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Siebentes Kapitel.
Enthüllungen


Die Engländer sind im allgemeinen keine Freunde der goldenen Morgenstunde; in keinem Lande Europas beginnen alle Tagesgeschäfte so spät wie in England, und auch das Leben in den Familien nimmt keinen frühen Anfang. Ilse aber war von klein auf gewöhnt, früh aufzustehen, und blieb der guten Gewohnheit auch hier treu; sie liebte es, die ersten Stunden des Tages für sich allein im Park zuzubringen, lesend, sinnend oder in stille Betrachtung der lieblichen Natur versunken. Einmal stieß sie bei einer solchen Wanderung auf Miß Harrison; beide setzten ihren Weg gemeinsam fort, und einige teilnehmende Fragen nach dem Befinden der Mutter öffneten endlich die lange verschlossenen Lippen der Tochter zu einem vertraulichen Erguß. »Meine arme Mutter!« sagte Evelyn kummervoll, »wie soll ihr Körper genesen, wenn der furchtbare Druck, der auf ihrem Gemüt lastet, nicht fortzuschaffen ist? Sie hat zuviel Jammer und Elend erfahren, und ich fürchte – aber wozu soll ich Ihr sonniges Wesen durch solche trübe Mitteilungen verdüstern, Miß Stein? Sie haben wohl nur Gutes empfangen und können noch an Glück auf Erden glauben; ich möchte Ihr kindliches Vertrauen nicht zertrümmern.«

»Der liebe Gott ist mir bisher sehr gnädig gewesen,« entgegnete Ilse, »aber doch kann ich die Leiden anderer mitfühlen. O Miß Harrison, ich will mich nicht in Ihr Vertrauen drängen, aber vielleicht täte es Ihnen gut, sich auszusprechen – wenn Sie wüßten, mit welcher Teilnahme ich Sie alle diese Tage hindurch betrachtet habe – wie sehnlich es mich verlangt hat, etwas für Sie zu tun ...«

»Vielleicht würde es mir gut tun!« wiederholte Evelyn sinnend, »vielleicht fiele aus Ihrem liebevollen Herzen ein Balsamtropfen in das meine, das so dürr und öde ist und sich sehr nach Trost und Frieden sehnt. Unsere Geschichte ist eine traurige Kette von Schuld und Strafe, dennoch sollen Sie sie hören. Meine Mutter ist nicht in England geboren; sie heiratete meinen Vater gegen den Willen des ihren und verließ Heimat und Vaterland, um dem Manne ihrer Wahl zu folgen. Es steht mir nicht zu, über meinen Vater zu richten; ich kann es nicht entscheiden, ob alle die Fehlschläge, die ihn im Leben trafen, von ihm verschuldet oder Unglücksfälle waren. Solange mein Großvater lebte, hatten wir noch einen Helfer in aller Not; bald nach seinem Tode wanderten wir nach Amerika aus, aber unsere Verhältnisse wollten sich nicht dauernd bessern; auf kurze Wochen des Wohllebens folgten immer wieder Zeiten bitterer Verlegenheit. Endlich erklärte mein Vater, er würde es wieder in der Alten Welt versuchen, wo er noch einflußreiche Freunde hätte; er wünschte dringend, Frau und Kinder sollten ihn begleiten, aber meine Mutter weigerte sich entschieden, ihm aufs Ungewisse hin zu folgen; er solle erst eine sichere Versorgung für seine Familie suchen, dann würde sie mit uns beiden Geschwistern nachkommen. Darüber kam es zu einem heftigen Streit, die Eltern trennten sich im Zorn, und mein Vater verließ das Haus, ohne Abschied zu nehmen. Einige Tage später war mein Bruder, ein lieber kleiner Schelm von zwei Jahren, samt seinem Mädchen plötzlich verschwunden. Alles Suchen blieb erfolglos, doch stellte es sich mit ziemlicher Sicherheit heraus, daß Kind und Wärterin meinem Vater heimlich auf das Schiff gefolgt und nach Europa gesegelt wären. Sie können sich den Schrecken, den Unwillen und die Sorgen meiner Mutter vorstellen! Woche auf Woche verging, ohne eine Nachricht zu bringen; endlich lasen wir in der Zeitung von einem furchtbaren Sturm im Kanal, bei dem mehrere Schiffe gescheitert waren. Auch ein amerikanischer Dampfer war darunter – war mein Vater mit unserem lieben kleinen Guy darauf gewesen? waren beide untergegangen? Wir haben es nie mit voller Bestimmtheit erfahren; einmal hieß es, einige Personen seien durch ein vorüberfahrendes Schiff gerettet worden. Diese Ungewißheit, die immer noch einen Schimmer von Hoffnung übrig ließ, hat meine arme Mutter völlig gebrochen; unsere Mittellosigkeit schob allen Nachforschungen bald einen Riegel vor. Dazu kam die quälende Sorge um das tägliche Brot, das sie für uns beide erwerben sollte; sobald ich konnte, half ich dabei, ich nähte, malte, gab Stunden, als ich selbst noch ein halbes Kind war, aber es gelang uns manchmal kaum, unsern Hunger zu stillen. So vergingen fast acht Jahre voll Elend und Herzeleid; da erging plötzlich die Aufforderung an uns, nach England zurückzukehren, wo sich eine Freundin meines Großvaters unser annehmen wollte. Sie schickte uns reichliche Mittel, um uns anständig auszustatten und die Reise zu bezahlen; hier fanden wir ein Heim, das uns nach der langen Not wie ein Zauberland erschien. Nur eins fehlt: ein wenig Liebe, ein Fünkchen Wärme! Mrs. Howard-Marscourt überschüttet uns mit Wohltaten, aber ihr Herz hat keinen Teil daran, ich kann es nicht ergründen, was sie dazu treibt, so überwältigend Großes an uns zu tun. So wirkt das Gefühl der Dankbarkeit demütigend und erdrückend; wir können ihr für alle Gaben nichts zurückgeben, denn unsere Liebe begehrt sie nicht, und unserer Dienste bedarf sie nicht. In meiner Mutter aber wühlt der Schmerz um den Vater, den Gatten und den Sohn, die sie alle auf die traurigste Weise verloren hat, noch heftiger und aufreibender, seit die tägliche Sorge ihre Gedanken nicht mehr davon abzieht, und mitten unter allem Reichtum und der Schönheit, die uns umgibt, sehe ich sie hoffnungslos hinsiechen.«

