Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

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Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Non serviam

Reinhart hatte das Krankenhaus schon seit mehreren Wochen verlassen und wurde allgemach wieder ins Getriebe der Fabrik hineingezogen, als er einen Brief von Jutta erhielt. Sie erklärte in der Einleitung, daß sie jede Gelegenheit benutze, der fremden Sprache mächtig zu werden und deshalb englisch schreibe. Offenbar wollte sie mit ihren rasch erworbenen Kenntnissen ein bißchen großtun. Der Brief hatte, wie es bei dem Ringen mit der Grammatik nicht anders sein konnte, etwas Kaltes, Leeres, Steifes. Reinhart legte ihn enttäuscht weg und warf dann in einem Zug sein ganzes, heißes Empfinden aufs Papier. Er sprach sie mit ›Du‹ an, er vermochte über Land und Meer hin freier mit ihr zu reden, als von Mund zu Mund. Er schrieb ihr von der Qual, die ihm ihr Verhalten im Wald bereitet hatte, auch von seiner Eifersucht auf Hans de Luternau. Auf diesen Erguß erschien nach etwa drei Wochen wieder ein englisches Aufsätzchen, in dem das Beachtenswerteste die Worte waren: »It is very amusing, that my cousin John de Luternau interests you so much.« Verstand sie denn kein Deutsch und keine Herzenssprache mehr? Reinhart konnte sich erst nach Wochen entschließen, auf die kleine Stilübung zu antworten. Auch seine Worte waren jetzt, da sie das beschwingende Echo nicht gefunden hatten, abgewogen, flügellos. So blieb es. Juttas Englisch wurde zwar von Brief zu Brief geschmeidiger, aber der Inhalt der eleganten Briefbogen blieb konventionell, wie von einem Zensor gestutzt. Reinhart mußte sich an das immer wiederkehrende »yours truly« halten, das er mit »in Treuen« in seine Gefühlssprache übersetzte. Das war dürftig genug.

Juttas Briefe folgten sich in immer größeren Zwischenräumen. Es stand fast nichts mehr darin als von Lawn Tennis, Kroquet, Runs aller Art und first class players. Manchmal war Reinhart so entmutigt, daß er beschloß, sich von Jutta loszuwinden. Aber es blieb immer beim Anlauf, wie ein Dämon, der alles Erden- und Himmelsglück verwaltet und verheißt und seinem Opfer täglich ins Ohr raunt: »Geduld! Es geht ohne Schmerzen nicht ab!« hauste die Liebe in ihm, ein Fatum, dem nicht zu entrinnen war. Einmal kam ein Brief aus Florenz und erzählte in unbeholfenem Italienisch die Meerfahrt von Greenwich nach Livorno. So stand es am Ende des zweiten Trennungsjahres.

Reinhart lebte nun verschlossen von einer Woche in die andere hinüber. Tagsüber arbeitete er seelenlos in der Fabrik, nachts vergrub er sich in Bücher und Hefte. Da konnte es geschehen, daß ihm war, die elektrische Birne glühe nicht auf seinem Tisch, sondern in seiner Brust, klar und warm. Aber in solche helle Stunden schlichen sich immer die Schatten seines Tagewerks. Es ging im Geschäft an der Oberfläche nach Recht und Gesetz zu, aber unter der biedern Hülle steckte, seit Geierling die Fäden hielt, oft etwas Häßliches, von der bewußten Schönfärberei bis zum leicht bemäntelten Kniff. Eines Tages bäumte sich Reinhart auf und weigerte sich, an solchen Machenschaften mitzuwirken, und nannte sie bei ihrem Namen, von da an besorgte Geierling alle heikleren Geschäfte. Ihm schien es Freude zu bereiten, der Gescheitere, Schlauere, Stärkere zu sein, wie er sich ausdrückte. »Man betreibt ein Geschäft, damit es klinge, Sentimentalitäten sind Luxus, bin ich gewandter als mein Geschäftsfreund« – er führte gern das Wort Geschäftsfreund im Munde – »um so schlimmer für ihn. Man ist unter Geschäftsfreunden nicht in einem Mädchenpensionat. Jede Sache, die man betreibt, betreibe man nach ihrer Logik.«

Reinhart hatte während seiner ganzen Schulzeit keine Stunde geschwänzt, jetzt kam es vor, daß er die Kopfschmerzen, die seit seinem Sturz vom Pferde öfter wiederkehrten, vorschützte, um nicht die verdorbene Bureauluft atmen zu müssen. Der Vater brummte: er solle sich mehr Bewegung geben, schwimmen, bergkraxeln, seit das Reiten nicht mehr gehe, statt halbe Nächte lang hinter den Schmökern zu modern. Die Mutter erriet seine Not und schwieg und trug mit.

