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Reinhart schritt auf der Landstraße dahin, nun schon den zweiten Tag. Die Fesseln waren zerrissen, Mutter Ulrike zu Asche verloht, Küngold bei den Engeln. Sein Ziel war Jutta. Er wollte ihr sein Glück, sein Freiheitsglück verkünden, er wollte sie fest an sich ziehen, retten, wie er sich selber retten wollte. Es mußte so leicht sein, es war doch alles so einleuchtend! Der Mensch ist Seele. Also kann es nur eine hohe Sorge für ihn geben, was ist alles andere neben der Seele! Er hatte die Eisenbahn verschmäht, die engen Wände, die Kontrolle durch einen gleichgültigen Menschen in Uniform, das Reisen nach einem Fahrplan und einer grellen Pfeife oder Glocke. Er wollte seine Freiheit kosten. Der Gedanke an seinen Bureaustuhl durchblitzte ihn manchmal, und dann mußte er lachen. »Das hohe Leben! Das hohe Leben!« Wie seltsam erschien ihm nun die Welt. So unwirklich. Man kann es nicht auseinander scheiden, dies Herbstwesen und einen Traum. Nicht nur das Land war in einen blauen Dunst gehüllt, auch Reinharts Seele. Ein Zug Distelfinken schwebte vorüber, hoch, in langgestreckten Wellenlinien, lautlos, bis auf ein Zirpen, das dann und wann wie im Schlafflug einer Seele entsprang. Reinhart schwang die Hand nach den Wanderern zum Gruß, zum Zeichen der Brüderschaft in Freiheit und Höhenflug. Leute standen im Feld. Sie waren alle so feierlich! Hatten auch sie unter Sternen Gesichter gehabt? Oder warf der Sonntag seinen heiligen Schimmer voraus auf sie und das Land? Denn es war Samstag.
Wenn er Jutta als Bekehrte fände? Wenn der Zauber ihm vorausgeeilt wäre und ihm nichts mehr zu bekehren und zu überzeugen übrig bliebe? Diese Möglichkeit machte ihn fast traurig. Er wollte doch sein Glück verkünden, wie die Drossel den Frühling und das Morgenrot den Tag. Ein Gedanke hielt ihn an: Sollte er nicht umkehren und versuchen, auch den Vater zu wenden? Sein Bild drängte sich immer wieder an ihn heran, gegen seinen Willen. Er sah ihn am Sarg der Mutter, im Krematorium, wie ein Gespenst. Aber wie würde er seinen Rettungsversuch aufnehmen? Mit steinernen Worten: »Unsinn, blauer Dunst, Lächerlichkeit.« Sie hatten seit vier Tagen nicht mehr die gleiche Sprache. Es gab keine Verständigung. »Vorwärts!«
Es ging schon gegen Abend, als die Fabrikschlote von Aarwald hinter einem Gehölz auftauchten. Reinhart überwand die beginnende Müdigkeit und schritt weit aus. Der Weg führte durch den Wald. Die Sonne funkelte im Buchenlaub. Lachen und frohe Stimmen drangen von außen herein; Reinhart meinte, Juttas Glockenspiel zu vernehmen. Durch die Stämme entdeckte er sie mit fünf oder sechs andern jungen Leuten hinter hohen Gittern aus dünnem Draht. Weiße Bälle flogen zwischen weißen Gestalten hin und her von Rakett zu Rakett, oder fingen sich im Netz wie Fische.
Reinhart geriet bei Juttas Anblick in einen Rausch, wie kräftig schlug sie den Ball, wie geschmeidig fing sie ihn auf. Jede ihrer Bewegungen verriet eine starke, bewußte, sichere Seele. Jetzt lachte sie unter ihrem Panamahut hervor. Eine Silberglocke, wirklich! Sie hatte gelacht, weil Georg, der ihr gegenüber spielte, einen seltsam verdrehten Hupf gemacht hatte, als er den Ball auffangen wollte. Geierling an ihrer Seite stimmte in ihr Lachen ein. Es war das alte, Reinhart verhaßte Lachen, drei kurze Töne auf gleicher Stufe. Die Partie war aus. Man stand, ehe man eine neue begann, beisammen. Jutta bot eine Papierdüte herum und Geierling kam zuerst an die Reihe. Er griff hinein und machte eine tiefe Verbeugung. Er schien auch ein galantes Wort gedreht zu haben, denn man lächelte und Jutta hob das Rakett drohend gegen ihn auf.
