Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

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Achtes Kapitel

Arkascha und Tatjana

Ein neues Jahr schneite ins Land. Die hundert Glocken der Stadt hatten es mit mächtig frohem Schwung begrüßt, als bestehe kein Zweifel, daß es das Jubeljahr, das Jahr des endgültigen, ersehnten Heils sein werde. Für Reinhart sollte es das Jahr der Tat werden. So hatte er es sich vorgenommen. Er stellte sich in Reih und Glied mit denen, die des neuen Willens waren. Sein Ich durfte nur noch sine Uniform unter tausend andern sein, eines Zeichens, eines Kommandorufes gewärtig. Er hatte das auch schon gekostet, in der Kaserne, aber diesmal schien ihm der Dienst leichter, weil er freiwillig war und das Ziel glänzend in die Zukunft emporragte. Tagsüber erteilte er Unterricht oder besuchte Vorlesungen, abends ging er in die Versammlungen und ließ sich über die Organisation und die Ziele der Partei, der er sich verschrieben hatte, aufklären. Es war ihm, er trete in eine ganz neue Menschheit ein. Alles schien nach einem wohlüberlegten Plan betrieben und besonders der Heranbildung der Jugend zwischen sechzehn und zwanzig Jahren große Beachtung geschenkt zu werden, während die Kreise, in denen er aufgewachsen war, ihren Nachwuchs sich selbst überließen und nur etwa für die Zunft oder die Loge anwarben.

Reinhart setzte sich selber ab und zu in einen der Jugendkurse. Eines Abends kam er neben einen Herrn von fremdländischem Aussehen zu sitzen, der noch älter war als er und sich unter den jungen Leuten mit seinen schon etwas ergrauten Haaren seltsam ausnahm. Nach der Stunde machte sich der Fremde ohne Umstände an Reinhart heran: ob er ihn eine Strecke begleiten dürfe. Nach weniger als einer Stunde kannte Reinhart fast seinen ganzen Lebensinhalt. Er war Russe, hieß Arkady Petrowitsch Schucharinow, hatte die russische Revolution mitgemacht und aus Sibirien den Weg in die Schweiz erschlichen. Er schien inwendig beständig zu brennen, und es ging eine flackernde Unruhe von ihm aus.

Reinhart kam nun fast täglich mit ihm zusammen. Der Russe schien zu wittern, wann er eine Stunde für ein Gespräch oder einen Spaziergang aussparen konnte. Reinhart merkte freilich bald, daß er ihn nur aufsuchte, um sich im Deutschen, das er noch fehlerhaft sprach, zu üben. An seiner Seite flatterte meistens eine junge Dame, ein lebhaftes, sprudelndes Wesen, das an der Universität eingeschrieben war. Er nannte sie Tatjana, sie ihn Arkascha. Sie siezten sich meistens, taten aber sehr vertraut miteinander.

»Haben Sie kein Samowarchen?« fragte Tatjana Reinhart eines Abends, als der Nordwind grimmig durch die Gassen fauchte. »Sie müssen ein gemütliches Samowarchen haben, unbedingt, morgen kaufen wir eins zusammen, ja? Sie helfen uns doch auch, Arkascha?«

Wirklich saßen die Russen am folgenden Abend bei Reinhart vor dem Samowar und Tatjana unterwies den Gastgeber in der Handhabung des Teekochers. Und so Abend für Abend. Das Gespräch führte immer Arkady Schucharinow. Er sprach eindringlich, heftig, unermüdlich, während Tatjana, eine Zigarette im Mund, ihm berauscht zuhörte und dann und wann eine Rakete des Entzückens steigen ließ: »Oh, Sie mein Heldchen! Oh, so eine Revolution, so ein Revolutiönchen, wie herrlich!«

Der kleine Kreis schwang sich immer um die gleiche Achse. »Sehen Sie, lieber Stapfer,« stieß Schucharinow durch die Zahnlücke, die er vorn im Oberkiefer hatte, hervor, »sehen sie, ohne Revolution geht es nun einmal nicht. Revolution muß sein, unbedingt. Ohne Revolution läuft es immer auf einen Schlag in die Luft, eine Laus, hinaus. Das sehen Ihre Führer immer noch nicht ein. Sie fürchten sich vor dem bißchen Blut. Und was treiben sie in ihren Jugendkursen? Ein Splitterchen Sprache, ein Brosämchen Theorie über die Gesellschaft und ihre Mißstände, ein Bröckelchen Wirtschaftslehre und was weiß ich. Theorie, Theorie! wissen Sie was? Revolution muß man die Jugend lehren, nichts anderes, das genügt! Unbedingt! Und Sie sollen's machen, Herr Stapfer!«

»Unbedingt müssen Sie's!« raketenfeuerte Tatjana und klatschte in ihre runden feisten Händchen.