An einem Samstagnachmittag wurde Reinhart telephonisch vom Vater in ein Hotel der Stadt gerufen. Er fand dort in einem kleinen Saal außer dem Vater Herrn Geierling, den Tuchhändler Schwegler, die Herren Gustau und Hermann Winkler, zwei politische Freunde Ferdinands, und den Notar Kobelt. Die Herren begrüßten Reinhart mit auffallender Förmlichkeit. Sie saßen an einem viereckigen Tisch, Ferdinand am obern Ende mit einem Aktenstoß vor sich. Er eröffnete die Verhandlungen mit einem kurzen erklärenden Wort, das er zum guten Teil an Reinhart richtete, alle andern schienen völlig eingeweiht zu sein. Reinhart erfuhr, daß er, ohne es zu ahnen, zu einer bedeutsamen Person, zum Mitglied einer Aktiengesellschaft vorgerückt sei. Das Haus Ferdinand Stapfer hatte sich in die Firma Stapfer, Geierling und Cie. verwandelt. Von dem Gründungsgeschäfte verstand Reinhart nicht viel, er war zu überrascht, um allen Einzelheiten zu folgen, er sann der bedeutsamen Tatsache nach, die ihren Ausdruck in den Worten Stapfer, Geierling und Cie. fand, und die sich in Reinharts Ohren in den Sinn verwandelten: Es muß schlecht stehen um uns. Auf Ferdinands Rede folgte eine kurze Diskussion, Erklärungen, Klauseln, Vorbehalte. Einmal wünschte der Tuchhändler Schwegler eine Auskunft. Es handelte sich um ein Patent für ein Färbeverfahren, von dem augenscheinlich außer Ferdinand und Geierling keiner etwas verstand. Geierling betrachtete die Spitze seines Bleistiftes, aber ein paarmal blitzten seine Augen seltsam nach Ferdinand, und er kratzte sich die leicht gerümpfte Nase. Zum Schluß allgemeine Zustimmung, durch Unterschriften befestigt. Alles schien einstudiert und entwickelte sich wie auf dem Theater, nur daß der Souffleur überflüssig war, da alle Spieler ihre Rolle genau kannten. Man erhob sich, stand in Grüppchen zusammen, plauderte, rieb sich die Hände, erzählte den neuesten Witz, lachte, zündete eine Zigarre an. Zwei Kellner erschienen, entfernten das grüne Tuch und ersetzten es durch ein weißes aus Damast. Es wurde ein kalter Imbiß aufgetragen, weiße und rote Weine. In einer Ecke des Zimmers blinkte der Champagnerkessel. Man setzte sich, man aß, stieß an, trank, wie froh über ein gutes Werk. Reinhart saß unten am Tisch neben dem Notar, der ihm ausführlich und mit allen wünschbaren Begründungen erklärte, sein Lieblingsgetränk sei Bordeaux mit Champagner gemischt, aber wenn das nicht zu haben sei, nehme er auch mit einem Glas Walliser oder Neuenburger fürlieb, bei Tisch aber trinke er einen ganz gewöhnlichen Seewein. Reinhart nickte, ohne ihm recht zuzuhören. Er betrachtete verstohlen bald seinen Vater, bald Geierling. Ferdinand war ernst, die Furche, die sich zwischen den Augenbrauen gegen die Nase senkte, war tiefer als sonst, er hörte mehr zu, als daß er sprach. Geierlings Stimme beherrschte den Tisch und dazwischen schallte sein helles Lachen, das in drei kurzen Stößen von gleicher Höhe hervorbrach. Als der Schaumwein eingeschenkt war, stand er auf und schlug mit der Messerklinge an das Glas, das matt klang. »Verehrte Herren,« sprach er, »es ist ein bedeutsamer Anlaß, den wir in dieser Stunde feiern, er hat etwas Symbolisches. Die kleine, aber geschäftstüchtige Schweiz hat im Kleinen einen Bund geschlossen mit dem mächtigen Deutschen Reich, als dessen Vertreter ich die Ehre habe, mich in gewissem Sinne in Ihrer Mitte zu betrachten. Wir sind unser nur wenige, wir bilden einen winzigen Kern, aber wir sind dennoch ein nicht zu unterschätzender Faktor, wenn wir zusammenhalten, denn wir besitzen alles, was zum Erfolg führt: Geld, Erfahrung, Energie. Und so werden wir einer Zukunft, die einen goldenen Klang ausschüttet, sicher sein. Ich lade Sie, verehrte Herren Mitgesellschafter, ein, auf das Gedeihen unseres kleinen deutsch-schweizerischen Bundes anzustoßen.«

