Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

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Erster Teil

Erstes Kapitel

An der Schwelle des Lebens

Dichter Rauch strich durch den kleinen Saal und durchwob ihn mit bläulichem Licht. An drei langen Tischen, die zu einem Hufeisen zusammengerückt waren, saßen etwa vierzig junge Leute mit geröteten Gesichtern vor Biergläsern. Sie tranken sich geräuschvoll zu und klappten nach vollbrachtem Zug knallend mit den Deckeln der Gläser. Fast alle hatten Zigaretten im Mund und bliesen die Rauchballen selbstbewußt gegen die Decke oder dem Nachbar ins Gesicht.

Die Jünglinge feierten ihren Abgang vom Gymnasium. Die Professoren hatten sich entfernt, als der Uhrzeiger über die Zwölf hinausgeglitten war, und nachdem sie mit weiser Rücksichtnahme auf den Magen und den folgenden Tag die übliche Mehlsuppe in sich hineingelöffelt hatten. Eben war der ›Mops‹, der Spaßhafteste von ihnen, durch die Türe verschwunden. Er hatte trotz seiner sechzig Jahre die Biergemeinde mit etwas übertriebenem Jugendfeuer geleitet und vor dem Weggehen die Präsidialwürde dem Primus der Klasse, Karl Simmler, überbunden. In einer Ecke fing man an zu summen: »Wir wünschen eine Antrittsrede ...« und bald gröhlte das ganze Hufeisen die paar dürftigen Worte und Noten durcheinander. Karl Simmler rutschte hilflos auf seinem Stuhl hin und her. Was war zu machen? Er hatte sich ja nicht vorbereitet. Sein Maturitätsaufsatz fuhr ihm wie eine Erlösung durch den Sinn, der konnte helfen. Er schoß von seinem Stuhle auf und posaunte: »Das Leben ist der Güter höchstes nicht ...«

»So geh' hin und kauf' einen Strick!« rief ihm eine näselnde Stimme zu. Allgemeines Gelächter. Der Primus wurde schon fassungslos. Wut erfaßte ihn gegen die Lacher, denen er sich weit überlegen fühlte. Er setzte wieder an: »Das Leben ist der Güter höchstes nicht ...«

»Verkauft man's beim Meter oder Liter?« näselte es ihm wieder entgegen.

»Schiller will sagen...«

»Wir wollen dich hören, nicht Schiller!«

Nun gab er es auf: »Ich mache den Unsinn nicht mit,« schrie er und suchte mit den Augen den, der ihn lächerlich gemacht hatte. Er warf einen verächtlichen Blick auf sein Opfer oder seinen Richter und schleuderte ihm kurz zu: »Ich trete das Präsidium an Oswald Wäspi, vulgo Immergrün, ab.«

Auf der innern Seite des Hufeisens regte sich etwas Spatzenartiges, flatterte nach vorn und setzte in leichtem Flug über den Tisch an den Präsidialsitz. Karl Simmler hatte kaum Zeit, auf die Seite zu hüpfen. Immergrün sperrte nun seinen Spatzenschnabel weit auf: »Kommilitonen, ich werde euch die Ehre erweisen, über euch zu reden. Ihr erwartet von mir gewiß keine Verbindlichkeiten, ich will euch Aufrichtigkeiten auftischen! Wer seid ihr? Der Rektor hat in seiner Abschiedsrede gesagt, ihr seiet die Zukunft unseres Volkes. Das ging euch natürlich wie Süßöl ein, was? Armes Land, wenn ihr wirklich seine Zukunft seid ...«

