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Zwanzigstes Kapitel.
Gefunden!


Es war in der zweiten Hälfte des Mais; seit acht Tagen waren die Reisenden wieder daheim, und Mr. Howard war noch immer Gast in Krokengaard. Es schien ihm am Hardanger Fjord so gut zu gefallen, daß er gar kein Verlangen trug, andere Gegenden Norwegens kennen zu lernen. Er fiel niemand lästig, denn er war immer vollauf beschäftigt; bald ging er auf die Jagd, bald saß er stundenlang und angelte oder zeichnete, bald war er im Arbeitszimmer ganz in das Studium von Büchern und Zeitungen vertieft, aber er war immer wieder da und völlig in das Leben des Hauses eingefügt. Herr Holmböe und Sigrid behandelten ihn ganz wie einen lieben nahen Verwandten; Ingeborg bewunderte ihn als das Muster eines echten Gentleman, auch Frau Lundholm hatte Worte des Lobes für ihn, und Arved war sein guter Freund; nur Frida konnte kein Herz für ihn fassen. Sie verzieh es ihm nicht, daß er sich zwei Monate gar nicht um ihre Ilse gekümmert hatte und es sichtlich vermied, von ihr zu sprechen; und wenn sie auch nicht leugnen konnte, daß er sehr liebenswürdig sei und höchst interessant zu erzählen wisse, so blieb ihr sein ganzes Wesen doch fremd, und die echt englische Ritterlichkeit, mit der er z. B. jedesmal aufstand, um die Tür zu öffnen, wenn eine der Damen das Zimmer verlassen wollte, setzte sie in Verlegenheit.

Eines Tages trat er mit einem Blatt in der Hand unter die Vorhalle, wo die beiden Mädchen saßen. »Es ist zu Ende,« sagte er sehr betrübt, »ich muß fort.«

»Fort?!« rief Sigrid betroffen, »wohin?«

»Nach Hause, Miß Svendson; meine Großmutter ist aufs neue erkrankt, und der Arzt fürchtet ernstlich für ihr Leben. Dieses unbarmherzige Telegramm setzt dem paradiesischen Leben, das ich hier führte, ein Ziel. Der Dampfer aus Bergen kommt heute nachmittag vorüber – dann muß ich Ihnen Lebewohl sagen.«

»So schnell, so unvermutet!« sagte Sigrid mit leise bebenden Lippen. »Wir haben noch kaum angefangen, uns mit Ihnen – wir hätten Ihnen noch so vieles zu zeigen gehabt ...«

»Machen Sie mir die saure Pflicht nicht noch schwerer, Miß Sigrid,« bat er seufzend, »ich darf meine Großmutter nicht vergebens auf mich warten lassen. Aber wenn Sie und Herr Holmböe es erlauben, so komme ich wieder, sobald ich kann.«

»Ihr Wort darauf, Mr. Howard,« erwiderte sie und reichte ihm die Hand, die er herzhaft schüttelte. Frida hatte gar nicht gesprochen, und die beiden achteten auch nicht auf sie; ihre Blicke schienen sich noch mehr zu sagen als ihre Lippen.

Onkel Nils war aufrichtig betrübt, den lieben Hausgenossen zu verlieren, und er mußte ihm ebenfalls ein baldiges Wiederkommen versprechen. Sigrid ließ es sich nicht nehmen, den Gast bis zum Dampfboote zu begleiten; sie schickte sogar Lars nach Hause und führte selbst das Ruder. Aber wenn Frida erwartet hatte, sie bei ihrer Rückkehr still und traurig zu finden, so hatte sie sich geirrt; es lag ein wunderbarer Glanz in den großen Augen, ihre hohe Gestalt bewegte sich wie auf Flügeln, und abgerissene Töne einer heiteren Weise drangen zuweilen zwischen den lächelnden Lippen hervor. Was hatte das zu bedeuten?

Abends, als Frida schon zur Ruhe gegangen war, öffnete sich die Tür; Sigrid trat ein und setzte sich auf den Rand ihres Bettes. »Ich kann noch nicht schlafen,« sagte sie in einem Ton, aus dem es wie verhaltener Jubel klang, »mein Herz ist zu voll, einem muß ich es sagen, was mir Hohes, Großes widerfahren ist. Frida, er hat mir gesagt, daß er mich liebe – ich habe mich mit ihm verlobt!«

Die andere fuhr aus den Kissen aus und starrte sie erschrocken an. »Mit Arved?« fragte sie zitternd.

»Närrchen!« erwiderte Sigrid mit mitleidigem Lächeln, »immer noch die alte Torheit? Mit Archibald Howard.«

»Ach Sigrid, Sigrid,« jammerte die Kleine, »wie bringst du es übers Herz, Arved das anzutun?«

»O über das törichte Kind! Arved hat mich nie begehrt; ich kann ihn ohne Gewissensbisse gern und freudig einer andern überlassen. Trockne die dummen Tränen, Frida, und wünsche mir Glück – ich hätte nie geglaubt, daß ich ohne Olaf so glücklich werden könnte! Aber mein Olaf hat ihn mir geschickt, er ist sein Vermächtnis – das macht ihn mir doppelt teuer!«

Frida konnte die ganze Nacht kein Auge zutun; sie mußte immerfort an Arved Lundholm und Ilse denken – was würden die beiden zu dieser Verlobung sagen? Am andern Morgen, als Sigrid zu ihrem Großvater hineinging, um ihm das Geschehene mitzuteilen – denn ihr hoher, stolzer Sinn verschmähte jedes Geheimnis –, eilte Frida hinaus auf den Weg, der nach Ulvik führte. Vielleicht konnte sie Arved allein sprechen und ihn schonend auf das vorbereiten, was ihm bevorstand. Sie lief immer weiter, bis ihr die heißen Sonnenstrahlen fast die Stirn versengten und ihr der Atem versagte. Dann setzte sie sich auf einen Stein und schaute sehnsüchtig hinaus. Richtig, da kam er, die Flinte auf dem Rücken; er hatte wohl einen Jagdzug mit Mr. Howard verabredet und ahnte noch nichts von dessen Abreise. Als er die kleine Gestalt am Wege erblickte, kam er schnell heran. »Frida!« rief er, »was machen Sie hier? wie sehen Sie aus? ist etwas geschehen?«

