Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

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Fünftes Kapitel

Onkel Melchior

Reinhart und David hatten sich auf acht Uhr verabredet. Sie schritten über den Fluß einem der ältesten Viertel der Stadt zu. Eine kalte, trockene Winterluft wehte ihnen aus der Gasse entgegen. Zwei Betrunkene torkelten Arm in Arm vor ihnen her und gröhlten: »Oh, Susanna, wie ist das Leben doch so schön!« Aus den Wirtschaften, die so nahe beieinander standen, daß die Ausdünstung der einen sich mit dem Atem der andern mischte, klang Musik, Gesang und Gejohle. Eine kreischende Frauenstimme übertönte alle Bässe der Männer. Die Gasse gab sich ihrer Sonntagabendstimmung hin.

David schwenkte in ein enges Seitengäßchen ein und schob Reinhart durch eine niedere Haustüre in einen ziemlich geräumigen, aber muffigen Flur. Man merkte gleich, daß man sich in einem heruntergekommenen Hause befand, das vielleicht noch vor hundert Jahren Handwerkers- und Bürgersleute beherbergt hatte, nun aber einem Spekulanten gehörte, der sein Fett aus der Armut sog.

Im zweiten Stock traten die beiden in eine geräumige, aber so niedrige Stube, daß Reinhart, der hoch gewachsen war, mit dem Scheitel fast die Decke berührte. Hinter dem Tisch in der Ecke, hemdärmlig, ohne Kragen, die stämmigen Beine auf der Bank ausgestreckt, saß ein Mann mit weißem Schnauz- und Kinnbart, Davids Vater. Der Alte, über die Herkunft des Besuches verständigt, rollte bedrohlich die Augen, schob jedoch Reinhart zum Zeichen des Willkommens sein Glas hin. Reinhart, um ihn nicht zu beleidigen, trank einen Schluck. In einer andern Ecke, am Kachelofen, saß Davids Mutter, die noch größer und umfänglicher war, als ihr Mann, sie hatte auf einem Tischchen Karten ausgebreitet, aus denen sie zwei Mädchen die Zukunft kündete. Sie war zu dick und träge zum Arbeiten und nahm, teils um etwas zu verdienen, teils um Klatschgesellschaft zu haben, stellenlose oder gefallene Dienstmädchen bei sich auf. Reinhart schenkte sie, in ihre Karten vertieft, keine Beachtung, oder tat so. David begrüßte seine Eltern kurz und ohne ihnen die Hand zu reichen. Schon hatte er sich zu einem etwa vierzehnjährigen Kind herabgebückt, das auf einem Schemel schlenkerte und mit einer Puppe spielte, einem großen, kunstvollen Gebilde, das sich in dieser Umgebung fast fürstlich ausnahm. »Das ist nun also Liselein,« klärte David Reinhart auf, »ein Rauschkind, wie ersichtlich ist, und gerade deshalb muß man es lieb haben.«

Der alte Holzer zuckte auf, knurrte etwas Unverständliches in den Schnurrbart und stürzte zornig den Inhalt seines Glases hinunter, seine Frau schlug eine Karte mit der feisten Hand klatschend auf den Tisch, sodaß Reinhart schließen mußte, sie werde von ihrer Kunst doch nicht völlig beansprucht.

Liselein hatte sich vom Schemel erhoben und durchsuchte Davids Rocktaschen. Der Bruder beteuerte, diesmal nicht ein einziges Brosämchen mitgebracht zu haben, und als das Kind endlich eine Tüte mit Zuckerwerk hervorzog, stellte er sich höchlich verwundert: wie einem nur dergleichen in die Taschen fliegen könne. Liselein hüpfte in der Stube herum, wobei es sich zeigte, daß es nicht nur um ihren Kopf, sondern auch um ihre Füße nicht aufs Beste bestellt war. Übrigens bot das auffallend klein gebliebene Kind durchaus keinen bemitleidenswerten Anblick, sein Gesichtchen war auf Heiterkeit gestimmt und schien sich weit leichter zum Lachen als zur Traurigkeit verziehen zu können.

Reinhart hatte sich dem alten Holzer gegenüber an den Tisch gesetzt.