Man unterbrach ihn. Er griff nach dem Schläger, der vor ihm lag, und hieb dröhnend und drohend auf den Tisch. »Silentium!« Die Vierzig fügten sich der Wucht dieses Hiebes und dem Biergesetz, und Immergrün fuhr fort: »Ihr seid eine possierliche Gesellschaft! Ihr kommt euch unbändig gescheidt vor, aber ich wette, es wird auch nicht einer von euch je einen eigenen Gedanken in die Welt sprechen. Ihr seid jetzt Idealisten oder meint es zu sein, aber in zehn Jahren werdet ihr euch soviel Philistertum angemästet oder angeheiratet haben, daß man mit euch die größte Lederhandlung errichten könnte. Nur still gehalten! Ihr seid jetzt Individualisten oder gar Persönlichkeiten! hm, hm! In zehn Jahren werdet ihr aussehen, als hätte euch der Spengler aus dem ihm eigenen Edelmetall herausgestanzt.«

Entrüstungsrufe und Beifallsgelächter wogten durcheinander. Immergrün schwamm nun in seinem Wortstrom: »Versteht mich recht! Ein paar Schablonen müßte der wackere Klempner schon aufbringen. Ich will euch einteilen! Ihr wißt oder wißt es auch nicht, wie es in einem Weinfaß aussieht. Zu oberst liegt eine ganz dünne Decke oder Schicht, ich glaube, man nennt sie Blume, Vortrefflich! Ha! Sieht man näher zu, so sind es Pilze, Schmarotzer, die natürlich nur deshalb zuoberst schwimmen, weil sie – so gewichtig sind. Darunter liegt die Hauptmasse, das wirklich Brauchbare und Geschätzte, das, was einen Preis hat, aber es soll, wie böse Zungen behaupten, gepanscht sein und zuweilen sogar faulig werden. Zu unterst endlich liegt die Hefe, ein ganz unedler, gemeiner Bodensatz. Doch halt! Man treibt daraus einen Geist, der feuert, wo er hinkommt, wird der Bodensatz aufgewühlt oder wühlt er sich selber auf, was vorkommen soll, so geht alles, was darüber ist, in die Wirrnis und Trübe. Und nun die Anwendung! Die Oberschicht wird unter euch am blauesten und blumigsten durch Georg von Homberg dargestellt. Seine Vorfahren waren wahrscheinlich Besitzer von niedlichen Raubritterburgen oder haben bei irgendeiner Gelegenheit dem Vaterland einen Strick gedreht und dafür von einem Krönchen den Freibrief erhalten ...«

In das Gelächter, das losbrach, knirschte das Wort »Schuft!« Immergrün achtete nicht darauf und näselte vergnüglich weiter: »was haben wir von unserem Ritter Georg zu erhoffen? Der Höhepunkt seiner Entwicklung – dieses Wort in Anführungszeichen – wird sein, daß er eine reiche und wenn möglich auch eine vornehme Heirat macht, vorher wird er ein wenig auf den Universitäten herumlottern und im Winter in Pontresina einen englischen Sportanzug an seinem höchstpersönlichen Kleiderständer zur Schau tragen. Ihr liebt diesen Ton nicht? wohlan, so lassen wir unsere Weinblume und wenden wir uns der Mittelschicht zu. Da ist noch größere Vorsicht geboten! Denn bei ihr thrönelt die Macht und das Ansehen, sie verleiht unserem Landesfaß wert und Gewicht. Fabrikanten, Kaufleute, Professoren, Ärzte, Juristen, Juristen schockweise, schwimmen darin, wahre Idealgestalten gibt's in dieser Flüssigkeit. Ich kenne ein echt schweizerisches Exemplar dieser Art, der Mann ist von Beruf Fabrikant, daneben Stadtrat, Kantonsrat, Nationalrat, eidgenössischer Oberst, sitzt im Verwaltungsrat von soundso viel Bahnen und Banken, könnte jeden Augenblick Regierungsrat werden, wenn er nur wollte, er ist eine Zierde der Klopffechterzunft zum ›Weberbaum‹, Ehrenmitglied des kantonalen Turnvereins, des städtischen Leierbundes, vielleicht auch Ehrenpräsident des Hebammenvereins ...«