Ein paar Wochen später stand Reinhart vor einer Klasse von Jünglingen, in einem der Schulhäuser des Kreises. Unter ihnen war Joseph Schmärzi, dem es nun leidlich ging und der es sich nicht hatte nehmen lassen, zu seinem Freund in die Schule zu gehen.

Es war nicht der einzige Kurs über Revolution, der eingerichtet wurde. Schucharinow leitete selber einen für ältere Genossen. Er hatte großen Zulauf. Da er die russische Revolution erlebt hatte, galt er als Autorität in Dingen des Umsturzes, und Tatjana sorgte dafür, daß der Glanz des Martyriums ihr »Heldchen« beständig umfloß. Das Wort Revolution tauchte von da an immer häufiger auf, am Biertisch, in Vorträgen und Diskussionen, erst schüchtern, dann zuversichtlicher. Überall spürte man den Hauch Schucharinows. Er war wie ein schneidender Wind, der in die im Grunde versöhnliche Partei blies. Er war schon mit allen Führern bekannt, auch der Narrenklub hatte ihn aufgenommen. Im Abendkurs Reinharts spielte er sich als Inspektor auf, trat ein, wann es ihm beliebte, hörte stehend oder sitzend zu und ging wieder ohne Umstände weg.

Eines Abends tauchte in Reinharts Kurs auch Klas, der ehemalige Diener im Haus Avera, auf. Aber er schien nicht lernenshalber gekommen zu sein und ließ es bei diesem ersten Besuch bewenden. Dagegen begegnete ihm Reinhart nun öfter in den Parteiversammlungen, wurde aber von ihm sorglich gemieden, wenn auch umschlichen.

Reinhart wurde das Arbeiten mit den jungen Leuten bald zu einer großen Freude, wenn auch nicht alle gleich leicht mitgingen, so machte die kleine Schar doch den Eindruck eines guten, fruchtbaren Saatackers. Joseph Schmärzi verschlang jedes Wort, und wenn ihn der Husten einmal am Besuch des Kurses verhinderte, war er unglücklich und fiebrig. Er hatte sich in die vorderste Bank gesetzt, und um ihn schlossen sich einige Jünglinge zu einem festen Kern zusammen. Sie begleiteten Reinhart jeden Abend nach der Stunde heim, und so bildete sich rasch ein kleiner Freundschaftsbund von guten Toren und glühenden Weltverbesserern.

Einmal heftete sich Schucharinow an sie an. Er riß gleich das Gespräch an sich: »Lieber Stapfer. Sie haben den Zug der Weiber nach Versailles sehr anschaulich geschildert, wirklich ganz famos. Man könnte Wort für Wort drucken. Ganz objektiv. Aber das ist es gerade! Sie erzählen den Vorgang, als hätten Sie ihn vom Mond oder Mars aus angesehen, Licht und Schatten hübsch verteilt. Ganz gut, aber für unsern Zweck nicht tauglich!«

»Die Geschichte muß sachlich sein!« hielt ihm Reinhart entgegen.

»Ach, gehen Sie! Madame Historia ist eine gemeine Dirne, wer wollte da viele Umstände machen! Unsere Revolutionsgeschichte muß die Proletarier aufwirbeln, sie müssen sich in den leidenden Franzosen von anno so und so selber erkennen. Schildere ich den Zug nach Versailles, so schlüpfe ich ins Mieder jenes Mädchens, das das Zeichen zur Empörung gab, und nicht in die Uniform eines Offiziers der Cent Suisses. Sie ist jung, schön, lebenslustig, hat aber Hunger! Hunger! seit ein paar Tagen hat sie und mit ihr das ganze niedere Paris kein Brot gesehen. Sie erfährt am Morgen, daß der Tag wieder keines bringe, daß aber in Versailles die Leibgardisten des Königs ein Fest gegeben haben, und daß dabei unerhört gepraßt worden sei. Es flammt in ihr auf, sie weiß nicht mehr, was sie tut, sie stürzt in ein Nachtlokal und reißt eine Trommel an sich. Schon ist sie wieder auf der Gasse. Sie kann nicht trommeln, aber sie kann dreinschlagen. Und sie schlägt auf das Fell, daß es weithin donnert, und sie schreit dazu: ›Brot! Brot!‹ Sie ist wahnsinnig. So stürmt sie durch die Straßen, sie wird verstanden, man rollt ihr nach, wie der Donner dem Blitz. Die Not des niederen Volkes schreit aus ihr, jeder Arme und Hungrige brüllt aus ihrer Kehle! Sehen Sie, lieber Stapfer, so etwa!«

