Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel

In der Sommerfreude

Das Waldhaus lag in einem Wieseneiland mitten in einem weiten Forst. Der Pächter und Wirt, der ein Menschenkenner war, nannte seine Wirtschaft im Sommer zur ›Sommerfreude‹ und im Winter zur ›Winterfreude‹, und fand seinen Vorteil dabei. Ein gutes Wirtshausschild ist so viel wert wie ein prickelnder Wein im Keller und eine feinzüngige Köchin am Herd.

Reinhart hatte sich an einen Tisch im Freien gesetzt. Der Wirt stand abwartend unter der Tür und lächelte unter seinem gestickten Käppchen hervor gütig der Welt zu, die Kellnerinnen trugen Teller und Gläser heraus und stellten oder schichteten sie auf einem langen Tische auf. Es waren noch fast keine Gäste da, aber sie nahten zu Haufen, man hörte sie rings im Walde singen, lachen, jauchzen, rumoren.

»Da bist du ja! Hast du sie nirgends gesehen?« tönte es neben Reinhart. Es war Georg. »Du kennst sie also? Donnerwetter, warum hast du mir das nicht gesagt?« Reinhart zuckte mit den Achseln.

»Ich glaube, sie ist eine Teufelin, man hat kein leichtes Spiel mit ihr.«

»Ich habe sie vor dir gewarnt,« gestand Reinhart.

Georg lachte: »Um so besser! Danke! Hast du das Feuer in ihren Augen gesehen, wenn sie lacht? Doch komm, du Stockfisch, wir haben unser Lager oben unter den Buchen aufgeschlagen. Der Schwager Pfarrer hat einen Tropfen von guten Eltern mitgebracht, er kriegt dergleichen von frommen Seelen. Er ist übrigens heute erträglich.«

Sie traten unter die Waldkronen und stiegen eine Strecke auf dem braunen Waldboden in die Höhe. Unter einer großen Buche leuchtete es hell im gedämpften Licht des Waldes. Jutta war in einem weißen Sommerkleid, um das sich ein paar hellgrüne Bänder rankten. Den Hut hatte sie abgelegt, ein Sonnenfleck funkelte in ihrem blonden Haar. Ihre Wangen waren bleich und hatten einen feinen Seidenglanz; Reinhart meinte, es husche ein flüchtiges Rot darüber, wie über feines Porzellan, eher zu ahnen als zu sehen.

»Mein Kamerad Stapfer!« rief Georg ohne Umstände. »Ihr kennt ihn doch!« Der Pfarrer erhob sich und begegnete Reinhart mit etwas aufgetragener Freundlichkeit. Jutta folgte seinem Beispiel schüchtern, Minna hielt ihm vom Boden aus die Hand bin und die Tante nickte vornehm und kühl, ohne ein Glied zu rühren.

»Ich fürchte, zu stören,« sagte Reinhart, sich gegen die Tante verneigend.

Sie entgegnete eben so konventionell: »Oh, wir lassen uns in unserer Freude nicht stören, pas le moin du monde. Einen Stuhl kann ich Ihnen leider nicht anbieten.«

»Und auch kein Glas, wir haben uns nicht vorgesehen,« bedauerte der Pfarrer.

»Wir kneipen aus demselben, Stapfer,« rief Georg. Die Tante seufzte vernehmlich.

»Sie können das meine haben, ich trinke ja doch nicht mehr,« erklang Juttas Stimme.

»Aber Jutta!« mahnte die Tante.

Reinhart schnitt alle Erörterungen ab: »Ich nehme Ihr Anerbieten gerne an, Fräulein,« sagte er, und machte mit seinem Glas die Runde. Jutta trank er im besonderen zu und setzte sich in ihre Nähe. Sie gab ihm Auskunft über ihre Krankheit und ihr jetziges Befinden und er hing an ihren bleichen Lippen. Tante Lilly kehrte ihm in regelmäßigen Zwischenräumen das borstige Inselchen ihrer Oberlippe zu und blitzte dabei wie ein Gewitterchen aus den Augen. Sonst umfaßten ihre Blicke mit einer Art altjüngferlicher Verliebtheit das junge pfarrherrliche Ehepaar. Es war auch wirklich ein köstlicher Anblick. Der blonde Bart Schalchers strahlte Glück, Güte und Behagen aus, Minna war bezaubernd, selbst Reinhart sah manchmal verwundert nach ihrer Schönheit. Sie sah auf einem Teppich, in einem Kleid aus schwarzer Seide, das an Ärmeln, Hals und Brust, und wo sich sonst eine Gelegenheit oder ein Ansatz unaufdringlich bot, aufs Geschmackvollste mit Gold ausstaffiert war. Auf dem Kopf prangte ein Pariser Kunstwerk mit wallender weißer Straußenfeder. Sie hatte diese Sehenswürdigkeit nicht abgelegt aus Furcht, sie könnte auf dem Waldboden Schaden nehmen.

