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Ein weiter, weißer Mantel hüllte die Ufer des Hardanger Fjords ein und schmiegte sich in weichen Falten um die Bergwände. Bei geringer Kälte waren die großen Flocken Tag und Nacht herabgefallen, kein Windhauch hatte sie aus ihrer Richtung vertrieben; so waren sie überall an den Zweigen hängen geblieben und hatten die alten Fichten in himmelanstrebende Pyramiden verwandelt, die schlanken Birken wie mit wehenden weißen Tüchern behängt. Der Himmel war wolkenlos blau, aber obgleich seit Mittag erst wenig Stunden vergangen waren, senkten sich doch schon abendliche Schatten auf das Tal herab, während die Berggipfel in entzückender Farbenpracht erglänzten, im Widerschein der Wolken, die die scheidende Sonne mit feurigem Rot und Orange malte. Vor dem Wohnhause zu Krokengaard stand ein leichter Schlitten, und innen war Sigrid beschäftigt, Frida vorsorglich in warme Tücher zu hüllen. »Wenn du doch mitkämst!« sagte die Kleine und sah aus ihrer Vermummung die andere bittend an. »Es würde uns allen solche Freude sein!«
»Du irrst,« erwiderte Sigrid ruhig; »ich würde euer Vergnügen nur stören und keines dabei finden.«
»Aber es würde dich einmal auf andere Gedanken bringen, und das wäre dir sicher gut.«
»Meine Gedanken sind mir lieb, ich möchte sie gar nicht loswerden,« erwiderte Sigrid fest, und seufzend gab Frida den Versuch auf, sie umzustimmen. Sie stieg in den Schlitten, sorgfältig bedeckte Lars sie mit der dicken, weichen Pelzdecke, sprang hintenauf und schwenkte die Zügel; im Nu flog das leichte Gefährt über die glatte Bahn dahin. Eine Weile schaute Frida mit schweigendem Entzücken auf den stillen, weißen Wald und das blendende Farbenspiel am Himmel; dann sagte sie mit einem tiefen Atemzuge: »O Lars, wie schön ist es bei euch!«
»Nicht wahr, Jomfru?« gab er vergnügt zurück. »Der erste Schnee ist ein prächtiger Anblick, und einem echten Norweger lacht das Herz dabei. Ich sah einmal ein paar Lappländer, die auf einem Schiffe bis weit nach dem Süden gefahren waren und auf dem Rückwege hier am Eingange des Fjords anlegten, als es eben geschneit hatte; die Burschen waren wie toll, warfen sich auf den Boden und kugelten sich im frischen Schnee, rieben sich Gesicht und Hände und lachten laut vor Freude. So wild gebärden wir uns gerade nicht, aber man meint doch jedes Jahr, das sei das rechte Kleid für unser Hardanger Land. Freilich, wenn der Winter gar zu hart und lang ist, da vergeht einem das Lachen, und wenn die Sonne zum erstenmal wieder hinter dem Folgefonn hervorkommt und bis ins Tal hinabscheint, das ist auch ein Freudentag!«
Es dauerte kaum eine halbe Stunde, bis der Schlitten vor dem Ulviker Herrenhause hielt, wo Frida von den beiden Damen mit gewohnter Herzlichkeit begrüßt wurde. Die jungen Leute pflegten regelmäßig zusammen zu lesen, doch war Arved heute nicht anwesend; es hieß, er sei schon morgens auf die Jagd gegangen. Ingeborg eilte alsbald in die Küche hinaus, um den Kaffee zu besorgen; Frau Lundholm fragte nach Sigrid, und Frida berichtete kummervoll, wie völlig diese in dem Schmerz um den verlorenen Bruder lebe, wie still und unnahbar sie ihren einsamen Weg gehe und jeden Ausdruck fremder Teilnahme von sich fernhalte. Frau Lundholm nickte mit bekümmerter Miene. »Sie hat viel von der starren Festigkeit des Großvaters in ihrer Natur,« sagte sie, »mich wundert's nicht, daß sie nicht so schnell überwinden kann. Aber es ist ein Glück für meinen lieben alten Freund, daß er dich jetzt bei sich hat, mein kleines Herzblatt; sonst wäre er noch viel mehr zu beklagen.«