Während Immergrün so sprach, wendeten sich alle Blicke auf einen dunkelhaarigen Jüngling, dessen etwas blasses Gesicht immer röter wurde, bis es ganz mit Purpur übergossen war. Der Primus Karl Simmler, der froh war, daß sich die freche Zunge Immergrüns an einem andern wetzte, rief, was durchaus überflüssig war: »Das geht auf dich, Reinhart Stapfer!«

Der Angeredete erhob sich langsam und stemmte die vor Erregung leicht zitternden Hände auf den Tisch: »Der Mond wird nicht kleiner und bleicher, wenn ihn ein gewisses Tier ankläfft.«

Immergrün war nicht empfindlich. »So tragisch nimmst du den Scherz?« lachte er zu Reinhart hinüber. »Ich schone mich selber ja auch nicht. Ich versetze mich in die Hefe. Mein Vater ist Schulabwart, ihr wißt's! Damit kann man sich keinen Pfauenschwanz anhängen. Er gehört zum arbeitenden Volk, zu denen, die das Joch auf dem Nacken tragen. Aber ich geb' euch mein Ehrenwort, daß ich, sein Sohn, nicht in der Hefe verfaulen werde! Ihr habt mich sieben Jahre lang über die Achsel angesehen, hättet ihr meine Zunge nicht wie ein Schwert gefürchtet, ihr hättet mir die Haut über die Ohren gezogen. Einmal wird die Stunde schlagen, da ich euch aufs Haupt spucke. Ich bin fürs alte Testament!« Er stieß das drohend durch die Nase und reckte seine kleine Gestalt, als gelte es jetzt schon den Kameraden den versprochenen Segen zu spenden. Man fühlte, daß er seinen geheimsten Gedanken ausgesprochen hatte. Gleich besann er sich und fuhr lachend fort: »Fast hätte ich mich vermessen, mich als vornehmste Karte auszuspielen. Ich übersah aber unsere beiden Bauernsprossen. Sie würde ich heute auf den Ehrenplatz verweisen, wenn sie in ihren verfluchten Holzpfeifen etwas besseren Knaster verbrennten und nicht dasäßen, als wären sie aus Holz geschnitzt. Aber das ist es gerade. Die Bauern sind die Dauben an unserem Landesfaß, sie sind zu unterst und zu oberst und man muß sie gelten lassen, wie sie sind. Und nun will ich zum Schluß meine Gedanken etwas in die Höhe richten. Unser lieber Primus wollte vom Wert des Lebens reden. Wollte! Man merkte, wo er mit seinen ureigensten Gedanken – hm! hm! – hinauswollte. Das Leben sollte um irgendeines Götzen willen heruntergezerrt werden. Ich aber sage: das ist entweder Unverstand oder Heuchelei. Wer nicht auf beiden Augen blind ist, sieht ein, daß das Leben der Güter höchstes ist, fraglos. Es erhält freilich seinen Preis erst durch den Zweck, und dieser Zweck ist die Herrschaft. Ja, ja, glotzt nur! Zum Herrschen ist der Mensch in die Natur, in die Welt gestellt. Überlegt's euch. Andere Gedanken werden euch ja in nächster Zeit, der schönen Mauleselzeit, nicht quälen. Damit habe ich mein Programm aufgedeckt. Wir wollen in zwanzig Jahren wieder darüber reden. Jetzt aber soll uns Stapfer enthüllen, was er vom Leben hält, Stapfer, unser Philoso–o–oph!«

Er setzte sich und sah herausfordernd zu Reinhart Stapfer hinüber. Der regte sich aber nicht. »Wollt ihr ihm die Rede erlassen?« fragte Immergrün in die Runde.

»Natürlich nicht!« rief der Chor der vom Alkohol leicht umnebelten Zecher. Man drängte Reinhart, bis er sich erhob.