»Ist sie nicht entzückend?« flüsterte Jutta, der Reinharts Seitenblicke nicht entgangen waren. »Mir ist manchmal, sie sei eine andere, seit sie sich so fein kleidet. Mein Schwager hat einst gesagt, es sei mit den Menschen wie mit den Edelsteinen, sie müßten die rechte Fassung haben. Ist das nicht wahr gesprochen?«

»Die rechte Fassung haben auch Sie, Fräulein,« gab Reinhart ebenfalls im Flüsterton zurück. »Ich liebe Sie einfach gekleidet.« Das Wort »liebe« trat etwas unbescheiden aus dem Sätzchen hervor. Jutta errötete leicht, Tante Lilly war aufmerksam geworden und griff ein: »Aber, Jutta, wer wird denn in Gesellschaft flüstern! Ce n'est pas convenable.« Jutta wurde nun erst recht rot und entschuldigte sich. »Verzeih, Tantchen, ich habe Herrn Stapfer nur auf Minnas Kleid aufmerksam gemacht.«

»Sie ist wie eine Himmelsgöttin unter uns,« schwärmte der Pfarrer heidnisch und drückte Minna seine Lippen auf die Wange, was wegen des umfänglichen Hutes nicht ganz leicht war, aber doch aufs Erfreulichste gelang.

»Du würdest selbst auf dem Boulevard des Italiens manchem den Kehrhals geben, Miggel,« versicherte Georg, der in den Frühlingsferien sich Paris angesehen hatte. »Aber für eine Pfarrerin würde dich niemand halten,« fügte er verschmitzt lachend hinzu. Der Pfarrer holte seinen Sonntagvormittagston hervor: »Es gibt Leute, bei denen ein Glas schmutzig wird, sobald sie es an die Lippen setzen.« Georg lachte: »Gut gegeben, Schwager Herrgott! Prosit!«

»Was soll das alles heißen, ces demi-mots?« forschte die Tante.

»Wortgeplänkel, liebe Tante!«

»Ich wäre dafür, sich ein wenig zu ergehen,« brach der Pfarrer das ihm unangenehme Gespräch ab, »bis zum Aussichtspunkt ist es ein Viertelstündchen.«

Minna und die Tante stimmten freudig zu, aber es stellte sich ein Bedenken ein: »Unsere Sachen, die Körbchen, le tapis, sollen wir das alles mitschleppen? Ce ne serait pas commode, vraiment

»Ich bleibe hier,« bot sich Jutta an, »ich bin doch etwas müde.«

»Allein? wo denkst du hin?«

»Ich leiste gerne Gesellschaft,« versicherte Reinhart mit Verdacht erregender Geflissenheit. Die Tante schwankte, sie hätte sich gern in zwei Hälften geteilt. Sie durfte Jutta nicht wohl mit Reinhart allein lassen, fühlte jedoch auch das Bedürfnis, das junge Ehepaar zu behüten, wie sie das Brautpaar bemuttert hatte. Es fiel dabei gar manches Sensatiönchen ab, das ein altjüngferliches Herz in leise unschuldige Schauer versetzte und einen kleinen Ersatz für erlittene Entsagung gab. Sie wendete sich an Reinhart: »Wir dürfen Ihre Güte und Zeit nicht in solchem Maße in Anspruch nehmen, ich denke aber, Georg werde bei seiner Schwester bleiben, ou bien, Georges

»Selbstverständlich, Herzenstante!«

Der Pfarrer hatte Minna schon mit sich fortgezogen. Die Tante steuerte den beiden, halb vorwärts, halb rückwärts gewandt, nach.