Frida verharrte eine Weile in nachdenklichem Schweigen, dann sagte sie plötzlich: »Besinnen Sie sich noch auf Eva Kristina, Tante Ragnild?«
»Gewiß!« entgegnete die ältere Dame. »Aber wie kommst du darauf?«
»Ich muß so oft an sie denken – wenn sie noch lebte, wenn sie wiederkehrte – glauben Sie nicht, daß Onkel Nils sie mit Liebe empfangen und ihr alles vergeben würde?«
»Ich weiß es nicht,« meinte Frau Lundholm ernst. »Du kennst Nils Holmböe nur von seiner freundlichen, gütigen Seite, aber du weißt nicht, was für eine vernichtende Wucht in seinem Zorn liegt, mit welcher unerbittlichen Strenge er an seinem Wort festhält. Er hatte einmal erklärt, wenn Eva Kristina den Fremden heirate, so sei sie für ihn tot – und nie hat es seitdem jemand gewagt, ihren Namen vor seinen Ohren auszusprechen, nicht einmal seine Frau, die ihn doch so herzlich liebte und verehrte. Manchmal hat sie es mir weinend geklagt, wie sehr sie sich nach ihrem unglücklichen Kinde sehne, aber um keinen Preis hätte sie das Verbot ihres Gatten übertreten und an jene geschrieben oder einen Brief von ihr angenommen.«
»Kannten Sie diesen Mr. Frank, Tante Ragnild? Was für eine unheilvolle Macht muß er über Eva Kristina ausgeübt haben, daß sie um seinetwillen alles opferte und seine Liebe der ihrer Eltern vorzog!«
»Ich kannte ihn wenig, kaum mehr als seine Außenseite, die freilich sehr einnehmend war. Vor Jahren erhielt mein lieber Mann einmal einen Brief von ihm, worin er schrieb, daß es ihm sehr schlecht ergehe, und daß er keine Lust habe, samt den Seinen Hungers zu sterben, während es sich sein reicher Schwiegervater wohl sein lasse. Wenn Nils Holmböe noch lebe, so werde er plötzlich vor ihm stehen und ihm zwei blühende Enkel zuführen; davor würde sein törichter Groll wohl schwinden. Mein Mann riet ihm dringend ab, aufs Geratewohl nach Krokengaard zu kommen, da niemand in der Welt weniger geneigt sei, sich durch gefühlvolle Szenen überrumpeln zu lassen, als Nils Holmböe.«
»Und er kam wirklich nicht?« fragte Frida gespannt.
»Nein, er ist nie erschienen und hat auch nichts mehr von sich hören lassen. Ich muß gestehen, daß mir die ganze Sache schnell aus dem Sinn kam, denn mein lieber Mann erkrankte bald darauf, und während seines langen, schweren Krankenlagers hatte ich nicht Zeit, an diesen leichtsinnigen Herrn Frank zu denken. Dann starb mein guter Mann, und die Sorgen um die Wirtschaft und die Kinder, die nun auf mir allein lagen, nahmen mich vollends gefangen.«
»Wie lange ist das her, Tante Ragnild?«
»Laß einmal sehen. Es sind jetzt sieben Jahre seit Lundholms Tode verflossen und acht oder etwas mehr seit jenem Briefe.«
»Und von Eva Kristina schrieb er nichts?«
»Kein Wort; wir nahmen daraus ab, daß sie nicht mehr am Leben sei.«
»Von woher kam der Brief?«
»Aus Amerika, denke ich, doch weiß ich wirklich nicht mehr, aus welcher Gegend. Ich habe bis heute kaum wieder daran gedacht.«
Ingeborgs Eintritt und der Kaffee unterbrachen dieses Gespräch, das auf Frida einen tiefen Eindruck gemacht hatte. Doch drängte sie einstweilen diese Gedanken zurück, um sich ganz dem heiteren Geplauder der Freundin hinzugeben. Dazwischen sah sie wohl zehnmal nach der Tür, aber Arved erschien noch immer nicht, und die jungen Mädchen nahmen schließlich ihr Buch allein vor. Auf Fridas Wunsch lasen sie schwedische und norwegische Schriftsteller im Original; sie sah daraus, daß die drei nordischen Sprachen viel Ähnlichkeit miteinander haben, daß aber die Schrift- und Umgangssprache der Gebildeten in Norwegen noch immer die dänische ist, während die im Volk gesprochenen Mundarten mehr mit dem Altnordischen übereinstimmen, in dem die Edda und die ältesten Sagen der skandinavischen Vorzeit geschrieben sind.