Evelyn schwieg; sie hatte die Hände um die Knie geschlungen und sah starr und tränenlos ins Weite. Auch Ilse blieb eine Weile still; die traurige Erzählung hatte sie zu tief erschüttert, und vergebens suchte sie nach Worten des Trostes in so großem Leide. Dann legte sie plötzlich ihren Arm um die Trauernde, schmiegte ihre Wange dicht an die der anderen und rief unter Tränen: »Arme liebe Evelyn, das ist furchtbar schwer! Aber verlieren Sie nicht den Mut und die Zuversicht, daß Gott noch alles zum Besten lenken wird! Er kann so wunderbar helfen und erretten, wo wir gar keinen Ausweg sehen! Ach, lassen Sie sich von mir liebhaben und trösten – ich weiß nicht, was ich nicht alles für Sie und Ihr armes Mütterchen tun möchte, wenn ich es nur dürfte! Wollen Sie mir auch ein bißchen gut sein, Evelyn, und es nicht bereuen, daß Sie mir Ihr Vertrauen geschenkt haben?«

Evelyn legte ihren Kopf auf Ilsens Schulter und schloß die Augen. »Ach, wie wohl das tut!« sagte sie leise. »Wie lange hat mich niemand geliebkost – seit unser kleiner Guy uns entrissen wurde. Meine arme Mutter hat es längst verlernt! Seit Jahren mußte ich immer die Starke sein und sie aufrechthalten, und doch fühlte ich mich oft so schwach und elend, daß ich lieber gestorben wäre. Ich dachte, ich wäre zu ernst, zu vergrämt und verbittert durch ein hartes Schicksal, als daß mich jemand lieben könnte, und mich hat doch so oft nach einem Körnchen Liebe gehungert! Liebe Ilse, wollen Sie wirklich Geduld mit mir haben und sich an der rauhen Schale nicht stoßen?«

Das Glöckchen, das zur Morgenandacht rief, unterbrach das lange innige Gespräch; Evelyn eilte zu ihrer Mutter zurück, Ilse ging der Kapelle zu, das Herz voll heißen Mitgefühls, voller Pläne zum Wohl der neugewonnenen Freundin. Ehe sie sich trennten, hatte Evelyn sie feierlich verpflichtet, gegen niemand von dem zu sprechen, was sie eben erfahren habe; zu ihr allein habe sie Vertrauen gehabt, aber schrecklich sei ihr der Gedanke, mitleidig von anderen angesehen zu werden, weil sie so früh die bittere Not des Lebens kennen gelernt habe; auch dürfte sie die Irrtümer ihrer Eltern nicht fremden Blicken entschleiern.