»So wäre ich denn zum Sittlichkeitswachthund vorgerückt,« lachte Georg. Dann zu Reinhart gewandt: »Das gefällt mir an meinem Schwager, er hat Verständnis für die weiblichen Eitelkeiten und Gefallsüchte. Unser altes Haus bekommt durch ihn einen ganz neuen Verputz. Ist es dir nicht aufgefallen, daß selbst die Tante endlich einmal zu einer guten Schneiderin gegangen ist?«

»Spöttle doch nicht immer!« wies ihn Jutta zurecht. »Wir mißgönnen dir dein bißchen englischen Zuschnitt auch nicht.«

»Warum giftig werden, Juttchen? Dich trifft es ja gar nicht. Du gehst noch gekleidet wie ein besseres Fabrikmädchen. Das nennt der Vater standesgemäß.« Über Juttas Gesicht huschte ein Schatten. Georg tröstete sie: »Hättest auch gern ein schönes Kleid, gelt? Natürlich! Sollst du auch haben, Kätzchen! Sei gescheit und heirate einen schweren Geldsack.«

»Wie kann man seiner Schwester so raten!« wies ihn Reinhart zurecht, der einen Einwand gegen sich gehört hatte. Georg lachte ihm schelmisch ins Gesicht. Jutta sagte:

»Er spricht immer Unsinn!«

»Unsinn? wieso? Das war der Unsinn, daß man sich in unserem Hause immer für zu vornehm hielt, Geld zu haben. Ich mache diesen Unsinn immer noch mit, unfreiwillig, zum Teufel!«

Er sprang auf. »Ich geh für einen Augenblick zum Waldhaus hinunter. Seid schön brav, Kinderchen!« Er hob den Finger warnend in die Höhe und entfernte sich lachend.

Jutta sah ihm nach: »Er macht uns so viel Sorge. Ich glaube, er arbeitet gar nichts. Könnten Sie ihn nicht, wie soll ich sagen, etwas beeinflussen?«

»Ich sehe ihn fast nie.«

»Geht er denn nicht zur Universität?«

»Wohl mehr als ich,« erwiderte Reinhart bitter. »Ich gehe nämlich in die Fabrik statt zur Universität.«

Sie stutzte: »Wieso denn? Sie erschrecken mich! Erklären Sie sich!«

»Ich stehe die ganze Woche an einer Maschine.« Er hatte ihr noch nie davon gesprochen aus falscher Scham.

»Wie kann ein Herr wie Sie ...?« Sie war wie aus den Himmeln gefallen und warf einen Blick nach seinen Händen.

Er öffnete den Schrein, in den sein ganzes Jugendelend eingeschlossen war: die Härte und Allmacht des Vaters, sein Wille, der jeden andern erdrückte, seine unbewußte Selbstsucht, die Frau, Tochter, Sohn ohne Gewissensbisse opfern konnte.

Dann sprach Reinhart von dem Leben, das er träumte: in Gemeinschaft mit den guten Geistern aller Zeiten und Völker und, wenn der Speicher sich gefüllt hätte, das Schenken an alle, die hungriger Seele waren, ein Säen auf jede gute Scholle. Er sprach erregt, seine Augen funkelten ins Weite, sein Geist schritt schon wie ein Sämann über die Furchen. Jutta hörte ihm zu, erstaunt, ohne völlig zu begreifen, aber von der klagenden Junglebensnot ergriffen. Ihre Lippen bebten wie die seinen, ihre hellen Augen funkelten wie seine dunkeln, sie hätte ihm ihre Hände auf die heiße Stirn legen mögen. Ihr war, wie sie ihn anhörte, auch sie leide unter einer Gewaltherrschaft, auch ihr schlage man jeden Morgen die Flügel von den Schultern. Er hielt inne, jetzt war der Augenblick da, seine Liebe zu gestehen. Da stachen in sein Gefühls- und Stimmengewirr ihre Worte: »Ich will mit dem Schwager reden, er ist so klug, er weiß zu allem Rat.«

Reinhart fuhr auf. Es war ein Wasserstrahl in seine Glut gefahren. »Wie meinen Sie das?« fragte er wie aus einer andern Welt.

»Er hat vermocht, was Ihnen vorschwebt. Sein Geist ist im Höchsten und im Geringsten daheim, seine Speicher sind voll und er sät unter die Menschen freigebig aus, was darin ist, er versteht es, Gott und der Welt zu dienen. Sie sollten sich mit ihm befreunden. Er ist wirklich gut.«

Reinhart starrte sie an.

»Machen Sie nicht so traurige Augen,« begann sie wieder.