»Ich wollte, ich wäre meiner Sache so sicher wie Oswald Wäspi,« begann er. »Vor fünf, sechs Jahren war ich es vielleicht, da war mir das Leben eine Selbstverständlichkeit wie Sonnenschein und Nachtdunkel. Jetzt kommt es mir wie ein Geheimnis, ein Mysterium vor. Ich habe es in den letzten Jahren immer weniger begriffen. Meine Hoffnung ist jetzt die Hochschule. Soll ich euch meinen jetzigen Zustand schildern? Mir ist zumute wie einem Blinden vor der Operation, die ihm das Augenlicht geben soll. Er sitzt im Dunkeln, aber er fühlt, daß sich etwas Bedeutsames um ihn vorbereitet. Er weiß es: ihn überflutet das, was man Licht nennt, und Farbe und Glanz und Heiterkeit. Es muß etwas Hohes, Herrliches, Freudvolles sein, eine Speise der Seele und ein Trunk des Verlangens. Ein Riß durch einen Vorhang, ein Blick in alle Weiten und Tiefen, in die Sterne, den Mond und die Sonne. Jedes Rätsel wird gelöst, hinter jeder Frage steht die Antwort, hinter jedem ›Warum‹ das ›Deshalb‹. Er ahnt es: im ganzen und im einzelnen wird alles anders ausfallen, als er es sich vorstellte, aber herrlich, herrlich wird es immer sein.«

Reinhart setzte sich, sichtlich verlegen, er schämte sich, ein Stück seines Innern, seiner Geistesform verraten zu haben. Immergrün rief ihm zu: »Wünsch' Glück zu der Operation! Ich suchte mir eine Ärztin!« Man lachte. Immergrün ließ wieder seinen Schläger dröhnen: »Nun wollen wir noch hören, was unsere Weinblume vom Leben denkt. Georg von Homberg soll reden!«

Georg hatte, seit er von Immergrün angegriffen worden war, häufiger das Glas angesetzt, als er es vertrug, und stotterte nun mit seiner trunkenen Zunge kläglich und ohne sich zu erheben: »Es ist mir jetzt nicht ums – – Reden, es ist mir eher ums – – Speien. Kommen Sie nur in meine Nähe, Herr Wäspi.«

Unbändiges Gegröhle löste die kurze Rede ab. Immergrün suchte sich nochmals Gehör zu verschaffen: »Sagt da ein angehender Student noch ›speien‹ wie in der Kinderstube!« Niemand hörte auf ihn. Georg von Homberg lallte über den Tisch Reinhart zu: »Bring' mich nach Hause!« Reinhart schob ihn unbemerkt aus dem Saal.

Die beiden schritten langsam die einsame Straße hinab, dem untern Teil der Stadt zu. Herbstnebel strich kühl vom See herauf und spann sein Netz um die Straßenlaternen, die in ihrem Dunstkreis zu frösteln schienen. Georg war nun zum Singen aufgelegt und gab seinen Gedanken in allen ihm möglichen Höhenlagen Ausdruck: »Er ist ein Saukerl, er ist ein Saukerl!« Reinhart hatte den Arm um ihn gelegt und brachte ihn mit Anstrengung vorwärts. Auf der Brücke, die die Flußmündung überspannte, drängte sich Georg zum Geländer und neigte sich hinaus. Dabei fiel ihm der Hut ins Wasser und wurde rasch unter der Brücke weggeschwemmt. »Spring ihm nach,« bat Georg Reinhart, und als dieser für das Ansinnen nur ein lustiges Lachen hatte, wurde er unsagbar traurig und klagte: »Er ist nagelneu, Pariser Fabrikat, was wird der Vater sagen?«