»So, so, man ist also der junge Stapfer,« schnauzte ihn der Graubart an. »was macht der Vater? Will er immer noch höher hinaus? Ja, ja, es gibt Leute, denen der Stiefelknecht jedes Jahr einmal kalbt! Wenn man denkt, daß wir einst in derselben Schulstube hockten!« Er steckte die Nase ins Glas und polterte dann mit einem Faustschlag auf den Tisch los: »Man sollte die ganze Welt wie eine Kröte zusammenquetschen! Die einen können fressen und saufen, so viel sie wollen, und die andern müssen an ihren schwieligen Tatzen saugen, wenn's einmal losgeht, nehm ich die schwerste Axt!«

»Wenn du gerade keinen Rausch hast,« warf ihm David trocken hin.

Der Zorn des Alten prallte nun einen Augenblick gegen den Sohn: »Wenn du nicht schweigst, zerschlag ich dir den Schädel zu Habermus!« Aufs neue donnerte die Faust auf den Tisch. Der Polterer wandte sich nun wieder an Reinhart: »Seid Ihr auch so ein geratenes Früchtlein, wie der junge Herr da? Läuft seinen Alten davon, sobald er erzogen und geschult ist! Man könnte vor Hunger verserbeln, er würde sich eine Partion Kutteln oder Nieren und eine Flasche Roten bestellen! Warum ist man übrigens zu uns gekommen, junger Mann?«

Reinhart gab ihm Auskunft. Der Alte gebärdete sich, als wollte er ihn mit Blicken versengen. »Ja, der Melcher, der ist der beste vom Golsterhof! Aber freilich, die andern leben in Hussa und kümmern sich keinen Pfifferling um ihn!«

»Er will sich nicht helfen lassen, wir wissen ja nicht einmal, wo er wohnt. Nicht einmal im Adreßbuch ist er zu finden. Er verbirgt sich mit viel List.«

»Warum versteckt sich die Maus vor der Katz? Werdet ihn übrigens lang gesucht haben! Ha!«

Reinhart fühlte sich betroffen und errötete. Der Alte sah es und lachte boshaft: »Meint man, ich kenne die Golstervögel nicht? Ich bin in der Miesmatt aufgewachsen, das ist, denk ich, zehn Minuten vom Golster weg!« wieder donnerte der Tisch.

»Lärm doch nicht so, du Wüster!« tönte es vom Ofen her, »ich glaube, es hat geklopft.« Jetzt erst merkte Reinhart, daß der dicke Leib der Holzerin nur ein dünnes, miauendes Stimmchen hervorzubringen vermochte. Die Türe ging auf, ein Männlein mit etwas gebückter Haltung stand in der Stube, ließ unter einem breiten Hut hervor den Blick über die Anwesenden gleiten und zuletzt fragend auf Reinhart haltmachen. Der alte Holzer rief lachend: »Darfst schon die Augen aufsperren, Melcher! Das ist auch ein Golstervogel. Und was für einer!« Melchior machte Miene, sich wieder zur Tür hinauszustehlen, aber Reinhart stand schon vor ihm und streckte ihm die Hand entgegen. Man setzte sich um den Tisch. Melchior war verlegen und zupfte an seinem Bart, der ihm wie ein braunes Tuch unter dem Kinn durchlief.

»Er hat die tiefen guten Augen der Großmutter,« überlegte Reinhart.

»Nun? habt Ihr Euch nichts vorzusingen, Ihr Golstervögel?« dröhnte Holzer, dem das Wort Golstervogel Behagen zu machen schien.

»Ich begleite Sie nachher,« sagte Reinhart zu Melchior, »oder darf ich sagen ›dich‹?«

»Sie dürfen schon so sagen.«

»Nein, so ist's nicht gemeint,« entschuldigte sich Reinhart.

»Gut, so sagen wir beide du und dich und dein. Aber ich bin eben nur ein dummer Handlanger.«

»Ist das nichts Rechtes?« wetterte der Holzer los. »Wer schafft's? Ich denke, wir! Wir haben die Nerven, wir haben die Fäuste, wir haben alles, nur das verfluchte Geld haben wir nicht.« Betäubend schrie der Tisch unter seiner Faust.

»Schwatz doch nicht immer von diesen Sachen,« wies ihn David zurecht, »verstehst ja doch nichts davon!« Der Alte antwortete mit einem furchtbaren Gepolter über die Frechheit, den Hochmut und die Undankbarkeit der Jugend. Sein Gesicht glühte wie eine Esse.