»Wir verstehen uns nicht. Ich habe mich wohl nicht klar ausgedrückt.«

»Oh, Sie haben sich sehr schön ausgedrückt. Ich höre Ihnen gerne zu, wenn Sie so schwärmen!«

Reinhart lächelte bitter: »Wir leben in einem kleinen Land und doch in ganz verschiedenen Welten!«

Sie verstand ihn: »Der Vater und noch mehr die Tante bauen Wände, aber mir ist immer, diese Wände seien nicht sehr fest. Der Schwager hat sie mühelos umgelegt. Lernen Sie von ihm.«

Er sah ihr in die Augen. Was sollte das heißen? Hieß es: Ich liebe dich? Hieß es aber nicht auch: Werde ein charakterloser Profitritter?

Sie forschte in seinen Zügen und sagte fast klagend: »Sie werden nie hoch kommen, Sie sind zu närrisch! vielleicht sind Sie anders, wenn ich wiederkomme.«

Er fuhr auf: »Was soll das heißen?«

»Ich gehe im Herbst nach England, ich soll doch eine gute Erziehung haben.«

»Und ich?« entfuhr es ihm. Er war aufgesprungen.

»Das ist es ja,« rief sie halb lachend, halb im Ernst, »man will mich vor Ihren Nachstellungen schützen. Vielleicht hält man Sie für gefährlich.« Es klang etwas wie Spott aus den Worten.

»Wie stehen Sie mit Ihrem Vetter de Luternau?« stieß Reinhart von Angst ergriffen hervor.

Sie zischte: »Gut steh ich mit ihm. Jagen Sie ihn doch aus dem Feld!« Auch sie stand jetzt auf den Füßen, aber unnahbar, in Kampfstellung, wie auf einen Angriff gefaßt. In seinen Armen bebte und drängte es, er fragte und flehte sie mit den Augen an. Plötzlich warf sie sich im Zorn auf den Boden: »Es ist ja entsetzlich! Wie können Sie Fabrikler sein!« Sie wälzte sich und rief: »Gehen Sie! Man kommt, gehen Sie!« Sie war auf einmal ganz außer sich. Er sah sie ratlos an.

Durch die Buchen ertönte die laute Stimme des Pfarrers, in die sich das diskantische Lachen Minnas und der Tante mischten. Jutta rief nochmals: »Gehen Sie, es gibt einen Auftritt!« Er stand wie gebannt da.

Seine Verlegenheit und Juttas Aufregung entgingen der Tante nicht, »Wo ist denn Georg? C'est vraiment un nigaud! Sie würden uns einen großen Dienst erweisen, Herr Stapfer, wenn Sie ihn suchten und herschickten.«

Reinhart verabschiedete sich so gefaßt und höflich als möglich. Dumpf wie in einem matten Traum stieg er zum Waldhaus hinunter und setzte sich. Eine Kellnerin trippelte heran und fragte nach seinem Begehr. Sie mußte ihre Frage wiederholen. Reinhart sah immer noch Jutta sich am Baden wälzen und starrte verständnislos auf sie.

»Der Herr sollten auch lustig sein, an einem so schönen Tag!« tat die Kellnerin neben ihm schön. Er sah sie verwundert an. Es war eine kleine, runde, rotbackige und offenbar lachlustige Person, verschieden von der bleichen, allezeit übernächtigen Stadtkellnerin. Schon war sie weg, am nächsten Tisch, bei einem Herrn, dem sie nicht zu sagen brauchte: »Der Herr sollten lustig sein!« Er war anscheinend sehr heiter veranlagt und legte ihr die Hand auf den Rücken, um darauf ein wenig zu trommeln, ganz selbstverständlich. Reinharts Blick ging verloren über die langen Tische hin, an denen die Städter und Städterinnen, alte und junge, vor vollen Schüsseln und halbgeleerten Flaschen saßen, schwitzend, kauend, trinkend, schnalzend. schwelgend, prustend, liebäugelnd, die Hüte abgeworfen oder in den Nacken geschoben, Hemd- und Blusenkragen gelockert, mit geröteten Gesichtern, Ellbogen an Ellbogen, Ess- und Trinkautomaten. Auf der Wiese unter den Bäumen spielten Kinder Ringelreihen, traumhaft, lebensunwirklich, wie eben vom Himmel gestiegen. Ein gemischter Chor aus einem Dorf schickte sich zum Gehen an und sang zum Abschied ein Waldlied. Der Dirigent, ein junger Lehrer, schwang den Taktstock mit heiligem Ernst und wippte bei jedem Takt gefühlvoll mit den Knien. »Das ist auch so ein junger Luftschnapper!« verhöhnte sich Reinhart in dem Lehrer. Kaum waren die Sänger abgezogen, als die schrillen Klänge einer Ziehharmonika ertönten. Zwei Pärchen hüpften auf dem Rasen dahin. Paula war dabei. »Also doch! Ja, warum denn nicht?« lachte Reinhart grimmig in sich hinein. Er stellte Paula neben Jutta, die er jetzt hassen konnte. Begriff sie denn nicht, daß er nicht sein konnte wie jener Schalcher? »Sie ist nach unfrei wie ein Kind.« Paula war kaum ein Jahr älter als sie und fragte längst keinem Teufel und Holzer mehr etwas nach. Er entdeckte Georg in der Nähe der Tanzenden an einen Baum gelehnt, auf dem Anstand wie ein Jäger. Paula wich ihm aus, als kennte sie ihn nicht. Endlich gab er es auf und wand sich durch die Tische und Bänke zu Reinhart hinüber, den er schon lange bemerkt haben mochte.