Sie nickte unter Tränen und konnte kaum sprechen. »Lieber Arved,« stammelte sie mühsam, »seien Sie stark – es ist so schwer – o es tut mir so leid – Sigrid – ach! Sigrid ...«

»Um des Himmels willen, ist Sigrid etwas zugestoßen? ist sie wieder irgendwo hinabgestürzt?«

»Schlimmer als das – sie ist für Sie verloren – sie hat sich – verlobt!«

Er sah sie eine Weile an, dann faßte er ihre Hand und sagte ganz sanft und ruhig: »Ist das alles? Meinen Sie, daß mich das erschreckt?«

»O Arved, Sie haben sie so lange im Herzen getragen – ich weiß es – ich weiß, wie dies Sie schmerzen muß – wenn es nur ein Mittel gäbe, um Sie zu trösten ...«

»Aber ich brauche gar keinen Trost; ich bin aufrichtig erfreut, Sigrid glücklich zu wissen. Ich habe dies kommen sehen, und niemand kann ihr herzlicher dazu gratulieren als ich.«

Frida sah ihn ungläubig an. »Aber Sie wünschten doch so sehr – Ihre Mutter und Onkel Nils wollten es so gern – ich habe immer geglaubt ...«

»Ich weiß nicht, wer Ihnen diesen hartnäckigen Glauben in den Kopf gesetzt hat, Frida,« erwiderte er ungeduldig. »Die Wünsche meiner Mutter sind mir gewiß heilig, und ich suche sie zu erfüllen, wo ich kann; aber in solcher Sache, die über das Glück meines ganzen Lebens entscheidet, würde sie mich nie zu bestimmen suchen. Meine Wünsche aber sind ganz anderer Art, und wenn Sie nur die Augen hätten öffnen wollen, so hätten Sie längst erkannt ...«

»O verzeihen Sie, verzeihen Sie,« stotterte Frida in grenzenloser Beschämung, »ich war sehr töricht, sehr kindisch – ich hatte gar kein Recht, mich einzumischen – ich will es nie wieder ...« Damit kehrte sie ihm plötzlich den Rücken zu und jagte davon, so schnell sie ihre Füße tragen wollten; sie verbarg sich in einem dichten Gebüsch und weinte und schluchzte, bis sie nicht mehr konnte. Würde sie Arved je wieder unbefangen ins Gesicht sehen können, nachdem sie diesen albernen Mißgriff begangen hatte? Ein ganzes Jahr lang hatte sie ihn mit Sigrid verlobt geglaubt, war ihm daraufhin von Anfang ihrer Bekanntschaft an mit zutraulicher Freundlichkeit entgegengekommen – und nun war die ganze Voraussetzung völlig unbegründet gewesen! Was mußte er von ihrem Benehmen gedacht haben? und wem gehörte denn eigentlich sein Herz?

Sie konnte es jetzt nicht ergründen, sie fühlte sich zu zerknirscht und zerbrochen und schlich müde und matt nach Hause.

In der Nähe des Hofes kam ihr Lars entgegen. »Gut, daß ich dich finde, Jomfru; ich habe dich schon gesucht. Unser Herr verlangt nach dir, die Post ist angekommen.«

Frida eilte ins Haus und fand den alten Herrn in seinem Lehnstuhl sitzen, den Kopf in beide Hände gestützt. Sie hatte im Augenblick alles andere vergessen: »Onkel Nils!« rief sie, »du hast Briefe – aus Amerika!«

Er nickte, ohne sie anzusehen, und murmelte, kaum verständlich: »Von ihr.«

»Von Eva Kristina selbst? sie lebt nach? O lieber Gott im Himmel, ich danke Dir! Nun kannst du ihr verzeihen, und sie kann noch alles, alles wieder gut machen!«

Er schüttelte traurig den Kopf. »Lies!« sagte er und reichte ihr einen Brief. Er lautete:

 

Mein Vater! Wenn es Deine erste Regung ist, diesen Brief von Dir zu schleudern, weil er von einer kommt, die Du mit Recht aus Deinem Herzen und Leben verbannt hast, so laß Deinen zweiten Gedanken großmütiger sein, denn es sind die Worte einer Sterbenden, und wenn sie in Deine Hände kommen, wird sie ausgelitten haben. Mein Vater, auf allen meinen Schritten hat mir Dein Segen gefehlt, der den Kindern Häuser baut; jeder Tag meines Lebens war voll bitterer Reue über meinen Eigenwillen, meinen Ungehorsam und meine Torheit; jeder hat mir gezeigt, daß Du Recht hattest und ich unverzeihliches Unrecht. Tausend und aber tausendmal habe ich Dich in meinem Herzen um Vergebung angefleht, aber ich wagte es nicht, diese Bitte gegen Dich laut werden zu lassen, denn Du hättest denken können, daß nur die Not mich zu Dir triebe. So habe ich gebüßt und gelitten, ein langes, trauriges Leben hindurch; jetzt stehe ich am Rande des Grabes, und ich hoffe, daß mir Gott gnädig sein und mir nach all den schweren Kämpfen Ruhe und Frieden schenken werde. Aber ich habe zwei Kinder, die ich über alles liebe; sie lege ich an Dein Herz, nimm sie zu Dir und habe sie lieb, denn sie sind gut und unschuldig und werden Dir das sein, was Eva Kristina durch ihre Schuld verscherzte. Der Gedanke, sie in dem Paradiese meiner Kindheit zu wissen, ist mir – –

 

Hier endete der Brief, ohne Über- und Unterschrift; vielleicht hatte der Tod der Schreiberin die Feder aus der Hand genommen.