Liselein hatte sich bei dem Streit an Melchior herangeschmiegt und richtete ihre vor Angst zitternden Augen auf David. Ihr bangte wohl, er könnte vom Vater mißhandelt werden, wie sie manchmal. Melchior ging die Angst des Kindes zu Herzen, er suchte es von dem häßlichen Gezänk ab- und auf die Puppe hinzulenken, die es in der Erregung Reinhart hingestreckt hatte, damit er sie halte oder schütze. Melchior begann zu fabulieren: »Es war einmal eine Prinzessin, die hatte gelbes Haar.« Er schilderte nur, was ihm eben unter den Augen war. »Gelbes Haar hatte sie und blaue Augen und eine wunderschöne Puppe, auch mit gelbem Haar und dunkelblauen Augen, und war mit einem feuerroten Röcklein angetan. Und wenn die Puppe lag, hatte sie die Augen geschlossen, und wenn die Puppe stand, hatte sie die Augen offen. Die Prinzessin aber ließ die Puppe manchmal fallen, und das tat ihr weh.«

Liselein verstand den Zusammenhang und mußte lachen.

Aber der gute Onkel Melchior wußte nun nicht mehr weiter, und da der Streit nebenan immer heftiger tobte, drehten sich Liseleins Augen wieder nach dem Bruder. Nun griff Reinhart ein: »Und die Puppe hatte zwei Füße, die schauten nicht nach vorn, wie bei der Prinzessin, sondern seitwärts, der eine nach rechts, der andere nach links.«

»Ja, schau nur!« bestätigte Liselein in freudig aufglühender Erkenntnis.

»Und da geschah es einmal, daß die Prinzessin, auf ihre Puppe nicht acht gab. Sie hatte sie in eine Ecke geworfen und dort lag sie und schlief mit den Augen. Die Füße aber schliefen nicht, und der rechte sagte zum linken: ›Man hat uns in den Winkel geworfen, das tut weh, ich geh!‹ Und der linke sagte zum rechten: ›So geh auch ich!‹ Und sie gingen davon, wie sie gerichtet waren, der eine nach rechts und der andere nach links, und kamen immer weiter auseinander. Und als die Puppe erwachte, hatte sie keine Beine mehr und war sehr verlegen. Sie streckte die Arme aus, daß sie die Beine suchten, aber die Arme konnten die Beine nicht erlangen. Da sagte die Puppe zu den Armen: ›Lauft den Füßen nach und bringt mir sie heim.‹ Nun gingen die Arme auch davon. Auf den Händen gingen sie, schau, so. Sie liefen rasch und holten die Beine ein. ›Kommt zurück,‹ sagten sie zu ihnen, ›der Kopf hat es befohlen.‹ Die Beine aber sagten: ›Wir wollen nicht zurückkommen, denn man hat uns in den Winkel geworfen.‹ Darauf erwiderten die Arme: ›Man hat auch uns wehe getan, wir gehen auch nicht mehr heim.‹ Und so blieb es, die Puppe hatte keine Beine und keine Füße mehr, nichts war übrig geblieben als der große hilflose Kopf. So geht es etwa mit den Puppen in einer bösen Stube.«

Liselein sah Reinhart unverwandt an, sichtlich bestrebt, sein Geplauder zu fassen. Melchior lächelte auf das Kind herab und sprach zu Reinhart: »Das hast du gut gemacht, junger Vetter, fahr noch ein bischen weiter, bis die beiden da fertig sind mit ihrem Orgellied. Mir ist fast, du habest von Politik gesprochen.«

»Nein, nein, Onkel, aber fortfahren will ich freilich, denn jede Geschichte hat doch auch eine Anwendung für die Großen. Ich habe vor einigen Wochen eine Frau gesehen, der sind auch einmal zwei Füße und zwei Hände davongelaufen und nicht wieder zurückgekehrt. Brauche ich zu sagen, daß sie sehr traurig ist?«

Melchior fuhr auf seinen Stuhl zurück und war ganz blaß geworden. Er sah Reinhart mit großen Augen an, wie es Liselein getan hatte. Endlich sagte er halblaut: »Sprich hier nicht mehr davon, du Fino!«

Schweigsam saßen nun die beiden einander gegenüber. Auf einmal legte sich der Lärm in der Stube. Reinhart sah auf. Alle Blicke hatten die gleiche Richtung angenommen, der Türe zu. Dort stand ein Mädchen oder Fräulein, wie von einem Modegeschäft ausgerüstet. Ein Marder war nachlässig über ihre Schulter geworfen. Ihre Augen lagen zweifelnd auf Reinhart und eine leichte Röte stieg ihr langsam vom Hals in die Wangen.