Die meisten nahmen die Rede beifällig auf. Ferdinand wurde noch ernster, Reinhart fühlte sich in seinem Unabhängigkeitsstolz verletzt, und die ganze Abneigung, die sich in ihm in dreieinhalb Jahren gegen diesen kondensierten Geschäftsmann angesammelt hatte, ballte sich in seiner Kehle zusammen. Geierling machte anstoßend die Runde. Als er sich Reinhart näherte, faßte dieser sein Glas krampfhaft an, wie einst den Säbel bei einer Reiterattacke. Die Kelche stießen zusammen und beide gingen in Scherben. Es entstand ein allgemeines Aufsehen, auf allen Gesichtern stand Verlegenheit.

»Das heiß' ich einen Bund kräftig einläuten,« lachte Geierling.

»Jeder antwortet, wie er kann,« entgegnete Reinhart. Bald darauf ging er fort.

Draußen fielen Graupeln in dichten Schwaden, es war ein launischer Märztag, halb Frühling, halb Winter, die eine Hälfte des Himmels war blau, die andere mit grauem Gewölk verhängt. Reinhart schritt hastig dahin, die Augen wegen der Eiskörner, die ihm ins Gesicht flogen, halb geschlossen. Plötzlich fuhr ihm das Wort: »Non serviam« durch den Sinn, es sollte eine Absage an den Erdgeist sein, wie er in Geierling verkörpert war. »Non serviam! Non serviam«

Kaum war er in seinem Stübchen angelangt, als die Mutter Ulrike eintrat. Sie war in den letzten Jahren ganz weiß geworden und ging gebückt und immer sorgenvoll einher. Sie suchte sich ihren Weg mehr mit den Händen als mit den Augen, denn sie war nun fast blind. Um die Schultern hatte sie einen grauen gestrickten Schal geschlagen. Sie fröstelte fast immer, besonders in diesen Vorfrühlingstagen, wo die Öfen ruhten und die Sonne noch zu wenig Kraft ausgoß.

»Ich bin in einer großen Sorge und Ungewißheit,« begann sie. »Der Vater hat mir heute beim Fortgehen zwischen Schwelle und Treppe gesagt, unser Geschäft werde in eine Gesellschaft umgewandelt. Geierling trete ein.«

Reinhart gab ihr Auskunft, so gut er konnte.

»Und nun, was bedeutet das?« forschte sie. Reinhart sah wohl, daß sie sich die Antwort schon selber gegeben hatte und von ihm nur noch die Bestätigung erwartete. Er suchte ihr die Sache rosig darzustellen: »Ein moderner Betrieb verlangt sehr große Mittel, Mittel, die die unserigen übersteigen. Wir haben uns doch auf den Export eingestellt!« Das Wort Export kam zerkrümmt über seine Lippen.

Sie unterbrach ihn mit ihrer leidenden Stimme: »Das ist alles Deckmantel, Reinhart. Ich habe dem Vater schon lange angemerkt, daß ihn etwas drückt. Er geht nicht mehr so aufrecht und fest einher, er ist nicht mehr so geräuschvoll wie früher, sein Gepolter war mir manchmal lästig, aber es war ein Zeichen der Gesundheit, des Wohlergehens, der inneren Sicherheit.«

»Es ist eine Krisis, es kann wieder besser werden. Die Ausdehnung des Geschäfts auf das Ausland brachte Schwierigkeiten, man stieß mit der mächtigen fremden Industrie zusammen.«

»Wenn er sich nur entschließen könnte, von der Politik zurückzutreten!«

Reinhart zuckte die Achseln, er wußte, wie Ferdinand darüber dachte.