In diesem Augenblicke erschallte hinter ihnen Immergrüns spöttische Stimme: »Will das Rößlein nicht mehr, Ritter Georg? A propos! Vorhin hörte ich ein seltsames Schluchzen. Solltest du vielleicht ge–spie–en haben? Nimm dich in acht! Siehst du dort drüben nichts im Nebel? Ein Polizist ist's! Und nun gute Heimfahrt dem Ritter Georg und seinem Roßknecht!« Georg fing wieder zu singen an: »Er ist ein Saukerl.« Immergrün schritt eilig weiter, und seine gedrungene Spatzengestalt schien im Nebel unheimlich zu wachsen. Reinhart hörte, wie er dem Polizisten zurief: »Dort drüben stehen zwei Trunkenbolde, nehmen Sie sich ihrer gütigst an!«

Reinhart umfaßte Georgs Arm und zog den Widerstrebenden mit sich.

Georg von Homberg wohnte in einem alten, einfachen Patrizierhause, an einer stillen, vom Verkehr fast unberührten Gasse. Durch ein kunstvoll geschmiedetes Tor trat man in einen Garten von mäßigem Umfang, unter die Kronen einer Blutbuche und einiger Weimutskiefern, hinter denen sich das Haus vornehm versteckt hielt. An der Haustüre angelangt, stand Georg still und stöberte in seinen Taschen. »Der Teufel hat die Hand im Spiel! Ich habe den Hausschlüssel vergessen,« klagte er, »ich muß läuten, und dann wird der Alte' erwachen. Da ist er schon!« Man hörte einen Schlüssel sich im Schloß schüchtern drehen, und dann öffnete sich die Türe mit einem ächzenden Knarren, das in der stillen Nacht wie ein Kelterbaum dröhnte. Georg, den bei dem Hall die Kraft vollständig verließ, sank auf den obersten Tritt der Vortreppe nieder, entschlossen, das Ungemach über sich ergehen zu lassen. Eine Kerze wurde von einer schlanken Hand durch die Türöffnung geschoben und darüber guckte ein Mädchenkopf behutsam ins Freie, vom Lichtglanz übersprüht. Das blonde Haar glänzte wie eine Krone aus schwerem Gold.

»Was ist dir, Georg?« rief das Mädchen mit gedämpfter Stimme, und als es Reinhart erblickte: »Was ist ihm? Sind Sie ein Arzt?«

Reinhart lächelte nicht einmal über den Irrtum, er schaute nach den hellen Augen des Mädchens, die in großer Angst zitterten, und sagte halblaut: »Ich bin Georgs Kamerad, Reinhart Stapfer. Es fehlt ihm weiter nichts.«

»Ist er betrunken? Du mein Gott! Wenn's nur der Vater und die Tante nicht merken!« Sie stand in einem gelben Gummimantel auf dem Treppenabsatz und beugte sich überschlank wie ein Schilfrohr über Georg. »Steh auf und komm ins Haus, Brüderlein! Zum Glück sah ich, daß du den Schlüssel vergessen hattest und habe gewartet.«

Reinhart versuchte, seinem Kameraden auf die Füße zu helfen. Umsonst. Da brach aus dem Mädchen ein helles, schelmisches Lachen hervor. Georg nahm es krumm und begann zu schimpfen.

»Red' nicht so laut,« flüsterte die Schwester, obgleich sie selber ein schlechtes Beispiel gegeben hatte, »der Vater hört's!« Georg raffte seine Stimme zusammen: »Das ist mir egal. Ich hab' heute die Ehre des Hauses verteidigt. Gelt, Stapfer? Aber der Immergrün ist ein Saukerl! Der hat keine Ehre!« Er stand jetzt auf den Füßen und wies auf die Schwester: »Das da ist die Jutta, ein Nichtsnutz! Sie hat mir neulich Zigaretten stibitzt.«

»Glauben Sie's nicht, Herr Stapfer!« rief das Mädchen, ganz rot geworden.

Im Hausflur vernahm man schlürfende Schritte. Das Mädchen erbleichte: »Der Vater!« Georg versuchte sich mannhaft zu stellen.