Das alles regte Reinhart auf. Er meinte, er müsse Jutta beschützen. Es war zuerst seine Absicht gewesen, am Waldrand zuzuschauen, bis das Spiel beendigt wäre, jetzt schien ihm eiligeres Handeln geboten. Er stieß den Pfiff hervor, mit dem er sich früher mit Jutta verständigt hatte, es war das Signal aus Fidelio. Die Tennisgesellschaft horchte einen Augenblick auf. Dann begann das Geplauder und Wortgeplänkel aufs neue. Jutta hatte dem Zeichen nicht mehr Beachtung geschenkt als die andern, wie konnte sie ahnen, daß Reinhart in der Nähe war. Die Unterhaltung wurde immer lebhafter. Georg und ein Fräulein kreuzten die Tennisschläger wie Klingen, holten aus und parierten. Jetzt war das Gefecht auch zwischen Jutta und Geierling im Gange und schien fast ernst zu werden. Auf einmal hatte Geierling ihr Handgelenk mit seiner linken Faust gepackt, und mühte sich, ihr das Rakett zu entwinden. Sie wehrte sich und es entstand ein hartnäckiges Ringen zwischen den beiden. Da trat Reinhart hervor und schritt rasch auf den Tennisplatz zu. Georg entdeckte ihn zuerst und öffnete ihm das Drahttürchen. Reinhart trat ein. Jutta und Geierling hatten eben ihren Kampf beendet. Sie ging ohne Schläger daraus hervor und blickte nun erstaunt auf Reinhart, der auf sie zukam. Geierling schwang seine Beute triumphierend über seinem Haupt und stieß ein knabenhaftes Siegesgeschrei aus. Auf einmal, in dem Augenblick, als Reinhart eben Juttas Hand erfassen wollte, fuhr ihm eines der beiden Rakette Geierlings wuchtig auf den Kopf. Er taumelte halb ohnmächtig. Jutta ließ Geierling hart an: »Was fällt Ihnen ein!« Er entschuldigte sich: »Verzeihung, gnädiges Fräulein, es kam ganz von ungefähr! Tut mir Ihretwegen aufrichtig leid! Übrigens bin ich jetzt nur mit diesem Herrn da quitt. Er ist mir vor wenigen Tagen wie ein wütender Hund an den Hals gesprungen. Georg kann's bezeugen.«
Georg wandte sich ab: »Saufgeschichten!«
»Ich denke, das Spiel ist aus!« gebot Jutta, rot vor Unwillen.
Reinhart war so dumpf im Kopf, daß er nichts sprechen und überlegen konnte. Er hörte es nicht einmal, als Geierling sich mit einem höhnischen Gruß entfernte. Er saß nun in einem Korbstuhl Jutta gegenüber. Sie waren allein auf dem Tennisplatz. »Ist dir besser?« fragte sie.
»Es wird vorübergehen, sei unbesorgt! Ich habe einen dicken Schädel.« Er wollte munter sprechen.
»Was fällt dir aber auch ein, hierher zu kommen, das ist ja verrückt!«
»Ich kann es nicht allein tragen.«
»Ja, ja, schrecklich ist's. Hat sie es im Wahnsinn getan?«
»Du weißt es also?«
»Minna hat's geschrieben. Armer Kerl, sei mutig!«
»Ich habe nicht nur ein Leid, ich habe auch ein Glück zu tragen. Darum kam ich. Ich habe mich frei gemacht, ich will fortan mein Leben leben. Alles habe ich abgeschüttelt, nur mich nicht und – dich. Auch du steckst in dem Taumel und in dem Wirrsal. Auch du mußt dich retten. Sieh, man muß das Leben heiligen, und höchstes Glück entsteht dann, wenn es zwei zusammen vermögen. Das ist mein neuer Glaube. Willst du? Willst du?«
Er hatte ihre Hände gefaßt, sie war erschreckt aufgestanden: »Du bist noch ganz verwirrt, Reinhart, schone dich, sprich nicht weiter!«
»Oh, ich sehe alles ganz klar! Wir sind Ertrinkende und müssen ans Ufer! Was haben wir von unserem Leben, von Geld und schönen Kleidern und guten Speisen und Perlenhalsbändern und Autofahrten und Spiel und Tanz und Lustbarkeit, wenn wir nicht wissen, daß wir Menschen sind und daß sich in jedem von uns ein Geist vom großen Geist abgespaltet hat?«
»Hör' auf, das ist ja nicht zu verstehen!«
»Und daß wir das Leben dieses Geistes zu gestalten haben. Das ist wahres Menschenziel, einziges! Wir sind ein Splitterchen von Gott und müssen ihn in uns großziehen.«
»Armer Mensch, du blutest!« sprach sie in gütigem Ton.