»Es ist mir auch angst wegen dieses Herrn Geierling,« fuhr die Mutter fort. »Ich sinne diesem Menschen tagelang nach. Wir geraten immer mehr in seine Hand, im Geschäft ist er längst besser zu Hause als der Vater – von dir nicht zu reden –, weil er nichts anderes kennt, als das Geschäft. Nun ist er ja auch Gesellschafter.«

»Nur mit ganz wenig Einlage.«

»Ist das gut oder schlimm?«

»Jedenfalls vorsichtig von ihm!«

»Du mußt– – – du solltest – – – ach Gott!« Sie machte den Satz nicht fertig, aber Reinhart verstand sie ganz wohl. »Du hast recht,« half er ihr, »aber ich kann nicht und ich will nicht! Non serviam!« Er stieß das Wort mit aller Leidenschaft hervor.

Die Mutter hatte nicht sein Lateinisch, aber sein »ich kann nicht und ich will nicht!« verstanden und sagte nach einigem Besinnen: »Du hast recht, jeder muß sich selber retten, dann sind alle gerettet. Geh in Gottes Namen deinen Weg, für Küngold und mich wird sich auch einer finden. Das arme Kind hat sich in Geierling verliebt, wunderlich genug, und der Vater betreibt sein Geschäft da wie überall. Bei ihr ist's eine Liebe wider Willen, wider das Gewissen, aber die ist gerade die unlenksamste. Armes Kind!«

Reinhart dachte an seine eigene Leidenschaft. War solche Liebe ein Familienverhängnis? Liebte die Mutter nicht auch so?

Frau Ulrike ging, sie entglitt durch die Türe wie ein greifbarer Seufzer.

Reinhart starrte ihr nach. Er dachte an jene Unterredung mit dem Vater im Eisenbahnwagen, wo ihm das Selbstopfer im Namen Küngolds und der Mutter abgefordert wurde. Wie anders hatte die Mutter jetzt gesprochen, als der Vater damals! »Jeder muß sich selber retten.« Er wußte, daß sie dieses selbstsüchtige Recht, das sie in eine Heilspflicht einkleidete, nur ihm einräumte, für sich selber aber niemals in Anspruch nehmen würde, und er war nicht im Zweifel, daß sein › non serviam‹ einstweilen nur ein Traum, ein Vorsatz und Protest sein konnte. Er mußte dienen, ihr, der guten, gebrochenen Dulderin.

Es klopfte kräftig an seine Zimmertüre und mit einem Froschhupf schwang sich Immergrün ins Zimmer. Die Schulkameraden hatten sich dreieinhalb Jahre nicht mehr gesehen. Immergrün hatte auf deutschen Universitäten studiert und war nicht einmal in den Ferien in die Vaterstadt zurückgekehrt. Er hatte seine Zeit ausgenützt.

»Ich bin fertig!« rief er, sich gewichtig auf einen Stuhl werfend. Das Wort klang mächtig und triumphierend durch seine geräumige Nase, dem Ton ähnlich, den Knaben aus ihren selbstgefertigten Waldhörnern stoßen. »Wie fertig?« erkundigte sich Reinhart.

»Ich habe mein Doktorexamen bestanden, nicht schlecht, ich kann dir's versichern. Ich bin als erster von unserer Klasse so weit. Ich habe aber auch geschuftet!«

»Wir haben es von dem zielbewußten Immergrün nicht anders erwartet,« erwiderte Reinhart teilnahmlos.

Immergrün suchte sein Gesicht in Würde zu kleiden und sagte gemessen und im Tone der Zurechtweisung: »Ich heiße, wie dir vielleicht bekannt ist, Oswald Wäspi. Du wirst nicht erwarten, daß ich den einfältigen Spitznamen aus der Pennalzeit durchs ganze Leben tragen wolle. Ich werde diese Etikette künftig als Beleidigung auffassen.«

Dies sagend, zog er ein Büchlein aus der Rocktasche: »Hier hast du meine Dissertation. Du wirst zwar nicht viel davon verstehen, sie behandelt ein wirtschaftliches Thema, aber nimm sie immerhin!«

»Was willst du jetzt beginnen?« fragte Reinhart, um etwas zu sagen. Das gespreizte Wesen des neubackenen Doktors der Rechte war ihm zuwider.