Frida schlang ihre Arme um den Hals des alten Herrn und preßte ihre Wange an die seinige. »Armer, lieber Onkel Nils!« flüsterte sie leise in innigem, namenlosem Mitgefühl.

»So hart war ich,« murmelte er dumpf, »so felsenhart, daß mein Kind nicht wagte, mich um Verzeihung zu bitten! Habe doch bei Tag und Nacht an sie gedacht und für sie gebetet! Und sie so starr in ihrem Stolze, daß sie ihre Not nicht verraten mochte! O Kind, sind ein eisernes Geschlecht, wir Holmböes; wer an uns anrennt, muß es büßen – und leiden doch selber am schwersten darunter. Gott sei uns gnädig! – Ist noch ein anderer Brief angekommen, aus New York – kann nichts erkennen – lies ihn mir vor.«

Der Brief war von einem Anwalt, den Herr Holmböe mit den Nachforschungen nach der Familie seiner Tochter beauftragt hatte; er schrieb, daß er mit unendlicher Mühe endlich eine Spur von Mr. Frank Harrison gefunden habe. Er sei vor acht Jahren auf der Reise nach Europa gescheitert; seine Frau und seine Tochter hätten sich vor Jahresfrist ebenfalls nach England eingeschifft; ihren Verbleib hätte er noch nicht erkundet. »Hieß denn dein Schwiegersohn Harrison?« fragte Frida erstaunt; »ich verstand immer, daß er ein Mr. Frank sei.«

»War sein Vorname, Kind.«

»O, wenn ich das gewußt hätte! Aber niemand hat mir je seinen Namen genannt! Onkel Nils,« fuhr sie mit lautklopfendem Herzen fort, »ich weiß von einer Mrs. Harrison in England – sie ist mit ihrer Tochter aus Amerika gekommen –«

»Du weißt?« rief Herr Holmböe laut, indem er sich zu seiner ganzen Höhe erhob und sie mit seinen gewaltigen Augen anblitzte, »was weißt du? sprich – schnell, schnell!« Er schüttelte sie heftig im Übermaß seiner Bewegung, und in fliegenden Worten erzählte sie ihm alles, was sie durch Ilse von den Harrisons wußte. »Sie ist es – es ist Eva Kristina, mein Kind, mein armes, geliebtes, verlornes Kind!« rief er, und der starke Mann zitterte an allen Gliedern. »Warum hörte ich nicht früher davon? – aber fort – nach England – mach dich fertig, wir reisen noch heute.«

Frida erschrak vor seinem Ungestüm. »Heute geht kein Dampfer,« sagte sie beschwichtigend; da sah sie ein Blättchen an der Erde liegen und hob es auf. »Ich glaube, es ist aus Eva Kristinas Brief gefallen, Onkel Nils.«

»Lies es – schnell!« Sie las:

 

Diesen Brief schrieb meine geliebte Mutter mit Aufbietung ihrer letzten Kraft; ein heftiger Herzkrampf hinderte sie an der Vollendung. Seitdem hat sie zwei Tage und Nächte hart am Rande des Todes geschwebt; ihr erster, bewußter Laut galt dem Briefe, dessen Aufschrift schon geschrieben war; sie hieß mich ihn sofort abschicken. Ich habe ihn nicht gelesen, aber ich glaube, daß er an meinen unbekannten Großvater gerichtet ist und gebe ihm tausend Grüße mit. Meine Mutter ist heute bei voller Besinnung; vielleicht verschont Gott ihr teures Leben, bis eine Antwort kommt; möchte es eine gütige sein!

Marscourt-Hall bei London.
Evelyn Harrison.

 

»Sie lebt!« rief Herr Holmböe mit Löwenstimme und riß die Tür weit auf, »Sigrid, Signe, sie lebt! Eva Kristina lebt, sie kehrt zurück! Macht alles für sie bereit – wollen gleich fort und sie holen. O mein Herrgott, habe Dank, habe Dank!« Er schlug die Hände vor das Gesicht; Tränen tropften durch seine Finger hinab.

Sigrid fand es unter den obwaltenden Umständen ganz selbstverständlich, daß sie zu Hause blieb, und daß Frida den Großvater nach England begleitete. Sie wußte, daß es die englische Sitte einem Brautpaare nicht erlaubt, öffentlich als solches aufzutreten, daß dies keine geeignete Zeit sei, um sie den neuen Verwandten vorzustellen, und sie hätte ihrem Verlobten jetzt nicht wie einem bloßen Bekannten begegnen mögen.

Das Warten auf den Dampfer und die langweilige Überfahrt waren für Herrn Holmböe eine schwere Geduldsprobe; wie ein gefangener Eisbär schritt er ruhelos auf dem Verdeck auf und ab, und der Inhalt aller seiner Gedanken drängte sich in die heiße Bitte zusammen: »Laß sie leben, mein Gott, bis ich bei ihr bin.« Endlich erreichten sie London und fuhren sogleich nach Marscourt-Hall hinaus.

Der Wagen hielt vor dem stolzen Herrenhause, ein Diener kam und fragte nach dem Begehr. Herr Holmböe wollte sprechen, aber er brachte keinen Ton hervor, und Frida sagte statt seiner: »Wir möchten Miß Evelyn Harrison sprechen. Wie geht es ihrer Mutter?« fügte sie leiser hinzu.

»Mrs. Harrison befindet sich etwas besser,« erwiderte der Bediente. Das war eine Freudenbotschaft, die dem alten Herrn seine Kraft wiedergab. »Melden Sie uns sogleich dem Fräulein,« sagte er gebieterisch und gab dem Manne seine Karte; »sagen Sie ihr, ihr Großvater sei gekommen.«

Sie traten in ein Vorzimmer, und nach wenig Minuten gespannter Erwartung trat Evelyn herein. Frida staunte sie an; welch eine Ähnlichkeit mit Sigrid! Warum hatte Mr. Howard dies nie erwähnt und sie dadurch längst auf die richtige Spur geleitet?