»Ja, ich blute, ich habe, schon lange geblutet.«
Sie zog ein seidenes Taschentuch hervor, fuhr ihm damit über die blutende Stirne und warf es zerknüllt von sich. Dann sprach sie: »Bist du nicht mehr im Geschäft?«
»Ich sagte es dir doch, ich habe alles abgeworfen. Frei bin ich, frei!«
»Wovon willst du denn leben?«
»Ach, frag' nicht so!«
»Nicht einmal einen sauberen Kragen hast du, du Armer!« warf sie ihm halb mitleidig, halb spitz zu.
»Ich bin zwei Tage auf der Landstraße gegangen,« erklärte er. Er fühlte, daß ihm wieder Blut aus den Haaren rann und sagte: »Gelt, er hat mich geschlagen?« Er wußte es wirklich nicht klar.
»Er hat es nicht gerne getan, ein Zufall!«
»Der Zufall hat gut getroffen!«
»Du hassest ihn, das ist nicht gut. Er ist ein ganz netter Mensch und spielt ausgezeichnet Tennis.«
»Er ist der böse Weltgeist, ich sah ihn unter den Sternen.«
»Aber Reinhart!« Sie schüttelte ihren blonden Kopf ob seinem Taumelgerede.
»Du mußt zwischen ihm und mir wählen. Du mußt mir helfen, du mußt mit mir gehen, du mußt mir die Hand reichen, dann wird es mir leicht werden. Versteh mich recht! Du sollst nicht mit mir auf die Landstraße. Ich muß nur wissen, daß du mit mir bist in Gedanken und im Wollen.«
»Du bist wirklich krank. Das macht der gräßliche Tod deiner Mutter. Bist du gesund, so reden wir wieder. Kranke können keine gesunden Gedanken haben, das hab' ich erlebt, als ich Scharlach hatte.«
Die Worte waren sanft und gütig gewählt, aber die Kehle brachte sie hart hervor. Reinhart sah Jutta an. Ihr Auge war an ihm vorbei auf die Fabrikschlote gerichtet, die nackt und nüchtern in die Luft stiegen. Er sank mutlos in sich zusammen.
»Hör',« begann sie wieder, »ich habe einen Einfall, ich lasse ein Auto ankurbeln und in zwei, drei Stunden bist du zu Hause, es ist ein schneidiger Wagen.« Sie bückte sich und hob seine Reisemütze auf, die am Boden lag.
»Was soll mir das Auto! Sage mir dein ›Ja‹ oder dein ›Nein‹, darum bin ich doch hergekommen. Nimm mir den Glauben nicht!«
Sie drückte ihm ihre Lippen rasch, wie verstohlen, auf die Augen und sprach wie im Scherz: »Du bist ein Närrchen, das immer alles aufspießen will. Ich hole den Wagen. Da, setz' deine Mütze auf!« Damit flog sie davon. Er sah und sann ihr nach: »Ist sie ein Dämon oder ein Engel, oder einfach ein flatterndes Lustgeschöpf?«
Ein Motor wurde angedreht, Reinhart meinte durch das Rattern Geierlings Stimme zu vernehmen, schallend, lachend. Der Wagen schnob heran, Jutta saß darin. Sie sprang heraus und nötigte Reinhart, einzusteigen. All das geschah über ihn weg, er ließ es nur geschehen, um Von dem Ort so rasch als möglich fortzukommen. Er fühlte den Druck ihrer Hand, den matten Schall ihres Grußes, dann fauchte der Wagen davon, in die andämmernde Nacht hinein.