Die Stunde des Aufbruchs hatte geschlagen, Frida durfte ihre Rückkehr nicht länger verzögern. »Hast du gar keine Sorge um Arved?« fragte sie ihre Freundin.
»Sorge?« rief Ingeborg lachend, »du lieber Himmel, warum denn? Arved geht oft auf die Jagd, und dabei läßt sich die Stunde schwer einhalten. Er wollte bis auf die höchsten Fjellen steigen – das ist ein weiter Weg.«
Frida nahm Abschied und trat den Heimweg an; der Himmel zeigte jetzt eine sehr dunkle Färbung, aber die Sterne glänzten hell, und der frische Schnee gab genügendes Licht, um die Spur des Weges nicht zu verfehlen. »Lars!« rief das junge Mädchen plötzlich sehr erschrocken, »sieh nur den hellen Schein am Himmel – ich fürchte, es brennt irgendwo.«
»Nein, Jomfru,« erwiderte er heiter, »das ist ein Feuer, das unser Herrgott selber anzündet, um uns heimzuleuchten. Sieh dir's nur an, es ist dessen wert.« Er brachte das Pferd mit einem Ruck zum Stehen, denn man konnte an dieser Stelle durch eine Senkung der Berge den nördlichen Himmel gut betrachten. Ein lichter Bogen spannte sich über dem Horizont aus; leuchtende Wellen in allen Farben des Regenbogens wogten darin auf und nieder, und funkelnde Strahlen schossen daraus hervor. Plötzlich flammte die ganze wallende Lichtmasse wie feurige Lohe aufwärts, und die brennenden Feuergarben vereinten sich im Zenit zu einer Flammenkrone von unbeschreiblicher Pracht und Herrlichkeit. Es war ein Schauspiel, wie es keine Feder schildern, kein Pinsel nachbilden kann, und sogar Lars, der es doch schon hundertmal gesehen hatte, schaute in stiller Bewunderung hinauf. »Was ist das?« fragte Frida in ehrfürchtigem Flüsterton.
»Das ist ein Nordlicht, Jomfru,« sagte ihr Begleiter. »Hast du das noch nie gesehen?«
»Noch nie, und nach der Beschreibung konnte ich es mir doch nicht so unsagbar schön und großartig denken. Und dieses göttliche Wunder dürft ihr hier öfter sehen?«
»Je kälter der Winter ist, desto häufiger erscheint es; auch heute wird es wohl auf schärferen Frost deuten.«
Allmählich wurde die strahlende Himmelserscheinung schwächer, die feurige Glut zerflatterte in zahllose rote Wölkchen, die den ganzen Himmel übersäten, und zwischen denen das sanfte Licht der Sterne wieder sichtbar wurde. »Sieh, wer kommt da?« sagte Frida, als Lars das Pferd wieder antreiben wollte, und wies auf eine dunkle Gestalt, die sich deutlich von dem rosig angehauchten Schnee der Berglehne abhob und in großer Schnelligkeit herabgeflogen kam. »Ein Jäger,« erwiderte Lars, »er trägt seine Beute auf dem Rücken; vielleicht ist es Arved Lundholm.«
»Laß uns noch einen Augenblick warten,« bat sie – »o sieh nur, er ist nicht mehr da – Lars, Lars, gewiß ist er abgestürzt – laß uns hin und ihm helfen!«
Ihr Begleiter lachte. »Aber Jomfru, warum sollte er stürzen? Er ist nur in einer Senkung verschwunden und kommt gleich wieder hervor. Arved Lundholm ist der beste Schneeschuhläufer im ganzen Hardanger Lande und kennt Weg und Steg wie seine eigene Tasche; um den brauchst du dir keine Sorge zu machen.«