»Ganz recht,« erwiderte Reinhart, »aber das ist keine Geschichte mehr, das ist Poesie.«

»Wer verlangt denn von Ihnen Geschichte? Die Poesie ist immer wahrer als die Geschichte. Oder, was sagen Sie dazu, lieber Schmärzi?«

Zögernd brachte Joseph seine Meinung hervor: »Ich glaube, man muß in allem gerecht sein.«

»Ei freilich! Sie sind ja der Gerechtigkeitsphantast! Ach was, Gerechtigkeit! Was ist Gerechtigkeit? Daß die einen am weißen Brote knuspern und die andern das schwarze fressen! Kommen Sie morgen in meinen Kurs, kommen Sie unbedingt, ich werde darüber reden, wie man aus den Menschen reife Revolutionsbirnen macht. Ha! Ich werde Ihnen jetzt nur das Hauptmittel nennen, sehen Sie: Jeder Mensch hat einen Winkel, aus dem er knurrt, jeder! Den muß man herausfinden. Hierauf spannt man alle Unzufriedenheit vor den Gesellschaftswagen, setzt sich auf den Bock – den Sündenbock – und kann nun lospeitschen und kutschieren. Ungeheuer einfach, was? Kommen Sie morgen unbedingt, alle! Ihnen, lieber Stapfer, gebe ich den Rat: Reden Sie nicht farblose Worte, speien Sie Blut! Objektive Geschichte! Unsinn! Gibt es nicht!«

Reinhart fuhr ihn an: »Soll ich denn gegen mein Gewissen zeugen?«

»Unbedingt müssen Sie das! Warum haben Sie kein anderes Gewissen? Ihre Schuld!« rief der Russe und tänzelte lachend davon.

Ein paar Tage später stieß Remhart wieder mit ihm zusammen, und so nun öfter. Es klirrte jedesmal, wenn sie aufeinander trafen.

Reinhart wurde immer tiefer in das politische Strickzeug verwickelt. Seine Schüler warben für ihn und setzten es durch, daß er in den Vorstand der Kreissektion gewählt wurde. Unter diesen Umständen begegnete er auch seinem alten Schulkameraden David Holzer wieder. Aber David war ein anderer geworden. Ferdinand Stapfer hatte ihn wegen Hetzereien aus der Fabrik entlassen und der Verabschiedete schien Reinhart in seinen bissigen Haß eingeschlossen zu haben. Alle Vertrautheit war verschwunden, er siezte den alten Kameraden wieder und wurde grob, als ihn Reinhart bat, beim alten »Du« zu bleiben. In den Sitzungen war David immer wie ein Gewehr, stets zum Knallen bereit. Er fühlte sich als den urechten Vertreter des Proletariats und packte jeden grimmig an, der nicht ganz seinem Ideal entsprach. Meistens rieb er sich an einem Genossen, den er im Verdacht hatte, die Partei nur als Sprungbrett zu einem Amtssessel zu benützen, und der sich schon lange methodisch in der zu dem Sessel gehörenden wunderlichen Schraubensprache übte, seine Reden mit »meines Erachtens«, »es dürfte sich empfehlen«, »man wolle beachten«, »es kann unter Umständen als gerechtfertigt erscheinen« spickte, die Arbeiter, wenn er etwas von ihnen wollte, Brüder und Genossen, sonst aber verächtlich Proleten nannte und offensichtlich als Wesen minderen Ranges einschätzte. Einst als ihm das Wort Prolet nach einer Vorstandssitzung unbedacht entsprungen war, schoß ihm David über den Tisch weg wie ein Tiger an den Hals, warf ihn zu Boden und zerzauste ihn wild. Dann stürzte er sich, ohne sichtbaren Anlaß, auf Reinhart und schrie: »Ich mach' auch dich einmal kaputt.« Er war kaum zu bändigen. Nach solchen Zusammenstößen floh Reinhart zu seinen jungen Freunden, deren hochgespannte, utopische Erwartungen von einer besseren Weltordnung ihn rührten, und die ihm neben den alten Parteireitern, bei denen das allgemeine und das persönliche Ziel nie sicher zu scheiden waren, wie eine anmarschierende wachsende Hoffnung erschienen.


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