Mehrere Tage vergingen in ungestörtem Stilleben; von außen her gab es wenig Abwechselung, einige steife Vormittagsbesuche abgerechnet, die die jungen Mädchen wenig berührten, da meist nur ältere Personen erschienen. Jeden Morgen trafen sich die beiden Freundinnen im Park und verlebten ein paar schöne Stunden im vertraulichsten Austausch; Ilse bot alle ihre Kräfte auf, die andere zu erheitern und zu erheben, und sie war glücklich, wenn es ihr gelang, Evelyn ein Lächeln abzulocken.

»Mir ist es, als sähe ich von fern die Sonne scheinen,« sagte diese einmal, »aber wenn du von hier fort gehst, mein Sonnenkind, so werde ich unfehlbar in die alte, trübselige Nacht zurücksinken.«

»Meine Evelyn,« erwiderte Ilse zärtlich, »steht nicht die Sonne hoch am Himmel, und ist der nicht immer über dir? Wenn du nur mehr dort hinaufschauen wolltest, statt die Augen niederzuschlagen und immer wieder dein eigenes Leid zu betrachten! Trost und Frieden können dir doch nur von oben kommen; nur die Ergebung in Gottes Willen macht uns stark und froh.«

»Gottes Willen!« entgegnete Evelyn bitter. »Meinst du, daß es Gottes Wille war, daß meine Mutter ohne den Segen ihres Vaters das Elternhaus verließ? oder daß meine Eltern im Groll auseinander gingen und mein Vater der armen Mutter ihren Liebling raubte? Gerade daß alles gegen Gottes Willen geschehen ist, macht alles so schwer zu tragen, denn wir stehen sichtbar unter Gottes Fluch.«

»O Evelyn, sprich das Entsetzliche nicht aus! Du selbst hast doch keine Schuld an all diesem Unrecht; dich treffen die Folgen nicht als Strafe, sondern als Heimsuchung; sie sind ein schweres Kreuz, das Gott dir auferlegt hat, aber sicher hat Er es aus Weisheit und Liebe getan. O lerne doch an Gottes Liebe glauben und Seiner Vaterhand vertrauen, und du wirst es sehen, daß Er noch alles wohlmachen wird.«

Evelyn strich sanft über Ilsens erhitzte Wangen. »Du liebes Herz,« sagte sie weich, »ich will es versuchen, dir zu folgen. Jedenfalls nimm die Überzeugung mit, daß du einem zerbrochenen Herzen unendlich wohlgetan und auf einen dornigen Pfad die ersten Blumen gestreut hast. Gott segne dich tausendmal dafür!«

Der letzte Tag war heran gekommen; eben wollten die drei jungen Mädchen den Ponywagen besteigen, um eine Abschiedsfahrt zu machen, als die kleine Mary aus dem Torwärterhäuschen atemlos und mit glühenden Wangen angelaufen kam. »Miß Stein – o Miß Stein,« rief sie angstvoll, »Sie dürfen nicht fortfahren, Großmutter verlangt so sehr nach Ihnen; sie sagt, sie müsse Sie sprechen, ehe sie stirbt – sie ist sehr schwach – bitte, bitte, kommen Sie mit mir!«

»Wie ärgerlich!« sagte Maud unzufrieden. »Das kommt von Ihren schnellen Freundschaften, Darling. Wir wollen lieber Tante Jane bitten, zu der alten Frau zu gehen, oder nach dem Vikar schicken; die passen doch besser an ein Sterbebett als Sie!«

»Nein!« erwiderte Ilse nach kurzem Zaudern. »Die gute Alte hat mir Vertrauen und Zuneigung bewiesen, die kann ich nicht täuschen.«.

»So wollen wir Sie wenigstens dorthin fahren und nach einer Weile wieder abholen; machen Sie's kurz, Darling!« Maud ließ ihre Peitsche lustig knallen, und die Ponys jagten auf dem glatten Kieswege munter dahin; mit Bedauern stieg Ilse ab und sah den Weiterfahrenden nach, denn der Ruf der alten Bridget kam ihr wirklich sehr ungelegen.