»Mein Kind – Kind meiner Eva Kristina!« sagte Herr Holmböe tief bewegt und tat seine Arme auf, »ich bin der Vater deiner Mutter.«

»Ist's möglich?« flüsterte Evelyn wie im Traum, indem sie ihren Kopf an seine Brust legte, »ist Gott uns so unendlich gnädig? Soll meine geliebte Mutter Versöhnung und Frieden finden, sollen wir Geschwister eine Stätte haben, wo wir wirklich daheim sind?«

»Alles, alles, mein Kind, alles Vergangene ist ausgelöscht, nur die Liebe übrig. Aber führe mich zu ihr – kann es nicht länger ertragen, ihr fern zu sein.«

»Gleich, mein Großvater; erlauben Sie mir nur einen Augenblick, um meine Mutter vorzubereiten. Ich schicke Ihnen unterdessen Ihren Enkel.«

Sie eilte hinaus, gleich darauf trat Mr. Howard mit Guy ein. »Hätten wohl nicht gedacht, mich so bald wiederzusehen, lieber Freund,« sagte Herr Holmböe, indem er dem jungen Manne in heftiger Erregung die Hand schüttelte. »War eine ungeheure Überraschung – bin Ihrer Großmutter unendlichen Dank schuldig – holla, wer ist dies? mein Enkel? Ei, mein Junge, gefällst mir nicht übel, hast offenbar Holmböesches Blut in deinen Adern. Wollen gute Freunde sein, wie? Bin dein Großvater und nehme dich mit ins alte Norwegen – da soll es dir gefallen – was?«

Guy sah etwas betreten in das wetterharte Gesicht mit den buschigen Brauen, das vor innerer Bewegung seltsam zuckte, aber er schlug doch kräftig in die dargebotene Hand ein. »Mama, Sissy und Mr. Wilmot müssen aber auch mitkommen,« sagte er, »allein reise ich nicht in ein fremdes Land.«

»Hast recht, mein Junge, nehmen alle mit – soll ein lustiges Leben werden am Hardanger Fjord – sollen sich mit uns freuen, die alten Berge und die Leute im ganzen Tal auch – geben ihnen ein großes Fest, wenn ihr in Krokengaard einzieht.«

»Das wird prächtig sein!« lachte Guy, aber die weitere Unterhaltung wurde durch den Eintritt eines Mädchens abgeschnitten, das den alten Herrn bat, ihr nach oben zu folgen. Ein Zittern überlief Herrn Holmböes mächtige Gestalt; unwillkürlich sah er sich nach einer Stütze um und legte seinen Arm schwer auf Fridas Schulter. Sie konnte sich ihm unmöglich entziehen, und so kam es, daß sie bei dem Wiedersehen, das Vater und Tochter nach zwanzig Jahren der Trennung feierten, zugegen war.

Durch Kissen unterstützt, saß Mrs. Harrison in ihrem Lehnstuhl; über ihr abgezehrtes, marmorbleiches Gesicht flog hin und wieder eine fieberhafte Glut, und ihre Augen leuchteten in übernatürlichem Glanze. Als der alte Mann mit ausgestreckten Händen auf sie zukam, machte sie eine rasche Bewegung, und ehe er es hindern konnte, lag sie zu seinen Füßen und umfaßte seine Knie. »Vater, Vater,« hauchte sie mit schwacher Stimme, »du kommst zu mir – hast du vergeben?«

»Armes Kind,« stammelte er ganz überwältigt und zog sie empor, bis sie an seinem Herzen lag, »alles vergeben und vergessen – sprich nicht mehr davon – haben beide gelitten und gebüßt – Gott wolle sich unser aller erbarmen!« Er küßte und streichelte ihr Haar und ihre Wangen, drückte sie sanft in ihren Stuhl zurück und setzte sich daneben. »Dürfen uns nicht so aufregen, Eva Kristina,« sagte er in beschwichtigendem Tone, »müssen deine Kräfte schonen, damit du bald in die Heimat reisen kannst.«

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»Vater, Du kommst zu mir – hast Du mir vergeben?«

Sie sah ihn mit einem wehmütigen Lächeln an. »Ja, ich gehe bald in die Heimat,« flüsterte sie, »aber nicht in die irdische. O Vater, dein geliebtes Antlitz zu sehen, nicht in gerechtem Zorn und Groll, sondern in unverdienter Liebe und Güte, das ist mehr, tausendmal mehr, als ich jemals träumte. O wie süß ist nun das Sterben, deine Hand in der meinen, in deinen Augen die Vergebung lesend, auf die ich hienieden nicht zu hoffen wagte.« Sie sah wie verklärt zu ihm auf; Evelyn winkte Frida, die mit gefalteten Händen daneben stand, und beide zogen sich leise ins Nebenzimmer zurück: diese heilige Stunde duldete keine Zeugen.

Die beiden Mädchen machten sich schnell miteinander bekannt, jede hatte durch Ilse schon von der andern gehört, und die besonderen Umstände, unter denen sie sich trafen, zogen ihre Herzen zueinander hin. Frida pries ihren lieben Onkel Nils, erzählte von Krokengaard und Sigrid und beklagte es tief, daß sie nicht längst den Namen Harrison vor Herrn Holmböes Ohren genannt und dadurch das Wiederfinden schon früher herbeigeführt hätte.