»Geschehen Zeichen und Wunder?« rief sie, »ist das nicht der Herr Stapfer, oder Reini, wie wir als Kinder sagten?«

Reinhart erhob sich, sie schritt ihm rasch entgegen und ihre Hände lagen ein paar Augenblicke ineinander, die ihrige Krampfhaft gespannt, die seinige halb widerstrebend, halb hingegeben.

Die Türe wurde heftig ins Schloß geworfen: David war, ohne sich zu verabschieden, gegangen, wie eine Fürstin stand Paula in der rohen Umgebung. Alles nahm sich in dem Glanz, den sie ausstrahlte, noch kümmerlicher, heruntergekommener aus.

»Du kommst spät, Fräulein,« miaute die Mutter mit einem nachdrücklichen Ton auf Fräulein, der Stolz, Wohlgefallen, mütterliche Eitelkeit ausdrückte. Die beiden Dienstmädchen machten sich ganz klein und tuschelten der Mutter ihre Bewunderung über den schönen Pelz zu. Der alte Holzer warf über den Glasrand Reinhart einen Blick zu, der etwa sagen sollte: »Darf sie sich sehen lassen oder nicht?« Aber gleich schien ihm etwas anderes in dem breiten Kopf zu bohren, und indem er das Glas kräftig niedersetzte, stieß er hervor: »Himmel Saker!« Melchior rückte etwas beiseite und Paula nahm neben Reinhart Platz. Sie zwang Lippen und Wangen zur Heiterkeit, in ihren Augen aber lag eine forschende Unruhe. Sie erkundigte sich nach Küngold, nach der Mutter Ulrike und dem Garten, und schien betrübt, daß den Hund Pummi unter der Straßenbahn ein tragisches Ende erreicht hatte.

»Sie haben sich herausgemacht, seit ich Sie zum letzten Mal sah,« brachte Reinhart ungeschickt hervor, und dachte weniger an ihren Kleiderstaat als an ihre Gestalt, die ihm wie eine Rose im schönsten Augenblick der Entfaltung vorkam, wo jedes Mehr und Länger nur Abbruch sein kann.

Die Unruhe, die erst nur in Paulas Augen gelegen hatte, erfaßte bei Reinharts Worten auch ihren Mund und verzerrte ihn leicht. Die Lippen waren dem Zittern nahe und wurden mühsam straff gespannt, wodurch sie hart wie Klingen wurden: »Haben Sie geglaubt, ich würde eine Fabriklerin werden, vielleicht im Geschäft Stapfer?« griff sie Reinhart an. Der alte Holzer donnerte ihr Beifall. »Oder glaubten Sie, ich wollte dahin kommen, wo jetzt meine Alten sind? In ewiger Verlegenheit, in ... Nein, Reinhart, – ich darf doch so sagen? – nein, ich will vorwärts, heraus, ich will etwas vom Leben haben, einen schönen Rock, einen schönen Hut, wenn mir das Freude macht, ich will etwas vorstellen und brauche keinem etwas nachzufragen.«

»Keinem und keiner!« miaute die Holzerin zustimmend.

Paula schwieg. Die letzten Worte hatten wie eine Verteidigung geklungen. Man merkte, daß es in ihr tobte, und daß sie einem Pfeil, der abgeschossen werden konnte, zum vornherein die Spitze abbrechen wollte. Reinhart wich ihrem Blick, der auf der Lauer lag, aus, und fand nur das eine, matte Wort: »Ich meine, wir alle suchen das Glück in der falschen Windrichtung.«

Sie flackerte auf: »Fragen Sie David, er wird Ihnen sagen, worauf es ankommt.«

»Ich kenne seinen Lockpfiff,« erwiderte Reinhart, »Macht, Herrschaft!«

Der alte Holzer schnappte diese Worte auf und rief:»Ja, ja, so ist's, Herrschaft! Aber nicht die Herrschaft oder die Herrschaften, die im Auto im Land herumsurren! Die Herrschaft, Herr Stapfer Sohn!« Er wies ihm seine ungeschlachten rissigen Fäuste.

»Laß uns in Ruhe,« schalt ihn Paula, worauf sich der Alte wieder Melchior zuwandte, dem er das Bauernleben verächtlich zu machen suchte. »Was haben wir drüben gesoffen, Melchior? Most und aber Most! Da ist denn das etwas Anderes! Das spürt man in den Adern, vom andern hat man nichts als blöde Därme bekommen!« Er leerte ein ganzes Glas auf einen Zug. Seine Augen glotzten wie Glaskugeln.