Wirklich tauchte nach wenig Minuten die Gestalt in kurzer Entfernung vom Wege auf und kam mit Windeseile auf den Schlitten zu. »Gut, daß ich Sie noch treffe, Fräulein Frida,« rief eine frische Stimme, »ich muß Sie um Verzeihung bitten, daß ich heute nicht zur Stelle war, aber dem Jagdeifer läßt sich schwer Einhalt gebieten, und ich habe heute Glück gehabt.« Er wies auf die Felle, die über seinem Rücken hingen, aber sie sah mit noch größerer Neugier auf seine Schneeschuhe. Diese bestanden aus sechs Fuß langen hölzernen Stangen, die sehr dünn und schmal waren und in der Mitte einen Riemen zum Durchstecken des Fußes hatten. »Darauf können Sie sich bewegen?« fragte sie kopfschüttelnd.
»Es ist das schnellste Beförderungsmittel, das man sich denken kann, und wenn Sie erlauben, will ich Sie die Kunst auch lehren.«
»Jomfru Frida hat sehr um dich gezittert, Herr,« sagte Lars lachend; »sie meinte, du wärest in einen Abgrund gefallen und wollte durchaus hin, um dich herauszuziehen.«
Arved faßte die Hand des jungen Mädchens. »Liebe Frida, wollten Sie mich retten?« fragte er lächelnd und doch mit unverkennbarer Rührung.
»Ja,« erwiderte sie errötend, »für Sigrid.«
Er ließ ihre Hand los und zog seine Mütze. »Guten Abend, ich will Sie nicht länger aufhalten,« sagte er kühl und setzte sich in Bewegung; Lars trieb das Pferd in der entgegengesetzten Richtung, und im nächsten Augenblick waren sie schon weit auseinander. »Was war ihm nur?« dachte Frida bekümmert, »er war ärgerlich. Tut ihm die Hindeutung auf seine Wünsche weh, weil er allmählich an ihrer Erfüllung verzweifelt? O Sigrid, wie kannst du so kalt und spröde sein und dem besten Menschen auf Erden solch ein Leid antun!« –
Das Nordlicht hatte in der Tat schärfere Kälte verkündet, und dazu brach nach vielen windstillen Tagen ein Sturm los, der das Haus erzittern ließ. Heulend fuhr der Wind von den Bergen herab und wirbelte den losen Schnee in wildem Tanze umher; bald türmte er ihn zu steilen Hügeln auf, bald jagte er ihn jäh auseinander, daß die ganze weiße Fläche wie Meereswellen auf und ab wogte. Man konnte sich draußen kaum auf den Füßen halten, und die Frauen waren ganz an das Haus gebannt. Das Unwetter hielt jeden Besuch fern, auch Zeitungen und Briefe blieben aus, da der fällige Dampfer die Poststation nicht erreichen konnte, und die Bewohner von Krokengaard waren völlig auf sich selbst angewiesen. Frida nahm alle ihre geistige Kraft zusammen, um sich gegen den schwermutsvollen Einfluß zu wehren, der gleichsam in der Luft lag; sie las und lernte, spielte, sang und half Sigrid in der Wirtschaft; aber sie saß doch manche Stunde still und einsam bei ihrer Handarbeit und versank dabei in träumerisches Grübeln. Immer wieder mußte sie an die verlorne Tochter des Hauses denken und sich ihr Leben ausmalen als eine lange Kette von Kummer und Elend, Reue und Sehnsucht; dann dachte sie an den Brief ihres leichtsinnigen Gatten und beklagte es bitter, daß er nie zu Onkel Nils' Kenntnis gekommen war. Konnte sein Zorn wirklich so schrecklich, sein Groll so unversöhnlich sein? Sie war so tief in alle diese Gedanken versunken, daß sie die Schritte im Zimmer nicht hörte und zusammenfuhr, als sie plötzlich Herrn Holmböes Stimme vernahm. »Ist doch ein böses Ding, unser norwegischer Winter, nicht wahr, Kleine? Wirst mir am Ende auch noch das Plaudern und Lachen verlernen unter all den ernsten Gesichtern. Woran denkst du?«