»Was ich will? Was ich immer wollte! Das Leben an den Rockschößen packen, ihm auf den Buckel springen, es niederzwingen. Das ist natürlich nur ein fades Bild Vorderhand werde ich Wegknecht, mein eigener Wegknecht. Ich muß mir meinen Weg zurecht machen. Meine erste Stufe ist die Journalistik.«

Wieder tat er einen Griff in seine Brusttasche. Diesmal zog er ein Zeitungsblatt hervor: »Hier ist ein Artikel von mir. Lies ihn gelegentlich. Er behandelt eine Frage von eminenter Wichtigkeit. Nebenbei bemerkt, ist es eine Affenschande, wie unser Parteiorgan redigiert wird. Der Redakteur Diggelmann ist eben ein alter fauler Knochen. Ich begreife nicht, daß dein Vater ihm so lange zusieht!«

Er machte eine Pause und setzte dann seinen wohlüberlegten Weg weiter: »Dein Vater, das ist ein rechter Politiker und Volksmann! Was kann man als Anfänger besseres tun, als sich ihm verschreiben?«

»Du willst also Parteimann werden?« warf Reinhart ein.

»Mann? Führer! Streiter für die gute Sache, für ein Ideal. Aber, was ich sagen wollte! Du könntest mir einen Dienst erweisen, einen großen Dienst! Mich bei deinem alten Herrn einführen, ich verehre ihn und werde ihm nützlich sein können. Er kann ja bei seiner Vielseitigkeit nicht alle Fragen wirtschaftlicher Natur genau studieren: da könnte ich ihm ... na! Sag', wann kann ich ihn aufsuchen? Du wirst ihm vorher einiges über mich mitteilen, nicht grad' das Schlimmste! Ihm vielleicht meine Dissertation und den Zeitungsartikel in die Hand spielen. Eine Gelegenheit, dir erkenntlich zu sein, wird sich finden! Also wann?«

»Komm morgen gegen elf Uhr,« sagte Reinhart mit Unbehagen.

»Abgemacht! – Vorhin sah ich im Garten deine Schwester,« fuhr Immergrün nach Erledigung des Geschäftlichen im Plauderton fort. »Hab' sie fast nicht wieder erkannt! Sie ist ganz hübsch geworden.«

»Nein, Küngold ist nicht hübsch, aber sie ist ein gescheites und liebes Mädchen.« Kaum hatte er dieses Lob ausgesprochen, als er es bereute. Er sprang ablenkend zu etwas anderem über: »Was weißt du von unserem Junker Georg?«

»Er war auch in Leipzig, Bierkaufmann und Schürzensammler. Ich bin ihm ausgewichen – wie überhaupt den lieben Landsleuten. Na, du verstehst! Also morgen um elf! Leb wohl!« Mit einem Hupf war er auf dem Gange, mit einem zweiten auf der Treppe.

Reinhart schlug ein Buch auf, aber er sah die Buchstaben nicht. Dieser Immergrün ging seinen Weg wie eine abgeschossene Kugel. Der hatte keine Fußschellen und Daumenschrauben. Und er, Reinhart, war ein Knecht, unfreier als der geringste Taglöhner! Man muß hart, grausam sein können, um seiner Überzeugung zu leben. Frei sein heißt selbstsüchtig, rücksichtslos, verschlagen sein. Nochmals überlegte Reinhart seinen Weg. Er sah nichts als Zwang und lachte bitter: › Non serviam!‹

Am folgenden Tag beim Mittagessen warf Ferdinand über den Tisch hin: »Ein fixer Bursche, dein Freund Dr. Wäspi! Der wird rasch klettern. Ist er auch zuverlässig?« »Du wirst ihn studieren müssen. Strebsam ist er mehr als nötig.«

»Ist Strebsamkeit in euerem Moralkodex ein Laster?« gab Ferdinand scharf zurück.

Küngold, um das fortwährend lauernde Feuer zurückzuhalten, scherzte: »Sicher ist, daß diesem Dr. Wäspi nie eine Lüge über die Lippen kommt.«

»Wie kannst du das beurteilen, Kind?« fragte der Vater, immer noch übel gelaunt.

»Er spricht doch alles aus der Nase!«

»Teufelskind!« lachte Ferdinand, und Herr Geierling, der zugegen war, klatschte leise in die Hände.

Küngold sah ihrem Verehrer mit zweifelndem Blick in die Augen und sagte: »Spräche jeder Glücksritter oder Profitjäger durch die Nase, so hätte man doch ein Erkennungszeichen und wüßte, wem zu trauen ist.«

»Was soll nun das wieder heißen?« rief Ferdinand.

Geierling verbarg einen Teil seines Gesichtes hinter dem mit Rotwein gefüllten Glas. Küngolds Gesicht wurde bleich.


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