In dem Schütteln des Wagens wurde Reinharts Kopf wieder dumpf und schmerzhaft. Er ließ halten und stieg aus. »Ich brauche Sie nicht weiter,« gab er dem Chauffeur zu verstehen. Er setzte sich an den Straßenrand und schlief ein. Dann war er wieder unterwegs, er wußte nicht wie. Er war müde und ging planlos, wie im Schlafwandel, oder wie ein Blinder hinter seinem Hündlein her. Das Hündlein hatte ihn unvermerkt von der Landstraße ab auf einen schmalen Weg geleitet. Er sah einen umzäunten Garten vor sich und hinter Bäumen die rote Fläche eines Ziegelhauses. Er trat durch ein Gittertor. Ein Hund schlich heran, ein wirklicher, stieß ein kurzes Gebläff aus, roch an Reinhart und beruhigte sich. In der Haustüre war ein ovales Glasfenster angebracht, durch das Licht herausdrang und auf der Scheibe ein Wort sichtbar machte. Reinhart las: »Avera« und suchte in seinem verschleierten Gehirn nach dem Sinn. Er drückte mechanisch auf einen Klingelknopf und sah sich einem unendlich langen, bartlosen Manne gegenüber, der ihn forschend aus dunkeln Augen ansah.
»Sind Sie der Hausherr?« fragte Reinhart.
»Nein, der Diener, und als solcher zu Ihren Diensten. Sind Sie verirrt?«
»Ich bin wohl verirrt!« gab Reinhart zur Antwort.
»Und verwundet. Sie bluten. Treten Sie ein. Ich will dem Herrn ein Wort sagen. Setzen Sie sich, hier ist ein Stuhl.«
Reinhart sah sich in einer großen wunderlichen Halle. In der Mitte stand eine Palme in einem großen Messingtopf. An die dahinter liegende Wand war eine tropische Landschaft gemalt: ein Teich mit Lotosblumen, ein paar farbige Vögel, ein gespenstiger Baum am Ufer, von dessen Ästen Luftwurzeln sich dem Wasser zusenkten, wie Schlangen, die sich oben aufgeringelt haben und mit dem Kopf nach unten suchen.
Der Diener erschien wieder: »Der Herr ist versunken. Kommen Sie.«
Reinhart wurde die Treppe empor und in ein geräumiges Zimmer geleitet. »Haben Sie Hunger oder Durst?« fragte der Diener. Reinhart hatte nur Schlaf. Der Diener wusch ihm das Blut aus den Haaren und entfernte sich. Reinhart streckte sich auf ein Ruhebett aus und schlief bald mit wirren, wie entzweigespaltenen Gedanken ein.
Als er erwachte, schien der Tag schon hell ins Zimmer. Oben an der Decke leuchtete eine elektrische Ampel. Er hatte unterlassen, am Abend das Licht auszudrehen. Er sah sich um. Das Zimmer war ganz Kahl, die Wände von einer weißen Tapete bedeckt, durch die sich, kaum sichtbar, goldene Linien einen Weg tasteten. Kein Bild, keine Ziersache, keine Blumenvase. Das Ruhbett, ein Sessel, ein Waschtisch mit einem handgroßen Spiegel, das war alles. Doch da war noch etwas über der Türe: eine Tafel in Goldrahmen mit den drei Silben »da da da« in zierloser Schrift. Es kam eine seltsame, fast feierliche Stimmung über Reinhart in dem sauberen, phantasielosen Raum. Er wusch und kämmte sich und stieg hinunter. Der lange schwarzhaarige Diener schien ihn erwartet zu haben. Er trug nun eine weiße Schürze und führte Reinhart in den Garten, wo unter einem Baum ein kleiner Tisch gedeckt war. »Der Herr wird gleich kommen.« Kaum war das Wort verklungen, als eine kleine Seitentüre ging und ein Herr in langem, blauen Mantel oder Umschlagtuch heraustrat. Er kam langsam auf Reinhart zu, der reichlich Zeit hatte, ihn zu mustern. Er ging auf Ledersohlen, von denen gelbe Riemen sich über den Füßen kreuzten. Sein Gesicht war blaß. Ein schwarzer Bart lief am Kinn in zwei Zipfel aus. Der Scheitel war fast kahl. Von ferne schon nahmen zwei dunkle Augen Reinharts Blicke gefangen.
