern Herrgott aus dem Hause zu geben. Oh, ich' habe eine Freude gehabt an diesem Hof! Wie ein König kam ich mir manchmal vor. Ich glaube, dafür werde ich jetzt in meinen letzten Tagen gebüßt. Mach' ein paar Schritte mit mir!«

Er erhob sich und führte Reinhart um das Bienenhaus herum auf einen freien Wiesplatz. Er wollte stramm ausschreiten wie in den guten Jahren, er wehrte sich mannhaft gegen Schwäche und Tod. »Sieh dir das alles an! Die alten Bäume rühren von meinem Vater und Großvater her, die mittleren, die sich jetzt fast zu Tode tragen, pflanzte ich, als ich etwa war wie du, die jungen setzte ich in späteren Jahren allein oder mit Hans Rudolf. Sie werden noch ein paar Menschenalter lang tragen, wenn ich schon drunten bin, und mir ist, so lange noch einer von ihnen treibt und blüht, sei auch ich nicht ganz vom Hof abgelöst. Und weiter die Wiesen! Sahst du je saftigere? Freilich muß man sie im Frühjahr sehen, wenn sie blühen, oder im Brachmonat, wenn sie zum Schnitt reif sind. Und dann die Äcker! Die neue Saat liegt schon in ihnen, das ist etwas für sich, darüber soll man nicht viel reden. Und dort unten der Wald; drin stehen Tannen, zwei Männer müssen die Finger an den Armen strecken, wenn sie sie umfassen wollen, und dazwischen stehen ein paar Eichen, die haben schon zugeschaut, als Zwingli an ihnen vorbei in den Tod ging.« Er schwieg und sann und schaute. Sein Blick schweifte gegen die Schneeberge. Der Föhn hatte seit dem Morgen den Dunst von ihnen weggehaucht und sie standen nun herrlich, zum Greifen nahe da, Spitze an Spitze, Firn an Firn, Hang an Hang.

»Die dort gehören auch dazu,« fuhr der Großvater fort, »mir ist, auch sie seien mein. Wenn es sich manchmal über mir zusammenzog, hab' ich zu ihnen hinübergeschaut und gedacht: wie oft hat es schon um sie gestürmt und geblitzt und gewettert, und sie halten immer noch den Kopf hoch wie am sechsten Tag. Das hat mir wieder Mut gemacht. Es geht Kraft von ihnen aus, und es freut mich, daß sie mir einst auch auf mein Grab scheinen werden.«

Er drehte sich zu Reinhart: »Und das alles soll uns verloren gehen? Die Stapfer sollen wegwandern, heimatlos werden, ja, ich sag' es, heimatlos! Fremde sollen sich ins Nest setzen, die nichts von denen wissen, die die Bäume gepflanzt und die Scheune gebaut haben! Das macht mir das Letzte schwer. Hör', du hast auch noch ein Bauernherz, wenn du auch in der Stadt aufgewachsen bist, verlaß du den Golsterhof nicht, übernimm ihn einmal, tu's mir zulieb.« Seine Stimme zitterte, seine Augen leuchteten. Reinhart stand ratlos vor ihm. wie ihm antworten, wie ihn nicht kränken? »Ich verstehe nichts von der Landwirtschaft,« stammelte er.

»Du wirst sie lernen, wenn nur das Herz will, das Herz lernt leichter als der Kopf, es lernt alles, wenn es will.« Er sah Reinhart in die Augen und las die Antwort drinnen. Er seufzte und sank noch mehr in sich zusammen. »Du hast recht, ich kann von dir dein Leben nicht verlangen. Komm in die Stube, es wird kühl.« Traurig stiegen der Absterbende und der Werdende miteinander ins Haus und stießen mit fünfjährigem Birnensaft miteinander an.