Ein hagerer Herr mit weißem Backenbart und sonst glattrasiertem Gesicht stelzte auf die Schwelle, band sich die Schnur des Schlafrockes fester und musterte Georg, der sich gleich keck zu verteidigen begann: »Da bin ich, Vater. Ich habe die Ehre unseres Hauses verteidigt, der Immergrün, du weißt, der Schweinekerl, hat sie versauen wollen.«

»Drück' dich anständig aus!« tadelte der Vater, ohne die Stimme zu erheben.

»Ich habe den Stapfer da mitgenommen, damit er dir sagen kann, wie ich die Ehre...«

»Schon gut,« unterbrach ihn der Vater mit vollkommener Ruhe und Würde. »Geh zu Bett, wir reden morgen wieder.«

»Sind sie der Sohn des Obersten Stapfer?« Reinhart bejahte es. Über das Gesicht des Alten ging ein seltsames, nervöses Zucken. »Sie haben Georg nach Hause gebracht. Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet. Schlafen Sie wohl!«

»Bin ich auch berauscht?« fragte sich Reinhart, als er davonschritt. »Ich habe vier Glas getrunken in der langen Zeit, soviel erträgt ein Mensch doch?« Er näherte sich einer Laterne und unternahm es, hart an der Kante des Randsteines zu gehen. Trat er über den Rand hinaus, so wollte er das als Beweis seiner Trunkenheit ansehen. Aber die Füße gingen sicher, ihm war, er hätte auf einer Säbelschneide gehen können. Nur die Brust war trunken.

»Wie sie gewachsen ist,« lachte er nach langem brütendem Schreiten seltsam vor sich hin. »Wie lange ist's nun her? Im Frühling waren es drei Jahre.« Daß sie so gewachsen war, schien ihm ein ungeheures Glück und Wunder.

Es war auf einem Kinderball gewesen, beim Frühlingsfest. Sie war als kleine Rokokodame verkleidet gewesen. Wie aus Porzellan gekünstelt sah sie aus, alle bewunderten sie. Sie zum Tanz zu bitten, hatte Reinhart nicht gewagt, sie hielt sich immer an ihren Bruder Georg und ihre vornehmen Vettern Konrad und Hans Eschenbach. Seither war sie sein Traum. Er hatte sie nie mehr gesehen, er wußte aber von Georg, den er manchmal unauffällig ausforschte, daß sie vor kurzem aus dem Welschland heimgekehrt war. »Wer hat so lange Wimpern?« fuhr er in seinem Sinnen fort, »dunkel, und doch ist sie blond.« Und wieder mußte er lachen. Lange und planlos trug er sein Erstaunen durch die leeren Gassen. Fern, wie ein gedämpfter Ruf aus dem Nebel, schlug eine Turmuhr an und gleich dröhnten über Reinhart zwei wuchtige Schläge, als hätte die Glocke oben nur auf das Zeichen aus dem Nebel gewartet. »Zwei Uhr!« sagte er sich, »so spät bin ich noch nie nach Hause gegangen, wir sind eben jetzt frei, frei, frei!« Er dehnte die Brust. Aber gleich wurde er nachdenklich: »Frei, und der erste Gebrauch, den wir von unserer Freiheit machten, war, uns zu betrinken. Aber sonst hätte ich sie ja nicht gesehen!« Er hätte tanzen mögen und schritt rasch seinem Vaterhause zu, das in einem großen Garten am See lag. In einem Fenster war noch Licht. »Die Mutter ist noch wach,« dachte er, halb erfreut, halb mißmutig. Er trat in ihr Zimmer. Sie warf einen raschen Blick auf ihn und schien mit seiner Haltung nicht unzufrieden zu sein. »Wir sind beide spät,« versuchte Reinhart zu scherzen, »du hast doch nicht auf mich gewartet?«

»Doch, aber das hat nichts zu sagen, wir können ja einmal lang genug schlafen.« Dann rasch den Ton wechselnd: »Es ist ein Brief vom Vater da, er kommt erst morgen abend. Er läßt dir sagen, du sollest nach dem Golsterhof gehen und nach dem Großvater sehen. Setz' dich doch, es ist mir ums Plaudern. Ich habe es wie die Katzen: je später die Nacht, desto wacher werde ich.« Sie legte die Brille, die sie trug, weg.