»Seien Sie im Hause Avera willkommen,« sagte der Mann, indem er seine Hand aus der Gewandung herauszog und sie Reinhart entgegen streckte. »Ich bin Enzio Kraus, und wer gibt mir die Ehre?«
Reinhart nannte seinen Namen und wollte über sein Herkommen Auskunft geben.
»Lassen Sie das jetzt, wir werden schon Zeit dazu finden,« unterbrach ihn der Hausherr, »setzen wir uns zum Frühstück. Sie dürfen aber keine Opulenz erwarten, wir geben dem Tisch nicht mehr Bedeutung, als er verdient.« Wirklich war das Frühstück einfach: Brot, Butter, Tee und frische Birnen. Enzio Kraus nahm von allem ganz wenig zu sich.
Nach der Mahlzeit führte er Reinhart durch den Garten und stellte, ohne im Ton die geringste Neugier zu verraten, wie beiläufig die Frage, was er zu tun gedenke.
Reinhart suchte nach dem treffendsten Ausdruck und brachte anspruchsvoller, als es seine Art war, hervor: »Ich suche mich selber.«
Enzio Kraus sah ihm in die Augen und erwiderte ebenso feierlich: »Wir sind alle das, was wir durchgedacht haben.«
»Dann bin ich wenig,« staunte Reinhart und ging lange schweigsam neben dem älteren Manne einher. Endlich aber öffnete sich seine Brust, und er erzählte Enzio wie einem alten Freunde von der Sternennacht, die er auf dem Berge zugebracht hatte. Enzio hörte ihm aufmerksam zu und sagte, als Reinhart sich ausgesprochen hatte: »Vielleicht hat Sie ein guter Stern in dieses Haus geführt. Auch wir sind Sucher. Wir suchen aber nicht uns selbst, sondern das Vergessen. Aber wir werden Sie nicht stören. Jeder suche auf seinem Pfade.«
Reinhart blieb in dem Haus Avera. Die Ruhe und Feierlichkeit des Ortes, die Selbstsicherheit Enzios und der Zauber seines dunkeln milden Auges hielten ihn fest.
Beim Mittagessen machte Enzio ihn mit seiner Frau und seiner Tochter bekannt. Die Frau nannte er Uchte, die Tochter Imma.
Frau Uchte mochte noch ziemlich jung sein, machte aber den Eindruck einer alten Matrone. Sie bewegte sich mühsam und atmete schwer. Das Fett wucherte krankhaft an ihr. Sie hatte eine hellbraune Hautfarbe, ihr Auge schwamm in einem dämmerigen, rätselhaften Dunkel. An den aufgeschwollenen Fingern und Armen trug sie kostbare Ringe und Spangen in zu reicher Fülle; ein Diamant verdunkelte den andern. Das leicht ergraute Haar wurde von langen Nadeln mit großen Goldfiligrankugeln zusammengehalten. Ein brauner Pelz deckte ihre Schultern, obschon das Wetter lau war.
Die Tochter war von verwirrender Sonderlichkeit und Schönheit, zierlich, schlank, leicht wie ein Lufthauch, ihr Gesicht wie aus Elfenbein geformt und von raffaelischer Ebenmäßigkeit. Die Augen dunkel, wie die der Mutter, aber glänzend, die Haare tiefschwarz. Auch sie trug Schmuck, doch in geschmackvoller Verteilung.
Frau Uchte sagte in gebrochenem Deutsch: »Sie bringen uns den Herbst, Herr, das Laub fällt schon. Warum fallen in diesem Lande die Blätter allesamt?«
Die Tochter sprach: »Warum ist nicht ewig Frühling?« Es klang, wie wenn sie von sich selber redete.
Enzio fing beider Gedanken auf: »Wir stehen alle unter dem Joch des Wandels.«
Man aß, ohne viel zu sprechen. Der Diener, man rief ihn Klas, ging schweigsam hin und her.
Man trank eine Tasse Tee in einer Veranda. Dann rauschten die Damen in ihrer Seide davon, und das Haus ward kirchenstill.
»Es ist eine fast überirdische Feierlichkeit in Ihrem Hause,« begann Reinhart.