Aber ihr inneres Widerstreben verstummte schnell, als sie das Stübchen betrat, wo jene in einem sauberen Bette lag. Welche Veränderung war in den wenigen Tagen, seit Ilse sie nicht gesehen hatte, mit der Greisin vorgegangen! Das Antlitz mit den schneeweißen, eingefallenen Wangen und den halbgeschlossenen Augen sah schon aus wie das einer Toten. Marys Mutter erhob sich bei Ilsens Eintritt und kam ihr entgegen. »Es ist sehr freundlich, daß Sie kommen, Ma'am,« sagte sie in gedrücktem Ton, »wir fürchten, es geht zu Ende, aber Mutter verlangte so sehr nach Ihnen; sie hat Ihnen etwas zu sagen, was sonst keiner hören darf. Hier ist das Fräulein!« schrie sie der Kranken ins Ohr.

Die erloschenen Augen öffneten sich, ein Strahl der Freude glitt über das bleiche Gesicht. »Richte mich auf, Betsy,« flüsterte sie heiser, »und dann geht alle hinaus und laßt mich mit dem Fräulein allein.« Die Frau tat, wie ihr geheißen wurde; mit klopfendem Herzen nahm Ilse am Bette Platz und brachte ihr Ohr ganz nahe an den Mund der Alten – was konnte sie ihr, einer völlig Fremden, so Wichtiges anzuvertrauen haben?

»Ich darf nicht sterben,« begann die Kranke, »ehe ich nicht das schreckliche Geheimnis kund getan habe, das mir fast das Herz abdrückt; ich wollte es nur Master Archie sagen, aber der Herr ruft mich ab, ehe er von seiner Reise heimgekehrt ist. Sie sind gut und treu, Ihnen kann ich vertrauen – aber zuvor geloben Sie mir feierlich, gegen jedermann darüber zu schweigen und auch von Master Archie zu verlangen, daß er es niemand auf der Welt sagt.«

Ilse zauderte. »Aber wie komme ich dazu ...?«

»Geloben Sie! Sehen Sie nicht, daß ich keine Zeit zu verlieren habe?« sagte die alte Frau mit einem Blick, in dem Ungeduld und Flehen gepaart waren, und dabei drückte sie mit ihren knochigen Fingern die Hand des Mädchens so fest, daß sie schmerzte.

»Ich gelobe es!« rief Ilse ihr erschrocken zu; sie zitterte an allen Gliedern bei diesem seltsamen Vorgange. Die Greisin nickte befriedigt und begann ihre Erzählung in einem gedämpften, hastigen Ton, als ob sie Eile hätte.

»Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, daß Miß Maud nicht glücklich war, obgleich sie mit allem Glanz über die Heimat ihrer Väter gebot und alles hatte, was ihr Herz begehren konnte – vielleicht hätte sie den anderen lieber gehabt als Mr. Howard. Dann starben ihr alle die kleinen Kinderchen, nur Master Archies Vater blieb am Leben; der war ihr ganzer Stolz und ihre einzige Freude. Als er vor acht Jahren in seinen besten Jahren starb und seine Frau mit dem Jüngsten ihm bald folgte, da war sie beinahe von Sinnen vor Jammer und Verzweiflung; auch Mr. Howard ging umher, als nage ein Wurm an seinem Leben. Dann erkrankte er schwer, und Miß Maud rief mich bei der Pflege zu Hilfe; er rede so seltsames Zeug, sagte sie, das solle kein Fremder hören. So waren nur wir beide Tag und Nacht um ihn. Als es mit ihm zum Sterben kam, wurde er noch einmal ganz klar und sagte seiner Frau, er müsse ihr ein Verbrechen bekennen, das er begangen habe; er hätte damals, als er um sie warb, seinen Freund und Nebenbuhler Harrison schändlich betrogen und eine große Summe Geldes an sich gebracht, die jenem gebührt hätte. Dadurch habe er es erreicht, daß er das Gut erwerben und Miß Maud heiraten konnte. Aber das böse Gewissen habe ihm keine Ruhe gelassen und ihm seinen ganzen Erfolg und alle die Reichtümer vergällt, die nachher auf ihn eingeströmt seien. Nun beschwöre er sie, an den Harrisonschen Kindern gut zu machen, was er an dem Vater gesündigt habe. Es lebe in Amerika ein Sohn von ihm mit Frau und Tochter in dürftigen Verhältnissen; die solle sie aufsuchen lassen und das Erbe zwischen jene und seine eigenen Großkinder teilen, und wenn es möglich sei, so solle Master Archie die Harrisonsche Enkelin heiraten und so die alte Schuld sühnen.