»Dummheiten gemacht? Sah dir's gleich an! Du reiner Tor! Aber was? Man darf dergleichen nicht herzbrecherisch nehmen. Nebenbei bemerkt bin ich wieder einmal auf dem Nullpunkt. Du verstehst! Verflucht le quatr d'heure de Rabelais und seine ewige Wiederkunft! Kannst du mir nicht mit etwas Gemünztem unter die Arme greifen? Danke, mein Freund. Ist es hier nicht großartig? So lob ich mir das Leben: Wein, Weib und Gesang, und jetzt zur Abwechslung ein Glas Bier und ein belegtes Brötchen, damit ich Gelegenheit habe, deinen Silberling zu münzen.«

Geierling tauchte auf. Er begrüßte Reinhart mit einer Handbewegung über die Köpfe weg und machte sich durch das Gedränge Bahn, selbstsicher, geschmeidig.

»Will mir das Leben auch mal ansehen!« rief er schon auf fünf Schritte. »Famose Gegend.« Er trug ein feines Spazierstöckchen in der Hand und im rechten Auge als Sonntagszierat ein Monokel, das ihm etwas Kritisches, Schlaues, Kniffiges verlieh. Geierling und Georg verstanden sich gleich. Nach zehn Minuten waren sie bei den Frauen angelangt.

»Jede Zeit hat ihren besonderen Frauenschlag.«

»Auch Männerschlag, natürlich.«

»Die Frauen bilden die Männer, die Männer die Frauen.«

»Was muß unsereiner denn sein, um Erfolg zu haben?«

»Sportsmann. Anzug nicht weniger wichtig als gute Wade.«

»Eine Fahrt in einem Luftballon oder mit einer Flugmaschine gibt zwei Radlängen Vorsprung.«

»Beteiligung an Pferderennen als Selbstreiter sehr imponierend. Bergsport zweiten Grades.«

»Flotte Erscheinung! Heißt es nicht so in den Inseraten?«

»Energisch.«

»Vielleicht ein bißchen brutal, ein bißchen sehr brutal!«

»Auf jeden Fall irgendwie erfolgreich, im Ballsaal, an der Börse, auf dem Sportplatz; Offiziere kommen durchwegs gut weg.«

»Nur keine Biedermeierei! Hörst du, Reinhart!«

»Keine Dämlichkeit!«

»Geld!«

»Viel Geld, selbstverständlich!«

»Besser erworben als ererbt.«

»Pardon! Besser ererbt als erworben!«

Die beiden lachten hell heraus über den endlich gefundenen Gegensatz.

»Sollte man nicht auch von der Bildung reden, Herr Stapfer?«

»Nebensache!« scherzte Georg leichtfertig.