»An Eva Kristina,« antwortete sie schnell, aber sie erschrak, als die Worte heraus waren, und noch mehr über die Veränderung, die sie in dem Gesicht ihres alten Freundes hervorriefen. Und doch schien in dem heftigen Zusammenziehen der buschigen Brauen mehr Schmerz als Zorn zu liegen. Er wandte sich ab. »Was weißt du davon!« sagte er rauh, »laß die Toten ruhen.«
»O Onkel Nils,« erwiderte sie in flehendem Ton und mit fest zusammengepreßten Händen, »ist sie denn wirklich tot? Weißt du's gewiß? Und wenn sie nicht mehr lebt, so leben doch ihre Kinder – sie leiden Hunger und Not – und sie sind unschuldig – sie haben nichts getan, ihres Großvaters Liebe zu verscherzen.«
Er trat dicht vor sie hin und sah sie mit blitzenden Augen an. »Kinder – Hunger –« stieß er durch die geschlossenen Zähne hervor, »wer hat dir das gesagt?«
Sie hängte sich an seinen Arm und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. »Lieber, lieber Onkel Nils,« bat sie mit zitternder Stimme, »du mußt nicht böse sein – sie haben sich alle vor dir gefürchtet – aber es war doch nicht recht – du hättest es erfahren müssen.«
»Sprich,« sagte er rauh und schob sie von sich, »ich will alles wissen, was du weißt.«
Frida hielt sich an der Lehne des nächsten Stuhles fest und erzählte mit mühsam unterdrückter Bewegung alles, was sie von Frau Lundholm gehört hatte; mit finsterer Miene, halb abgewandt, hörte ihr Herr Holmböe zu, dann hob er ihr gesenktes, in Tränen schwimmendes Gesicht auf und fragte in ernstem Ton: »Und du allein hast keine Furcht vor mir gehabt?«
»Ein wenig wohl,« antwortete sie mit zuckenden Lippen und einem schwachen Versuch zu lächeln, »aber noch mehr Vertrauen zu deinem großen und guten Herzen, Onkel Nils.«
Er zog sie an seine Brust und küßte sie auf die Stirn. »Gutes Kind!« murmelte er bewegt, »hab Dank.« Dann ließ er sie los und ging hinaus. Sie sank in den Stuhl und weinte, aber es waren keine bitteren Tränen; dazu hatten dankbare Genugtuung und stille Hoffnung zu viel Teil daran.
Als Herr Holmböe bei Tische erschien, war ihm von einer ungewöhnlichen Erregung nichts mehr anzumerken; er war sehr schweigsam und sagte den Mädchen nur, er wolle nach Ulvik fahren, wo er wichtige Geschäfte habe.
»Wirst du durchkommen, Großvater?« fragte Sigrid.
»Hoffe doch; werde einen Schlitten vorausschicken – kann's nicht aufschieben.« Frida durchschaute seine Absicht, und ihr Herz frohlockte; sie küßte ihn zärtlich zum Abschied, nickte aber verständnisvoll, als er mit stummer Gebärde den Finger auf den Mund legte. Er sagte nichts über das, was er in Ulvik ausgerichtet hatte, und Frida wagte auch nicht, ihn danach zu fragen; erst als sie Frau Lundholm wiedersah, hörte sie Näheres.