»Es ist heut ein Einschnitt,« begann sie, »ich werde hier auf meinem Stuhl sitzen bleiben, du wirst deinen Weg gehen und, wer weiß, wie weit wir schon in ein paar Jahren auseinander sind. Auch Küngold wird mich bald verlassen, ist ein Mädchen achtzehn, so beginnen ihm Flügel zu wachsen. Dann werde ich ganz einsam sein.« »Sprich nicht so!« rief Reinhart beklommen.

»Ich klage natürlich nicht,« fuhr sie weiter, »mein Los ist das aller Mütter, wir haben's wie die Bäume, wir treiben Laub, aber eines Tages weht es uns der Wind weg. Doch ich wollte nicht von mir, sondern von dir reden, wohin wird dich der Wind treiben? Du wirst es nicht leicht haben. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Du hast ein Vorbild in unserem Hause, wie bequem wäre es für uns alle, wenn du ihm einfach nachwachsen könntest. Aber das darfst du und kannst du nicht! Du bist kein Stapfer, du bist ein Landert, wie ich eine Landert bin. Bei ihm siehst du nie einen Schritt oder einen Blick ins Leere, da ist immer ein Ziel und ein Zweck, bei uns geht mancher Blick nebenaus ins Blaue oder Ziellose. Er hat das Auge nach außen, wir nach innen. Er besitzt die Kraft, nach allen Seiten richtig auszugreifen, und überall stellt er seinen Mann. So weit reicht deine Spanne nicht. Beschränke dich auf eins und, wenn ich dir raten darf, laß dieses eine nicht die Politik sein.«

Sie hielt inne, sie war wie verlegen geworden, als hätte sie zuviel oder etwas Unrechtes gesagt. Reinhart entgegnete rasch: »Aber es muß sie doch jemand machen, die verfluchte Politik!« Er sprach das nicht, weil ihn eine innere Neigung zur Politik gestoßen hätte, sondern weil er meinte, einen Schild über den Vater halten zu müssen, wie schon einmal in dieser Nacht.

»Du verstehst mich falsch,« entgegnete die Mutter. »wenn dein Vater Politik treibt, so tut er es, weil er nicht anders kann, weil die Politik sein Fahrwasser, sein Strom ist. Aber du! Wie unglücklich würdest du in diesem Wasser herumpatschen! Wie ärgerst du dich, wenn er in den Zeitungen verunglimpft wird! Was tut er? Er lacht darüber und bleibt aufrecht und gesund.«

Reinhart schwieg. Sie fuhr nach einer Weile weiter: »Das ganze Leben hängt von dem weg ab, auf den wir im entscheidenden Augenblick den Fuß setzen.« Und dann fast wie aus einem Traum gesprochen: »Die Söhne müssen von den Vätern weg. Nun geh und schlaf über dem, was ich dir gesagt habe.«

Reinhart küßte sie und ging. Als er die Türe hinter sich zuzog, sah er, wie sie ihm vorgebeugt nachschaute und, als sie bei ihrer Kurzsichtigkeit meinte, er sei verschwunden, wie gebrochen in sich zusammensank. »Warum muß das so sein?« stöhnte er in sich hinein. Aber bald wurde das Bild der Mutter durch das Juttas auf die Seite geschoben. Die ganze Nacht wurde Reinhart durchwühlt wie ein Brachfeld, das von der Pflugschar aufgerissen und unter Schmerzen für ein neues Leben und eine künftige Ernte bereitet wird.


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