»Oho,« verwahrte sich Geierling, »Bildung selbstverständlich wie Geld. Aber keinen Dunst, beileibe keinen Dunst, sondern technische und berufliche Ausbildung.«

»Darauf schauen doch die Weiber nicht!«

»Richtig, wir wollten doch von den Damen sprechen, was für eine Rasse haben wir uns denn gezüchtet?«

»Schlanke, geschmeidige Leiber, für den Ball oder den Tennisplatz, die Rodelbahn oder den Skilauf. Fest in den Knöcheln und Handgelenken.«

»Schick in der Kleidung.«

»Nach dem neuesten Journal, fast banal zu sagen.«

»Etwas halbweltlerisch. Sehr nötig, das zu sagen.«

»Etwas nervös und launenhaft, warum nicht?«

»Eitel, wir sind es ja selber auch.«

»Kostspielig, pikant.«

»Kokett, im Flirt erfahren.«

»Bildung? Ein bißchen Sprache, Schnitzer werden verziehen. Ein bißchen Schöngeisterei über moderne Bücher, über Kunstausstellungen, über Theater, von Ibsen bis Strindberg. Firnis, versteht sich.«

»Wenn möglich etwas Musik und Musikgeplauder, je nach Kräften.«

»Gesellschaftliche Formen für späteren Hausgebrauch erwünscht. Kräftigen Händedruck und zwar von oben nach unten.«

»Famos, famos!«

»In Abwesenheit der Mütter und Tanten burschikose Entgleisungen nicht ungern gesehen.«

»Aber Sie vergessen die Hauptsache, verehrter Herr! Das Eselein reck dich.«

»Schlanke Mädchen und korpulente Kassenschränke.«

Beide lachten, wobei es geschah, daß Geierlings Monokel den Halt verlor und auf dem Boden in Scherben ging. Er hatte offenbar noch zu wenig Übung.

Dieses kleine Mißgeschick erregte am Nachbartisch Gefühle der Genugtuung; Geierling war aber zu diplomatisch, um darauf zu achten, er schien in den Scherben seines Einglases geradezu eine Aufforderung zur Ausgelassenheit zu sehen. Er winkte die runde Kellnerin heran und bestellte die beste Flasche, die der Wirt im Keller hüte. Er war sehr aufgeräumt und stieß mit Reinhart an: »Auf das Wohl Ihrer Fräulein Schwester.«

Reinhart zögerte: »Küngold entspricht gar nicht Ihrem Idealbild.«

»Ach, Verehrtester, das war mal bloß Karikatur. Man unterscheidet doch zwischen Unterhaltung und Leben. Fräulein Küngold ist eine ganz ausgezeichnete junge Dame.«

Drüben fuhr Pfarrer Schalcher mit seinen drei Begleiterinnen im Zweispänner vorbei. Tante Lilly hielt ihre Lorgnette vor die Augen und musterte suchend das versammelte Volk. Georg bückte sich, als wäre ihm etwas unter den Tisch gefallen. Geierling geriet in Ekstase: »Zwei schneidige Mädels, was? Donnerwetter, wo hab ich doch die eine schon gesehen?« Der Wagen entschwand und Georg nahm wieder aufrechte Haltung an. Die beste Flasche tat sichtlich ihre Wirkung. Geierling geriet ins überlaute Sprechen und Prahlen. Man merkte bald, daß die Schweiz es für eine große Bevorzugung halten mußte, seine außergewöhnliche Person, wenn auch nur vorübergehend, zu beherbergen.

»Aber warum sind Sie denn in diese rückständige Elenderei gekommen?« fragte Reinhart verletzt.

Geierling platzte heraus: »Alles Plan! Ich bin hier auf Vorposten, ich bin Pionier des Deutschtums!«

»Wollen Sie uns denn erobern?«

Geierling lachte: »Keine Angst nicht, Verehrtester! Nicht mit Kanonen und Bajonetten! So dumm sind wir lange nicht! Wir wollen euch nur einkassieren. Der Schalter ist bei Basel.«

Reinhart sah ihn zornig an. Auch Georg war stutzig geworden. Geierling war vom Wein zu stark getrübt, um es zu merken. »Wir sind großartig am Werk,« fuhr er fort. »Regierung, Banken, Heer, Flotte, alles wirkt zusammen, eines unterstützt das andere. Das Leben flutet in tollem Rhythmus. Da heißt es: ›Bist du lebendig genug, um mitzumachen?‹ Und unser Auslandsheer nicht zu vergessen: Kaufleute, Techniker, rührige Intelligenzen, die modernen Conquistadores. Ist irgendwo auf der Welt ein kapitalarmes Land, eine im alten Schlendrian befangene Bevölkerung, ohne Unternehmungsgeist, ohne Großzügigkeit, na, Sie verstehen ja! Es ist eine Freude zu leben!«

»Und Sie bilden sich wohl ein, für uns müsse es eine Freude sein, zu ersticken?« fuhr Reinhart drein.