»Und die Wegwartenbrühe, die man Kaffee nannte!« miaute es vom Ofen her.

»Das Most laß ich mir nicht schelten,« warf Melchior ein. Er sagte, wie es auf dem Golsterhof Brauch war, das Most. »Zweijähriges Birnenmost, das ist etwas Anderes, als dein gepanschter Italiener da.«

Dieser Widerspruch reizte den Betrunkenen aufs äußerste. Aber statt seinen Zorn gegen Melchior zu speien, schrie er Reinhart an: »Nun ist's genug ... mit dem Getue ... über den Tisch weg! Himmel Saker! Wir sind ein armes Pack, aber wir sind ein ehrliches Pack!« Er wollte aufstehen, sank jedoch in seine Ecke zurück und wurde durch diesen Mißerfolg noch grantiger. Es war, er müsse vor Wut zerspritzen.

Reinhart erhob sich. Paula schob der Mutter flüchtig etwas unter die Karten und ging hinaus. Reinhart und Melchior folgten ihr. Auf der Gasse schritten die Drei eine Strecke schweigsam nebeneinander her. »Mein Weg geht da,« erklärte Paula und verabschiedete sich rasch. Reinharts Hand hielt sie wieder einen Augenblick in ihren heißen Fingern fest.

»Du mußt das nicht krumm nehmen, Vettermann, ich meine das, was der Holzer gesagt hat,« begann Melchior, als Paulas Schritte verhallt waren. »Er war von Kindsbeinen an ein Schimpfer. Das geht ihm nach. Aber im Grunde ist er ein ehrlicher Kerl. Und wenn er säuft, so hat das seinen Grund. Es ist uns Bauern in der Stadt nämlich nicht wohl, junger Vetter, wir müssen immer an unsere Jugend und Hofheimat denken und – vergleichen. Ich gebe das offen zu, der Holzer aber ist zu eigensinnig dazu und schimpft über das, was er nicht vergessen kann. Mir kann er nichts vormachen. Wenn er einmal die Augen zutut, so wird sein Letztes die Miesmatt sein.«

»Warum kehrst du nicht ins Golster zurück, Onkel?« forderte ihn Reinhart heraus. »Man wartet darauf!«

»Du warst also neulich drüben? Was machen die Mutter und der Vater und Hans Rudolf?«

Reinhart berichtete und redete Melchior zu, fast wie ein Alter einem Jungen. Melchior schwieg lange. Sie gingen den Fluß entlang aufwärts und gelangten in die zu dieser Stunde menschenleeren Anlagen am See. Da, in dem stillen Atem des Sees und der ernsten Andacht der entblätterten Bäume entschloß sich Melchior zu reden.

»Dir kann ich es sagen, denn du bist auch einer, der leidet. Ich brauche dich nicht darnach zu fragen, ich weiß es doch. Als Ferdinands Sohn mußt du leiden. Ich weiß, daß er es recht meint und ein gutes Leibstück in der Brust hat, aber er ist zu allmächtig und erdrückt alles um sich. Er war der mittlere von uns dreien, aber er hätte nicht nur mich, sondern auch Hans Rudolf in den Boden gedrückt, wenn er nicht gegangen wäre, wir nannten ihn nur den »Großen,« obschon Hans Rudolf der Älteste und auch Größte war. Ich habe mehr zu ihm aufgeschaut, als zum Kirchturm, und als er dann in der Stadt war und vorwärts kam, wie von acht Rossen gerissen, kam es auch über mich. Auf dem Hof mußte ich werken wie ein Knecht, denn der Vater Abraham ließ nichts Halbbatziges zu. Ich meinte, ich brauchte nur in die Stadt zu ziehen, so hätte ich jeden Werktag dreiviertels Sonntag, und alle vierzehn Tage einen Sack voll Fünflivres. Bei Nacht und Nebel stahl ich mich davon. Ich fand Arbeit als Taglöhner. Aber wie ich am Abend in meine Dachkammer kam, da war schon etwas da und wartete auf mich und quälte mich dann bis zum Morgen: Der Hof. Einmal hielt ich's nicht mehr aus. Ich floh aus der Kammer, durch die Stadt und die Nacht, der Landstraße nach, über den Berg. Es war im Brachmonat. Der Hof schlief, vor der Scheune standen zwei hohe Fuder Heu. Ich besann mich lange. Endlich klopfte ich an. Du kennst den alten Klopfhammer an der Haustüre. Es fuhr wie ein Donnerschlag durch den langen Gang. Oben ging ein Fenster auf. was dann geschah, ist weniger schön zu erzählen, als die Heimkehr des verlorenen Sohnes. Da wurde kein Kalb geschlachtet. Ich höre meiner Lebtag die Worte, die der Vater mir hart auf den Kopf warf. Er war so gut und konnte so streng sein. Ich verstehe ihn jetzt. Er war die Rechtlichkeit selber und mußte mich für einen Lotterbuben halten. Und daß ich ihm einen Schimpf angetan, und das ganze Amt meinetwegen über den Golsterhof seine Witze herumbot, mußte ihn erbittert haben. Auch mochte er meinen, ich sei windelweich und für jedes Joch dankbar. Kurz, ich ging wieder, und tat oben auf dem Berg den Schwur, daß ich erst wieder heimkehren werde, wenn ich ein gemachter Mann sei.«