»Sie müssen das so empfinden,« entgegnete Enzio. »Mein Haus ist das Widerspiel von Ihrer europäischen Welt, oder möchte es sein,« fügte er hinzu. »Wir leben hier begehrlos unter Begehrlichen.«
Reinhart gestand: »Ich habe mich oft nach solcher Stille gesehnt und bin ihr nun kaum gewachsen.«
»Und doch müssen wir alle uns einst in eine viel größere Stille finden, ja, wir müssen sie uns wünschen als Erlösung.«
»Sie haben in Indien gelebt?«
»Ich war Kaufmann dort. Hier habe ich mir die Malaria vertrieben und mich an den Ort gewöhnt.«
»Ihn lieb gewonnen, denke ich mir? Die nahen Buchen und Eichenwälder, der Fluß mit seinen buschigen Ufern, der sanfte Rücken des Jura ...« Reinharts Blicke schweiften durch die großen Scheiben übers Land.
»Darauf achte ich nicht sonderlich,« entgegnete Enzio. »Man soll sein Herz nicht an die Dinge hängen, das führt immer zum Leiden. Und wir sind da, es zu meiden.«
»Ich dächte, es zu überwinden.«
»Das ist euer abendländischer Glaube.«
Nach einer Weile erklärte er sich: »Ich habe meine Jugendzeit und meine Lehrjahre in einem Lande zugebracht, in dem alles Fleiß, Erwerb, Genuß, Geld ist. In den Osten verschlagen, setzte ich dieses sogenannte Leben noch lange Jahre fort, bis mir in einer Nacht, im Fiebertraum, die Erleuchtung kam. Da lernte ich verachten, was ich früher angebetet hatte.«
»Seltsam,« erklärte ihm Reinhart, »Sie sind auf dem Wege, den auch ich suche.«
»Da möchte ein Mißverständnis walten. Sie suchen sich, sie suchen wahrscheinlich die Tat, die Wirkung auf andere, den Erfolg, vielleicht den Ruhm. Von all dem begehre ich nichts, ich suche die Loslösung vom Tun, ich mühe mich um den Müßiggang, ich möchte alles verlieren, am meisten mich selber. Begehrlos leben heißt glücklich leben. Folgen Sie mir, wenn sie können. Und nun machen sie sich's hier im Hause oder im Garten bis zum Abend bequem. Ich scheide für so lange aus der Welt.« Bei diesem Wort nahm sein Gesicht den Ausdruck der Abwesenheit und vollkommener Gleichgültigkeit an, und er ging ohne Gruß langsam nach der Tiefe des Hauses.
Reinhart sah ihm nach: »Hast du den Frieden gefunden, Enzio Kraus? Bist du ein Kränkelnder oder ein Gesunder, ein Weiser oder ein Narr oder ein Schauspieler?« Eine Sehnsucht kam ihm nach der Festigung und Verankerung, die in Enzio zu sein schien. Befreiung von allem, was Lebensnotdurft heißt, vom Leid um die Mutter, um den Vater und die Schwester, von der quälenden Unruhe um Jutta, Loslösung von seiner ganzen mißratenen Vergangenheit, von dem ganzen überfirnißten Weltwesen.
Er trat in den Garten hinaus und warf sich auf den Rasen. Der Hund gesellte sich zu ihm und streckte sich träge neben ihm aus. Man nannte ihn Zeno, wegen seiner unerschütterlichen Ruhe. Er vertrat das Griechentum in dem seltsamen Hause. Reinhart sah, daß es ein altes, zahnloses Tier war, ganz grau um die Schnauze und mit einem Anfang von Räude, der augenscheinlich niemand Beachtung schenkte.
Im Haus erklang der sanfte Ton einer Harfe. Es war ein fremdartiges, schwermütiges Lied. Reinhart vermutete, das Saitenspiel rühre von Imma her. Er sann dem schönen Mädchen nach und stellte ihm im Geiste jenes andere gegenüber, das ihm gestern so unsäglich weh getan hatte. Das Lied im Hause brach ab. An einem Fenster erschien Imma und schaute in den Garten. Sie entdeckte Reinhart und schien ihm zuzulächeln. Er sprang auf, und sie zog sich zurück. Zeno hatte den Kopf seitlich auf eine Pfote gelegt und beobachtete den neuen Hausgenossen mit träge blinzelnden Augen.
Beim Abendbrot schaute Reinhart nach den Händen, die die zarte Musik gemacht hatten, und entdeckte zwei Gebilde von ungewöhnlicher Zierlichkeit, kleine Naturwunder.