»Lassen Sie sich das nicht grämen, liebe Frida,« sagte Evelyn herzlich; »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit, und Er hat es sicher gewußt, warum es gerade so kommen sollte. Ich kann über nichts mehr klagen, nur anbeten und danken, denn Gott hat uns überschwengliche Gnade erwiesen. Wie recht hatte unsere liebe Ilse, als sie mir vor einem Jahre sagte, ich möchte nur hoffen und vertrauen, Gott könne noch alles zum Besten lenken! Seitdem ist ein Segen dem andern gefolgt, und der heutige Tag setzt allem Glauben und Bitten die Krone auf!« –

Noch einmal schien die große Freude Mrs. Harrisons sinkende Lebensgeister zu heben, den krankhaften Schlag ihres Herzens zu besänftigen. Stundenlang konnte ihr Vater an ihrem Bette sitzen; dann tauschten sie in der alten Heimatsprache, die so lange nicht mehr vor ihrem Ohr erklungen war, die Erfahrungen ihres Lebens aus oder genossen im friedlichen Schweigen die Wonne ihrer völligen Wiedervereinigung. Evelyn schloß sich in diesen Tagen in kindlicher Liebe an den Großvater an, und Frida fühlte sich sehr überflüssig. Sehnsüchtig schaute sie nach Ilse aus, aber statt ihrer kam ein Brief, worin sie schrieb, daß sie zu unwohl sei, um die Fahrt zu machen, und die Schwester dringend bat, sogleich zu ihr zu kommen. Frida wandte sich mit einer schüchternen Bitte an Mr. Howard, der immer noch am Krankenbette seiner Großmutter weilte, und er war gleich bereit, sie unter sicherem Geleit nach London zu schicken.

Die würdige alte Haushälterin setzte sie an der Tür des Homes ab und versprach, sie abends wieder holen zu kommen. Voller Unruhe folgte Frida dem aufwartenden Mädchen zu Ilsens Stübchen; ihrem Klopfen antwortete ein mattes »Herein«, im nächsten Augenblick lagen sich die Schwestern in den Armen und setzten sich dann, eng umschlungen, nieder, um das langentbehrte Beisammensein zu genießen. Aber mit Kummer gewahrte Frida die Veränderung, die mit der andern vorgegangen; war das ihre strahlende, jugendfrische Ilse? Wie blaß und schmal, wie ernst und gedrückt sah sie aus, als die erste Aufwallung der Freude verflogen war! »Du bist krank«, sagte sie angstvoll, »oder unglücklich – o meine Ilse, warum bist du nicht längst aus diesem ungastlichen Lande entflohen und zu Vater und Mutter zurückgekehrt?«

»Es hat nicht soviel zu sagen,« tröstete Ilse ausweichend, »der Arzt nennt es Malaria – wenn ich nach Hause komme, wird es von selbst besser werden; ich wollte nur die Rückkehr von Lady Jane abwarten. Aber erzähle mir von diesem wunderbaren Wiederfinden von Vater und Tochter – ich kann es noch kaum fassen und verstehe gar nicht, daß nicht längst ein glücklicher Zufall durch dich oder mich alles an den Tag gebracht hat.«

»Es hat nicht sollen sein!« sagte Frida und berichtete, wie alles gekommen war.

»Du warst lange mit Mr. Howard zusammen?« fragte Ilse, während eine leise Röte ihre Wangen färbte.

»Vierzehn Tage lang, und zum Schluß«, flüsterte Frida zaghaft, indem sie ihren Mund an das Ohr der anderen legte, »hat er sich mit Sigrid verlobt.«

»Ich habe es längst geahnt,« sagte Ilse langsam; »er sprach immer mit der höchsten Bewunderung von ihr. Möchten sie glücklich sein!« Der Schwester fiel ein Stein vom Herzen, als sie die andere so ruhig reden hörte, doch bekümmerte es sie, als sie im Laufe des Tages Ilsens wechselnde Stimmung beobachtete, die beständig zwischen erregter Lebhaftigkeit und müder Abspannung schwankte.

»Die Londoner Luft bekommt ihr augenscheinlich nicht,« sagte Fräulein Althaus, an die sich Frida im Vertrauen wandte, »auch hat sie ihre Kräfte zu sehr angestrengt, denn sie hat sich mit einem Feuereifer in allerlei wohltätige Bestrebungen gestürzt, in Miß Lindsays Armenschule ( ragged-school) unterrichtet, Kranke besucht und dergleichen, bis sie ganz elend war. Nur ein völliger Wechsel des Ortes und der Lebensweise wird ihren Zustand bessern.«

Unter Tränen trennten sich abends die Schwestern; Frida versprach, bald wieder zu kommen und womöglich in London zu bleiben, bis ein weiterer Entschluß gefaßt sei. Als sie mit ihrer Begleiterin in Marscourt-Hall ankam, fanden sie das Haus in Aufregung: die Herrin war vor wenig Stunden verschieden. Kurz vor ihrem Ende hatte sie Evelyn zu sich rufen lassen und sie gebeten, ihrem verstorbenen Gatten zu verzeihen; sie habe versucht, das alte Unrecht auszugleichen, das ihr die Ruhe ihres Alters geraubt habe.

»Ich konnte es nur für wirre Fieberphantasien halten,« sagte Evelyn traurig, als sie dies ihrem Großvater erzählte; »ich dankte ihr noch einmal von Herzen für alles, was sie an uns getan hatte, und sagte ihr, wir würden ihr Andenken als das unserer größten Wohltäterin immer heilig und in Ehren halten. Das schien ihr wohlzutun und sie zu beruhigen; unter Mr. Frosts tröstendem Zuspruch und Gebet ist sie dann in Frieden entschlafen.« –

In dem großen Saal zu ebener Erde, der in den letzten Jahren nur noch selten geöffnet worden war, stand einige Tage später der kostbare Sarg, in dem Mrs. Howard-Marscourt zur letzten Ruhe gebettet war. Ein Teppich von schwarzem Sammet bedeckte den Boden, auch die Wände waren schwarz behängt, nur das Wappen der Marscourts prangte überall. Die Läden waren geschlossen; hohe Kandelaber mit Wachskerzen darauf verbreiteten ein feierliches, dämmerndes Licht: das Ganze bot den Anblick einer düsteren, pomphaften Trauer dar, wie sie sich für die stolze Herrin von Marscourt-Hall geziemte. Ein kleiner Kreis von Leidtragenden umstand den Sarg – auch Lady Jane und Maud gehörten dazu –, aber ein endloser Zug folgte ihm, um ihn nach dem alten Familiengewölbe zu geleiten, das seit mehr als einem Jahrhundert allen Marscourts zur Ruhestätte gedient hatte. Die Einwohner des Dorfes und die Dienerschaft des Hauses beweinten und beklagten aufrichtig den Verlust einer großmütigen und gerechten Gebieterin.