Traurig fuhr Melchior nach einer Weile fort: »Ich hab' bis zu diesem Tage nicht wiederkehren können. Das Glück blieb dort, im Golsterhof.«

»Aber wie war es denn mit dem Schwur?« sagte Reinhart bewegt, »war das so, wie soll ich sagen, so bindend?«

»Jeder Schwur ist bindend, junger Vetter. Dem geht nichts ab! Wie manchmal hat mich der Versucher auf die Gabel genommen. Aber ich bin ihm immer noch entwischt. Und doch schweife ich um den Hof wie ein ruhloser Geist um den Friedhof. Weißt du, was ich an schönen Frühjahrs- und Sommersonntagen narre? Ich stehe um drei Uhr auf und gehe oben dem Berggrat nach bis zu einer Lücke im Wald, wo man auf den Hof hinuntersieht. Dort sitze ich stundenlang und schneide mir wohl auch eine Maienpfeife. Das ist mein Gottesdienst. Ich bin auch schon in Mondnächten den Weg gegangen. So muß man den Hof sehen. Ich kann es dir nicht beschreiben, du mußt es selber einmal versuchen. Man meint, man erlebe das Paradies. Ich habe in jüngeren Jahren manchmal geweint wie ein Kleines, aber das ist nun vorbei. Alte Leute sind wie alte Bäume, es ist kein Saft mehr drin zum Überfließen. Der Hans Rudolf scheint auch vom Hof weg zu wollen. Der Holzer hat es mir berichtet. Warn' ihn, wenn du ihn siehst, warn' ihn! Es ist hier bei der Arbeit keine Freude. Was ist mir das Werkzeug, das ich in den Händen habe? Könnte ich nur wieder einmal ein Gerät vom Hof anfassen, ein eigenes, das auch mich kennt, und wäre es die dreckigste Mistgabel! Nun weißt du es, und wenn du einmal die Großmutter siehst, so sag' es ihr. Oder nein', sag' es ihr nicht, sie verstände es nicht und es würde ihr das Herz noch schwerer machen.«

Die beiden schritten langsam der Stadt zu. Bei der ersten Brücke sagte Melchior kurz: »So, ich gehe nun gradaus und du über den Fluß. Schlafe wohl. Und sag's nicht weiter! Versprich mir, sag's nicht weiter.«

»Darf ich dich nicht besuchen?« fragte Reinhart, der sich seltsam von dem wunderlichen Onkel angezogen fühlte.

Melchior war nicht gleich mit der Antwort bereit. Schließlich entschied er: »Ich wohne an der Drehergasse Nummer 7. Damit sollst du aber nicht in der Verwandtschaft hausieren, verstehst du?«

Reinhart schlenderte über die Brücke. In der Mitte stand er still und spähte nach Melchior, der am Kai ab und zu im Schein der Laternen auftauchte, ein unsicherer, leicht verwehter Schatten. Aber Reinhart umgab ihn mit dem heiteren Schimmer des Golsterhofes. Dann dachte er an Paula, an ihren Marderpelz und an den seltsamen Zug, der ihren Mund verzerrt hatte, vor sieben Jahren hatte er diese Lippen geküßt. So kindlich rein waren sie damals, wie taufrische Rosenblätter! Die Sehnsucht nach anderen Lippen, an deren Reinheit er glaubte wie an die der Sterne, erfaßte ihn, und seine Seele quälte sich, um einen Weg zu ihnen zu ersinnen. Als er in sein Zimmer kam, hatte er gerötete Hände, er hatte sie an den scharfen Verzierungen des Hombergschen Gartentores, vor dem er lange gestanden, wund gedrückt.


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