Das versprach seine Frau ihm feierlich; als er aber gestorben und begraben war, rief sie mich und sagte, das seien alles Fieberphantasien gewesen, und es sei kein wahres Wort daran; ich solle diese wirren Reden vergessen wie alle übrigen. Dann belohnte sie mich reich, wollte mich aber nie wiedersehen. Ich habe auch zu keiner Seele darüber gesprochen; als ich aber sah, daß die beiden Amerikanerinnen hier einzogen, da wußte ich, daß sie selbst an die Wahrheit jener Beichte glaubte und sie nur aus Stolz verleugnete. Ich will auch nicht, daß die kleine Maud oder sonst jemand Böses von meinem verstorbenen Gebieter denken soll – nur Master Archie muß es wissen, damit er den Willen seines Großvaters treu erfüllen kann. – Nun wissen Sie das große Geheimnis; hüten Sie es sorgsam, aber sobald der junge Herr in die Heimat zurückkehrt, legen Sie es in seine Hände nieder. Möge Gott Sie strafen, wenn Sie Ihr heiliges Versprechen nicht erfüllen!«

Die Alte sank erschöpft zurück und schloß die Augen; erschrocken eilte Ilse nach der Tür und rief Frau Betsy. Am ganzen Körper bebend vor innerer Erregung, eilte sie von dannen; was hatte sie hören müssen! Ein Gefühl tiefsten Mitleids mit der stolzen Herrin dieses prachtvollen Besitzes erfüllte sie; was für ein tragisches Schicksal war ihr beschieden worden! Ihr kaltes, unnahbares Wesen erschien dem jungen Mädchen auf einmal ganz verständlich; wie konnte sie anders sein nach all den Täuschungen, die ihr das Leben gebracht hatte! Wie hohl und trügerisch war dieser äußere Glanz, der ein unbefriedigtes, tief gekränktes Herz umgab!

Ilse war noch ganz in diese Gedanken verloren, als Maud hereinkam. »Schon zurück, Darling? Wir haben vergebens am Torwärterhäuschen auf Sie gewartet – übrigens brachten wir den Vikar dorthin mit. Aber wie sehen Sie aus? Haben Sie Gespenster gesehen? Ich hoffe, die alte Frau ist nicht in Ihren Armen gestorben, nachdem sie Ihnen alle verborgenen Missetaten ihres Lebens gebeichtet hat!«

Ilse suchte allen Fragen dadurch auszuweichen, daß sie sagte, der Anblick des nahen Todes habe sie so erschüttert; sie durfte ja nicht einmal verraten, daß sie etwas zu verbergen habe. Aber sie befand sich wie unter einem schweren Bann; auch Evelyn konnte sie nicht mehr ganz unbefangen begegnen, in dem Gefühl, ihr etwas zu verschweigen, was für jene vom höchsten Interesse sein mußte. Als beim Mittagsessen Mr. Frost die Nachricht brachte, die alte Bridget im Torwärterhäuschen sei vor zwei Stunden sanft entschlafen, da schien es Ilse, als glitte ein Schimmer der Befriedigung über Mrs. Howard-Marscourts Gesicht; sie mochte sich wohl erleichtert fühlen durch das Bewußtsein, daß die einzige Mitwisserin des Bekenntnisses, das die Ehre ihres verstorbenen Gatten so schwer gefährdete, dahingegangen sei. Sie ahnte nicht, daß an ihrem Tische eine Zeugin saß, die die feierliche Verpflichtung übernommen hatte, ihren eigenen Enkel mit dem traurigen Geheimnis bekannt zu machen. Ilse kam sich falsch und verräterisch vor und sehnte die Stunde des Aufbruchs herbei. Sie errötete tief, als Mrs. Howard-Marscourt ihr beim Abschied mit ungewohnter Freundlichkeit die Hand reichte und ihr ein paar huldvolle Worte sagte, und sie trennte sich mit stummen Tränen von ihrer Freundin. Auf der ganzen Heimfahrt war sie so ernst und still, daß Maud sie erstaunt und kopfschüttelnd betrachtete; sie erkannte Darling gar nicht wieder und meinte, die alte Bridget müsse ihr etwas angetan haben.


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