Auch Ilse war zum Begräbnis herausgekommen und begrüßte danach Lady Jane und Maud. Das junge Mädchen war voll zärtlicher Liebe, aber sie erschien ihrer ehemaligen Lehrerin wie ein ganz anderes Wesen, gereift und entwickelt an Geist und Körper; Ilse fühlte schon nach den ersten Minuten, daß ihr jene vollständig entwachsen und an eine Erneuerung des alten Verhältnisses gar nicht zu denken sei. Lady Jane war sehr freundlich und teilnehmend; sie forderte Ilse auf, eine Zeit völliger Ruhe und Erholung in Ivy-Lodge zuzubringen, aber diese dankte herzlich; der Arzt habe ihr einen vollständigen Luftwechsel empfohlen, und sie würde es vorziehen, zu den Ihren zurückzukehren. Im Laufe des Tages traf sie Mr. Howard im Park, und er bat sie mit ernster Höflichkeit, ihm einige Augenblicke Gehör zu schenken. »Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen zu sagen, Miß Stein, daß ich Gelegenheit gehabt habe, das Geheimnis, das Ihnen die alte Bridget anvertraute, mit meiner Großmutter zu besprechen; sie selbst fing davon an, um mir die Bestimmungen ihres Testaments zu erklären. Sie hat das Vermögen, das ihr von ihrem Gatten als persönliches Eigentum hinterlassen wurde, in strenger Gerechtigkeit zwischen uns und den Harrisons geteilt. Sind Sie damit zufrieden? und darf ich hoffen, daß Sie damit den Flecken auf der Ehre meines Großvaters als ausgelöscht betrachten?«

Ilse richtete sich hoch auf. »Ich sagte Ihnen schon einmal, Mr. Howard,« erwiderte sie in ruhigem Tone, »daß Sie mir keine Rechenschaft schuldig sind, und daß ich mir kein Urteil über die Taten Ihrer Großeltern anmaße. Ich betrachte Ihren Namen als so rein und unbefleckt, wie es nur einer in der Welt sein kann, und ich weiß, daß Sie diesen Ehrenschild jederzeit spiegelblank erhalten werden. – Ehe ich Ihnen für immer Lebewohl sage, erlauben Sie mir, Ihnen die besten Wünsche zu Ihrer Verlobung auszusprechen. Gott segne Sie und Ihre Braut!«

»Ich danke Ihnen, Miß Stein,« sagte er warm und küßte die Hand, die sie ihm reichte; er hätte wohl noch mehr gesagt, aber sie machte ihm eine Verbeugung und wandte sich schnell von ihm ab.

Wenig Tage später schlug Mrs. Harrisons Stunde, aber es war ein seliges Sterbebett, und alle, die es umgaben, fühlten sich von einem Hauch himmlischen Friedens umweht. »Gott ist mir gnädig,« flüsterte die Kranke ihrem Vater zu, »denn Er hat mir dich als Unterpfand der Vergebung geschickt. Kein Schatten ist in meiner Seele; meine Kinder sind wohl versorgt in deiner Liebe – alles, alles ist Licht und Freude! Die liebe Mutter empfängt mich droben, zusammen wollen wir deiner harren. Lebt wohl, ihr Lieben, lebt wohl – auf Wiedersehen an Gottes Thron!« Damit fielen ihr die Augen zu, die im Leben so viel geweint hatten, und der Tod legte ein seliges Lächeln auf ihr Antlitz. –

Wohl waren Vater und Kinder tief ergriffen von diesem Ende, aber trauern konnten sie nicht; sie wußten die Tochter und Mutter zu wohl geborgen und gönnten der müden Pilgerin die himmlische Ruhe, in die sie nach so viel Kampf und Leid eingegangen war. Sobald sie zur Erde bestattet worden war, dachten alle an den Aufbruch; Herr Holmböe wollte mit Guy und Evelyn nach Norwegen, Frida und Ilse nach Deutschland abreisen; Marscourt-Hall blieb leer stehen, bis das junge Paar seinen Einzug darin halten sollte. »Kommen Sie bald zu uns herüber,« sagte der alte Herr herzlich zu Mr. Howard, »wissen ja, wie sehnlich Sigrid Ihrer wartet. Wollen im nächsten Frühjahr, so Gott will, eine frohe Hochzeit feiern.«

Ein schwerer Abschied war's, als sich Frida von Onkel Nils trennte; sie hing weinend an seinem Halse und konnte sich nicht losreißen; immer wieder kehrte sie zu ihm zurück, um ihm Worte dankbarer Liebe und Zärtlichkeit zuzuflüstern und tausend Bestellungen und Grüße an alle Lieben am Hardanger Fjord aufzutragen. »Deinen Freund Arved läßt du gar nicht grüßen, ungetreues, kleines Ding?« fragte er zuletzt.

»Ja ja,« rief sie hocherrötend, »Herrn Lundholm kannst du auch eine Abschiedsempfehlung ausrichten.«

»Vergiß nicht, daß du zur Hochzeit kommen mußt; geht gar nicht ohne dich,« sagte er zu allerletzt.

Endlich war es die höchste Zeit zum Scheiden, das Schiff setzte sich in Bewegung, ein letztes Tücherschwenken – dann trennten sich die Wege derer, die ein Jahr lang Freude und Leid miteinander geteilt hatten. Um viele Erfahrungen reicher kehrten die beiden Zwillingsschwestern in die Heimat zurück.