Beim Aufbruch sah der Großvater Reinhart in die Augen und sagte bedeutsam: »Behüt dich Gott treulich.« Reinhart eilte in den Baumgarten und verabschiedete sich hastig von den andern. Das Herz saß ihm wie Blei in der Brust. Als er Estherchen die Hand drückte, fiel ihm ihr fragender, vorwurfsvoller Blick auf, aber die Trennung vom Großvater hatte ihn so tief gepackt, daß er den andern nichts mehr abzugeben hatte. Das arme Mädchen schlich ganz klein und bucklig davon. Der gleichaltrige Stadtvetter, der so oft die Ferientage im Golsterhof verlebt hatte, war ihr das Ideal der Gradgewachsenheit geworden, und sie hatte, ohne selbstsüchtige Pläne, ohne Hoffnung, nur mit dem Anspruch auf einen freundlichen Blick, ihr gutes Herz an ihn gehängt. Heute hatte er sie verletzt und sie ihr Höckerelend doppelt häßlich empfinden lassen.

Die Annabab hatte die Schürze abgelegt und ließ es sich nicht nehmen, Reinhart eine Strecke zu begleiten. »Sag' doch deinem Vater, er solle bald herüber kommen. Der Großvater klagt ihn zwar an, daß er das Beispiel zum Abzug vom Golsterhof gegeben habe, aber er ist doch sein Stolz. Und dann könnte Ferdinand mit Hans Rudolf reden, er ist noch der einzige, auf den er hört.«

Nach einer Pause fragte sie: »weißt du etwas von Melchior?«

»Er kommt nie zu uns, er weicht uns aus, ich weiß nicht einmal, wo er haust.«

Sie seufzte: »Seit fünfundzwanzig Jahren haben wir ihn nicht mehr gesehen, den eigenen Sohn, und er wohnt kaum drei Stunden weit. Muß das so sein?«

Die alte Frau wischte sich die Augen und ließ Reinhart allein ziehen. Er schlug die Landstraße ein und schritt wie gehetzt bergan. Traurige Gedanken jagten hinter ihm her. Er hatte bis zu diesem Tag den Golsterhof als eine Glücksstätte angesehen, als seine eigentliche, sonnige Heimat. Und nun? welcher Wandel! Und er selber hatte den Kummer vermehrt, zwei Menschen weh getan, die ihm nie etwas anderes als Liebe erwiesen hatten.

Oben vor dem Bergwirtshaus stand Hans Rudolfs Gefährt. Reinhart überlegte, ob er eintreten und den Oheim begrüßen sollte. Er schritt vorüber.

Es hatte schon eingedunkelt, als er daheim ankam. Es herrschte eine stürmische Stimmung im Haus, die Mutter hatte sich sorgfältig angezogen und legte frische Herrenwasche und Kleider zurecht, Küngold sah bald im Eßzimmer, bald in der Küche nach, die beiden Dienstmädchen schossen aufgeregt her und hin, irgendwo klirrten Scherben. Die Haustüre ging auf. Sporenklirren blitzte die Treppe herauf, Ferdinand stand in der Stube, grüßte Frau, Tochter und Sohn rasch der Reihe nach, warf Säbel und Käppi auf das Sofa und entledigte sich der Handschuhe. Eine unbändige Kraft, die sich nach allem ausstreckte, schien ins Zimmer gerollt zu sein. »Ich komme nur schnell, um das Militärgewand abzustrupfen,« sagte er, »ich muß in eine Sitzung des Parteivorstands und esse im Wirtshaus. Morgen ist Sonntag, da holen wir's nach. Seid ihr alle wohl? Nun, gottlob, das ist die Hauptsache! Warst du auf dem Golsterhof? Wie geht es dort? Armer Vater! Gib mir doch die Zivilkleider heraus, Ulrike! Es eilt! Du hast das schon besorgt? Immer getan, ehe gewünscht. A propos, ist die Matura gut abgelaufen, Reinhart? Nun, ich hab's nicht anders erwartet! Wir müssen morgen miteinander plaudern. Sagen wir um elf oder halb zwölf, und zwar im Bureau. Ich habe auch Herrn Geierling dorthin bestellt. Also abgemacht!«

Er stieg in sein Schlafzimmer hinauf und verließ eine Viertelstunde nachher das Haus so ungestüm, wie er es betreten hatte.


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