»Du hast wahrlich ein Wunder vollbracht,« sagte jene, »wie hast du es nur angefangen? Das Eis von zwanzig Jahren ist plötzlich gebrochen, und Nils Holmböe spricht von seiner Tochter, als hätte er nie verboten, ihren Namen zu nennen. Wo nahmst du nur den Mut dazu her, Kleine?«
»Ich hatte gar keinen, Tante Ragnild; aber der Gedanke an die armen, verlassenen Kinder ließ mir keine Ruhe. Ich dachte mehr an seine Güte als an seinen Zorn, und ich habe auch nichts von diesem verspürt. Ist in der Sache selbst etwas geschehen?«
»Ich mußte alle meine alten Papiere durchstöbern, um jenen Brief seines Schwiegersohnes zu suchen,« erwiderte Frau Lundholm; »zum Glück fand ich ihn auch. Er machte ihm wenig Freude, aber er erfuhr doch Franks Aufenthaltsort daraus und wollte gleich dorthin schreiben, um sich nach dem Verbleib der Familie zu erkundigen. Hätte man eine solche Milde von seiner Seite ahnen können, so würde man ihm den Brief schon vor acht Jahren gezeigt haben; aber früher war es, als fiele ein Funken in ein Pulverfaß, wenn einer nur auf den Mann anspielte. Die Jahre haben meinen alten Freund sehr zum Vorteil verändert, oder ist es dein sanfter Einfluß, mein Herzenskind?«
In banger Spannung wartete Frida auf den Bescheid aus Amerika; jedesmal, wenn die Postsachen kamen, sah sie mit fragender Miene zu Herrn Holmböe auf, aber jedesmal schüttelte er stumm den Kopf. Es war ein schweigendes Einverständnis zwischen den beiden, ein unsichtbares Band, das ihre Herzen fester zu verknüpfen schien. Doch die Verbindung mit Amerika war in dieser Jahreszeit unsicher und langsam, und es sollten Wochen und Monate vergehen, ehe die ersehnte Antwort eintraf. –
Inzwischen nahm das winterliche Leben seinen stillen Fortgang. Draußen wechselten helle Tage, an denen der Himmel im schönsten Blau erstrahlte und die Luft einen eisigen Kältegrad annahm, mit milderen, an denen der Nebel in dicken Wolken über dem Fjord lagerte und wie eine undurchdringliche Wand jede Aussicht versperrte. Tagelang war die Luft vollkommen still, und dann brauste auf einmal ein rasender Sturm los, der die Wasser zerpeitschte, daß ihr schäumender Gischt weit über die Ufer geschleudert wurde; oder der Schnee fiel so dicht und anhaltend, als wollte er alles Leben unter einem dicken Leichentuch begraben. Auch an den heitersten Tagen blieb das Tal sonnenlos; man sah die lichten Strahlen wohl um die Häupter der Bergriesen spielen, aber sie verstiegen sich nicht bis zu den niederen Wohnstätten sterblicher Menschen. Frida fühlte sich manchmal von tiefem Heimweh beschlichen; der nordische Winter erschien ihr hart und freudlos, bis eine helle Mondnacht mit funkelndem Sternenhimmel oder eine stolze Aurora borealis sie völlig versöhnte und ihr Norwegen wieder einzig schön erscheinen ließ.
Der Verkehr mit den Nachbarn war oft gehindert; an guten Tagen kamen Arved und Ingeborg auf Schneeschuhen herüber, aber jede andere Art der Beförderung war vielfach unmöglich, da die Pferde bis an den Hals in den losen Schnee sanken. Nachdem Frida einige Male im Schlitten umgefallen war und auf Schneeschuhen dasselbe Schicksal erlitten hatte, verlor sie zu beidem den Mut und blieb ganz zu Hause. Es kam freilich noch ein Umstand dazu, der ihre Lebensgeister bedrückte: das war das ganz veränderte Benehmen, das Arved seit jener Begegnung beim Nordlichtschein zeigte. Er war ernster und zurückhaltender geworden und beschäftigte sich nicht mehr soviel mit ihr, sondern beschränkte seine Unterhaltung meist auf Herrn Holmböe. Das betrübte Frida tief, und vergebens fragte sie sich, wodurch sie ihn gekränkt und seine bisherige Freundschaft verscherzt haben könnte.