Mehr als ein Jahr war verflossen; wieder hatte der Hardanger Fjord sein lichtes Frühlingskleid angelegt, und der tiefblaue Himmel lachte in so sonnigem Glanze auf die grünende, blühende Erde herab, als gälte es, ein frohes Fest zu feiern. Wirklich sollte dort unten auch ein seltenes Freudenfest begangen werden, nämlich eine Doppelhochzeit, und Haus und Hof in Krokengaard hatten sich aufs schönste dafür geschmückt. Alle Türen waren mit Kränzen von jungem Laube und Tannengrün umwunden, und auch das uralte Holzgebäude, das einst das Wohnhaus gewesen war, jetzt aber längst nur noch zu Vorratskammern gedient hatte, war noch einmal hergerichtet worden, um die Fülle lieber Gäste aufzunehmen. Schon im vergangenen Herbst hatte sich Arved Lundholm in Seewalde eingestellt, und als es ihm nur erst gelungen war, Frida zu überzeugen, daß er immer nur an sie gedacht habe, war es nicht schwer gewesen, ihr Jawort zu erringen, obgleich ihr zärtliches Herz bei dem Gedanken zitterte, Eltern, Heimat und Vaterland für immer zu verlassen. Niemand war glücklicher über diese Verlobung als Herr Nils Holmböe; er drang mit herzlicher Bitte in den Pfarrer Stein, mit seiner ganzen Familie nach Norwegen zu kommen, damit die beiden Hochzeiten gemeinsam gefeiert werden könnten. Der Gedanke war auf deutscher Seite anfangs auf lebhaften Widerspruch gestoßen, besonders wollte es der Frau Pfarrerin gar nicht gefallen, daß sie dem geliebten Kinde seinen Ehrentag nicht im Vaterhause ausrichten sollte. Doch hatte allmählich eine andere Auffassung Raum gewonnen: der Wunsch, Fridas künftige Heimat und alle neuen Verwandten und Freunde kennen zu lernen, erhielt die Oberhand; man hatte eingewilligt und sich beim Beginn des Junis auf die Reise gemacht.

Vor dem Kirchlein zu Grover war eine große Menschenmenge zusammengeströmt; alles wollte die beiden Brautpaare und den Glanz des Hochzeitszuges sehen. Jetzt kam eine lange Reihe leichter Wagen herangerollt, und unter einem Flüstern des Staunens und der Bewunderung ließen die kleinen Leute die reichgeschmückte Gesellschaft an sich vorüber gehen. Blumenstreuende Kinder aus den verwandten Familien eröffneten den Zug; ihnen folgten Sigrid und Mr. Howard. »Was für ein schönes Paar!« hieß es ringsum. Maud und Evelyn als Brautjungfern, Lady Janes würdevolle Erscheinung am Arm von Herrn Holmböe bildeten ein kleines, aber stattliches Gefolge. Dann kam das zweite Brautpaar; »die liebe Kleine!« flüsterte man gerührt, und obgleich Fridas zierliche Gestalt neben der ihres Bräutigams sehr unbedeutend erschien, und ihre lieblichen Züge keinen Vergleich mit Sigrids ernster Schönheit aushielten, so ruhten doch die meisten Blicke mit besonderem Wohlgefallen auf diesem Paar, denn Arved Lundholm war im ganzen Hardanger Lande bekannt und beliebt, und Frida hatte sich in der Zeit ihres Hierseins unzählige Freunde erworben. Hier war das Gefolge bedeutend größer, die beiderseitigen Familien bildeten eine unabsehbare Schar, deren frohe Mienen die herzlichste Zufriedenheit bekundeten. Auch Herr Holmböe betrachtete dieses Brautpaar mit noch größerer Innigkeit und Genugtuung als das andere, das durch die Bande des Blutes seinem Herzen eigentlich doch näher stand. Aber dieses kleine, zarte Mädchen erschien ihm wie ein guter Engel, den ihm Gott zum Trost seines Alters gesandt hatte. Wenn er sich jetzt wieder so tatkräftig und hoffnungsfroh fühlte, wie kaum jemals in den letzten elf Jahren, seit ihm der Tod die treue Lebensgefährtin und den spätgebornen Sohn und Erben entrissen hatte, wenn jugendfrisches Leben sein Haus erfüllte, und es ihm oft war, als hätte ihm Gott seine Eva und seinen Erik wiedergeschenkt, für die er arbeiten und schaffen durfte, denen er einst diese geliebte Heimat hinterlassen konnte – dann empfand er eine tiefe Dankbarkeit gegen Frida, durch deren Vermittelung ihm alle diese Gnadengaben zuteil geworden waren, und er freute sich, daß er sie für immer in seiner Nähe behalten sollte. –

Ein fröhliches Festmahl vereinte die ganze Gesellschaft im Krokengaarder Herrenhause, und unter den heitersten Gästen befand sich Ilse, die in der Heimat volle Gesundheit und Frische wiedergewonnen hatte. Dem oberflächlichen Beobachter mochte sie gegen die Zeit, da sie nach England ging, wenig verändert erscheinen, aber wer sie mit kundigem Auge betrachtete, der fand in ihrem Wesen einen echt weiblichen Hauch von Sanftmut und Demut, der das allzusichere Selbstvertrauen dämpfte und deutlich zeigte, daß die Erlebnisse in der Fremde nicht spurlos an ihrer Seele vorübergegangen waren. Dennoch war sie ganz in der Stimmung, auf die Scherze ihres Tischgenossen, des Doktor Magnus Alsen, mit Vergnügen einzugehen. Der gutgelaunte alte Herr hatte sich ausdrücklich eine hübsche junge Nachbarin ausgebeten, zum Trost dafür, wie er sagte, daß ihm ein Glücklicherer seine auserwählte Braut fortgeschnappt hätte. »Die Jugend ist immer so ungeduldig,« meinte er kopfschüttelnd, »hätte Sigrid nur noch ein paar Jahre gewartet, so wäre mein Entschluß auch zur Reife gekommen.« Doch schien er nicht eben schwer an seiner Täuschung zu tragen.