Geierling biß sich auf die Lippen. Er hatte gesprochen, wie er etwa zu Landsleuten sprach, und ärgerte sich nun darüber.

»Es wird Ihnen doch nicht schwül geworden sein?« lachte er. »Was sollte der rührige Schweizer zu fürchten haben? Wissen Sie was, ich telephoniere in die Stadt um ein Auto, in einer halben Stunde ist es da, dann fahren wir alle drei zurück und leeren eine Flasche Sekt. Ich lade die Herren ein. Gleich bin ich wieder da!«

Geierling verschwand in der Wirtschaft. Georg warf einen Blick zu den Bäumen hinüber: »Sie ist fort, sie hat mich zum Narren gehalten! Wart, Satan! Die Rache wird süß sein. Lang ist das Mühen, herrlich der Lohn!« Er erhob sich und ging suchend um die Tische herum. Reinhart beglich rasch seine Zeche und eilte davon, auf einem Fußweg, der durch den Wald nach der Stadt führte, auf dem Scheitel eines Höhenzuges. Die Sonne sank in die Waldkronen hinab und stach mit blendenden Goldnadeln durch das Laubwerk. Die Spaziergänger hatten sich verlaufen, es war still unter den Wipfeln, nur der Vogelgesang erwachte wieder in der Abendkühle. Reinhart stöhnte zuweilen auf wie unter einem heftigen Schmerz. Der in weiblichen Gefühls- und Gedankenlabyrinthen Unerfahrene begriff immer noch nicht recht, was drüben unter der Buche eigentlich vorgegangen war. Nur so viel war ihm klar, daß er sich täppisch benommen, vielleicht die Minute versäumt hatte. Er streckte seine Schritte, als könnte er so seinem Liebesverhängnis und -elend entfliehen. Oben auf der Höhe in einer Lichtung stand eine Bank. Jemand saß darauf. Reinhart war so in sich gekehrt, daß er die Gestalt erst sah, als sie sich erhob und ihn anrief: »Sind Sie so stolz oder so kurzsichtig, Herr Stapfer?« Es war Paula. Er stand unwillig still.

»Ich habe Sie erwartet, mir war, Sie müßten diesen Weg kommen,« sagte sie und trat an seine Seite. »Oder hab' ich Sie gar mit meinem Willen gezwungen?«

»Wozu mich erwarten?« zürnte er.

»Ich muß doch einen Kavalier haben durch den wildfinsteren Wald.«

Sie schritten durch Tannen, an deren Äste die Nacht ihre Fetzen hängte.

»Haben Sie meinen Brief nicht erhalten?« fragte er hart.

»Doch.«

»Und sind doch gekommen?«

»Ich bin kein Kind mehr, ich tue, was ich will.«

»Wie die Mücke, die um die Flamme tanzt.«

»Keine Sorge, mein Ritter!«

»Gut, wenn Sie Ihrer Sache so sicher sind!«

»Reden Sie nicht gar so schulmeisterlich! Warum soll man ein vornehmes Herrlein nicht ein wenig an seinem erhabenen Näslein herumführen. Das ist auch eine Art Klassenrache, vielleicht die lustigste!«

»Fassen Sie's so auf?«

»Sie meinen wohl, wir dächten nichts dabei, wenn wir andere im Auto oder im Zweispänner dahinjuchheien sehen, während wir im Schmutz waten? Im Schmutz, durch den Schmutz. Es ist grad so schön zu hassen, wie zu lieben. Man liebt ja auch immer etwas, wenn man haßt.«

Sie schritten schweigsam durch den fast dunkel gewordenen Wald. Sie begann wieder: »Sie denken natürlich schlecht von mir? Wie sollten Sie nicht!«

Reinhart erwartete einen Weiberangriff und wappnete sich: »Ich habe jetzt gar nicht an Sie gedacht.«