Ein wunderbares Sprachengewirr herrschte an der Hochzeitstafel; Deutsch, Englisch und Norwegisch schwirrte beständig durcheinander. Die große Sprachgewandtheit der Norweger und besonders die weit verbreitete Kenntnis des Englischen glich den Übelstand einigermaßen aus, und die gute Pfarrerin Stein, die nicht in fremden Zungen redete, war herzlich froh, daß ihre beiden Nachbarn, ihr Schwiegersohn und Onkel Nils, fließend Deutsch sprachen. Schlimmer war ihr Gatte als Tischgenosse der Lady Jane daran: da er ebensowenig Englisch wie sie Deutsch verstand, so suchten sie sich auf Französisch zu verständigen, aber ein Franzose, der diese seltsamen Töne gehört, hätte sicher sein Antlitz verhüllt und die Flucht ergriffen, denn seine feine, elegante Muttersprache wäre ihm barbarisch erschienen. Die Tischreden blieben immer einem Teil der Gesellschaft unverständlich, und nur an den Mienen der Eingeweihten konnte er erkennen, ob der Redner im Scherz oder im Ernst spräche. Dennoch taten diese Schwierigkeiten der allgemeinen Heiterkeit keinen Abbruch, und besonders die zahlreich vertretene Jugend aller drei Länder kam schnell zu einem befriedigenden Verständnis.

Am Nachmittage kreuzten sich die Dampfer, die von Bergen und Stavanger kamen, im Hardanger Fjord; ihre Ankunft war das Zeichen zum Aufbruch für die beiden jungen Paare. Die Howards folgten dem uralten Zuge, der die Söhne des Nordens nach dem sonnigen Süden trieb; Mr. Howard wollte seiner Gattin das Mittelländische Meer, Italien und Griechenland zeigen, ehe er sich im Herbst mit ihr in Marscourt-Hall niederließ. Die Lundholms wollten nach dem Nordkap reisen, ihr junges Glück vom Strahl der Mitternachtssonne bescheinen lassen und einen Besuch bei den Overlands machen. So hatte es sich Frida gewünscht, und Arved hatte gern darein gewilligt; ihm war es lieb, daß die ganze Reise nur ein paar Tage dauern sollte, denn ihn verlangte es sehnlich, sich das eigene Nest zu bauen.

Der größte Teil der Hochzeitsgesellschaft gab den Reisenden in Kähnen das Geleit bis zum Landungsplatze. Die Howards reisten zuerst ab, ohne Seufzer und Tränen, im Vollgefühl des Glückes. Wer hätte ihnen auch nachweinen sollen? Sigrid hatte mit verständiger Überlegung Evelyn in alle Pflichten des Hauses und der Wirtschaft eingeführt; sie wußte, daß ihre Nachfolgerin ihr in kurzem vollkommen ebenbürtig sein und ihrem Großvater an Liebe und Teilnahme viel mehr gewähren würde, als sie es vermocht hatte, denn besonders im letzten Jahre hatte sich ihr Herz immer mehr von den hiesigen Verhältnissen losgelöst und völlig der Zukunft zugewandt. Sie sah so strahlend und zufrieden aus, als sie an der Seite ihres Gatten die letzten Grüße vom Dampfer aus hinüberwinkte, daß man deutlich sah, wie wenig Kummer ihr das Scheiden mache.

Ganz anders war es mit Frida; ihre Augen strömten über, und ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen, als sie von ihren Eltern und von Ilse Abschied nahm – war es doch eine Trennung von allem, was ihr bisher lieb und teuer gewesen war, woran sie so fest und treu gehangen hatte. »Zieh hin, mein geliebtes Kind, und Gott geleite dich!« sagte ihr Vater, als er sie im letzten Augenblick noch einmal in seine Arme faßte. »Schließe dich mit allen Kräften an die neue Heimat, das neue Vaterland an, aber im innersten Kern deines Wesens bleibe immerdar eine deutsche Frau!«

Und wie von innerem Drange getrieben, stimmten zu gleicher Zeit Fridas Brüder und Vettern das Lied an:

Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang
Sollen in der Welt behalten ihren alten, schönen Klang,
Uns zu edler Tat begeistern unser ganzes Leben lang.
Deutsche Frauen, deutsche Treue ...

Das waren die letzten Töne, die an Frida Lundholms Ohr drangen; dann trug sie der Dampfer fort, einem neuen Leben entgegen.


Druck des Textes von Karl Marquart in Leipzig.

[Vor]bemerkung der Verlagsbuchhandlung.

Im ersten Bande der Sammlung » An fremdem Herd« hat die Verfasserin Länder romanischer Zunge, Spanien, Frankreich und Italien, zum Schauplatz der Erzählung gewählt, in vorliegendem Bande führt sie ihre Leserinnen in stammverwandte Länder, nach Skandinavien und nach England. Wir lernen Land und Leute, Natur und nationale Eigenart kennen und sehen überall ihre Wirkung auf deutsches Gemüt und deutsche Gewohnheit. Der beigegebene künstlerische Bilderschmuck belebt den Inhalt der Erzählung und sucht das Charakteristische der Schilderung dem Verständnis der Leserinnen näher zu bringen.

Zur Darstellung der skandinavischen Verhältnisse hat die Verfasserin, neben den Werken nordischer Schriftsteller, wie Björnson und Kielland, besonders Paul du Chaillus: »Im Lande der Mitternachtssonne« benutzt; für die englischen Verhältnisse lagen ihr, außer vielen englischen Werken, mehrfache Privatmitteilungen vor, die sich auf einen langjährigen Aufenthalt im Lande stützten.

Möge auch die neue Auflage dieses Bandes bei den zahlreichen Verehrerinnen der Verfasserin gute Aufnahme finden und sich in immer weiteren Kreisen einbürgern!

Leipzig.

Ferdinand Hirt & Sohn.

I. Band: Gertruds Wanderjahre. (Erlebnisse eines deutschen Mädchens im Elsaß, in Spanien, Italien und Frankreich.)

II. Band: Zwillings-Schwestern. (Erlebnisse zweier deutschen Mädchen in Skandinavien und England.)

III. Band: Unter Palmen. (Schilderungen aus dem Leben und der Missionsarbeit der Europäer in Ostindien.)

IV. Band: Jenseit des Weltmeers. (Schilderungen aus dem nordamerikanischen Leben.)


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