»Ich auch nicht an Sie, den Herrn Reinhart Stapfer Sohn in der berühmten Firma. Ich wartete auf den kleinen Reiner, mit dem ich mich im Garten der ›Seewarte‹ narrte, wo ich wohl wußte, daß es Reiche und Arme, nicht aber, daß es in dieser Welt keine Brücken gibt. Ich bin schon in viel Häßliches getreten zu Haus und sonst. Und wenn ich manchmal meinte, es sei nicht anders möglich, als daß ich im Schlamm versinke, wissen Sie, woran ich dachte? An den Garten der ›Seewarte‹! Der war mir einst das Paradies, und ich habe manchmal nach dem Eibenbusch geschrien, wie ein verlorener Geist nach der Seligkeit. Ich sah zwischen den Büschen oder an der Seemauer oder auf einem Baum einen Jungen in kurzen Hosen, mit sonnverbrannten Waden, mit dunklem Haar und dunkeln Augen, etwas linkisch, etwas wehrlos, etwas dumm, wenn man ihn neckte, und dann dachte ich: ›Warum geht es andern immer nach der Schnur und warum wurdest du aus jenem Paradies hinausgeschmissen? Warum?‹ Oh, dann kann ich hassen, hassen, hassen! Wissen Sie noch, wie es damals ein Ende nahm? Wie habe ich geweint! Ich sprang nach dem See und wollte übers Geländer. Ihr habt mich gehalten, du und David. Ich möchte jenen unterbrochenen Augenblick noch einmal erleben, zu Ende leben. Das ist mein alter Traum. Mir ist, nachher wäre mir alles heller. Seien wir wieder für eine Sekunde Kinder, Reiner. Hier ist die ›Seewarte‹, hier der Eibenbusch.«

So bettelte sie. Sie stand vor ihm, weich anschmiegend, ihm pochte das Herz im geängstigten Widerstreit. Ihre Erinnerung hatte ihn bewegt, er fand die Kraft nicht, sie hart fortzustoßen. Sie lebten jenen Augenblick im Garten zu Ende, sie waren wirklich wieder Kinder, ihre Lippen waren nicht kühner und begehrlicher, nur vielleicht etwas ausdauernder und geübter als damals. Sie schritten wortlos weiter, wie im Traum. Reinhart war nun anderswo, sie hatte ihren Arm um den seinen gelegt, er verwechselte ihn mit einem andern, sie war wie ein weicher reiner Wind, der ihm zur Seite strich. Sie traten aus dem Wald heraus, Gehöfte lagen vor ihnen, unten der See, auf dem der Mond schimmerte, und weiterhin die Stadt mit ihrem Lichtgeflimmer. Paula schleuderte seinen Arm von sich und sagte: »Aus der Traum! Ich weiß, daß du eine andere lieb hast. Ja, ja! Ich habe euch gesehen im Wald, wir gingen an euch vorüber, du hast uns nicht bemerkt, du hast gesprochen, wie eine Amsel singt. Es hat mir einen Augenblick das Herz gewürgt, aber dann haben wir getanzt. Sie hat dich nicht lieb, sonst hätte sie dich zu Boden gerannt!«

»Ich habe keinen guten Tag hinter mir,« sagte er vor sich hin.

»Vielleicht doch, man weiß das nie gleich,« entgegnete sie. Dann nach einer Pause: »Man meint, wie leicht es sei, daß sich zwei finden. Aber es ist nur leicht, so lange nichts Festes draus werden soll.« Er stand still und schaute im Mondlicht nach ihrem Gesicht: »Du hast viel gelitten?«

»Ach, ich lache dazu.«

Plötzlich fühlte er ihren Arm um seinen Hals und ihre Lippen auf seinem Mund, wild, krampfhaft, erstickend. Er wand sich los. Sie knirschte: »Zieh mich zu dir hinauf, oder ich zerr' dich hinunter!«

»Du bist eine Teufelin!« schrie er sie an.

»Ein Teufel oder ein Engel, meinetwegen!« Sie lief rasch von ihm weg. Er wußte nicht, lachte oder schluchzte sie so laut. Sollte er ihr nacheilen, wie man einer Ertrinkenden in den Fluß nachstürzt? »Zieh mich zu dir hinauf!« schrie es ihm in den Ohren nach, hinter ihm stand ein Lichtbild und bannte ihn.

Als er am folgenden Morgen erwachte, war ihm, er habe im Schlaf geküßt. Er sann nach. Es waren Juttas Augen, aber Paulas heiße Lippen gewesen. Die Post brachte ein Briefchen. Beim Öffnen fand er nur einen kleinen Zettel mit den Worten: »Offenb. Joh. III, 20.« Er schlug die Stelle nach und las: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet, so trete ich zu ihm hinein und halte das Mahl mit ihm und er mit mir.«


 << zurück weiter >>