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Zweites Kapitel.
Am nordischen Gestade


In wolkenloser Bläue spannte der Himmel seinen ungeheuern Bogen aus, und wie träumend schaute zu ihm das weite, glitzernde Meer empor, das die Deutschen die Nordsee, Dänen und Norweger aber die Westsee nennen. Nordwärts, längs der norwegischen Küste, richtete der Dampfer seinen Lauf, aber nachdem die uralte Stadt Stavanger hinter ihm verschwunden war, mußte er seine Schnelligkeit zügeln, denn vor dem Festlande breitet sich ein unabsehbares Gewirr von Inseln und Inselchen aus, die bald umfangreich genug sind, um menschliche Wohnungen zu tragen, bald so nackt und steil aufragen, daß sie mit der granitenen Brust nur die Meereswellen auffangen und in wildem Gebrause zurückwerfen.

»Was für ein wunderbarer Anblick!« sagte Frida Stein zu ihrem Begleiter; »man könnte denken, zornige Riesen hätten hier miteinander gekämpft und die großen und kleinen Felsenbrocken weit umhergeschleudert.«

»Unsere alten Nordlands-Asen waren wohl die Leute dazu, um solche Kampfspiele zu treiben,« antwortete Herr Nils Holmböe mit wohlgefälligem Kopfnicken. »Wollte keinem Schiffer raten, sich unbekannt in diese Wasserstraßen zu wagen! Würde bald an einem der ungeheuern Steinblöcke scheitern, die von der Flut vollständig bedeckt werden, dem Schiff, das sie unversehens streift, aber schnelles Verderben bereiten. Können aber dennoch diesen Felsengürtel segnen – hat unser altes Norwegen oft gegen feindliche Überfälle geschirmt und uns die Engländer zu allen Zeiten vom Leibe gehalten! Sieh da, Kind,« fuhr er fort, indem er mit der rechten Hand nach dem Festlande deutete, »kannst schon die Spitzen unserer Hardanger Berge auftauchen sehen, in deren Schatten ich geboren und aufgewachsen bin. Der da mit dem breiten, schneeweißen Haupt, der alle anderen Gipfel stolz überragt, ist der Folgefonn, ein mächtiger Geselle, der den ganzen Hardanger Fjord beherrscht; schickt uns von seinen ewigen Schneefeldern eine Menge rauschender Gießbäche ins Tal hinab. Ist ein rauhes, armes Land, unser geliebtes Norwegen; die Menschen werden im Kampf mit dem langen, kalten Winter auch hart und knorrig wie unsere Buchen und trotzig wie unsere Felsen, aber unter der rauhen Außenseite schlägt ein warmes Herz. Wirst nicht viel Anmut und Lieblichkeit bei uns finden, Kleine, weder draußen noch drinnen, aber Ehrlichkeit und Treue, auf die man sich verlassen kann.«

Frida sah mit einem sanften Lächeln zu dem alten Herrn auf und drückte seine Hand. »Wenn alle Norweger sind wie Sie, Onkel Holmböe, dann will ich mich nicht fürchten,« sagte sie mit schüchterner Zutraulichkeit.

Unter seinen buschigen Brauen zuckte ein heller Strahl von Freundlichkeit hervor. »Hast ein bißchen Vertrauen zu dem alten Bären gefaßt, Kind?« fragte er liebevoll. »Brummt manchmal gewaltig, meint es aber im Grunde nicht böse – obgleich manche, die es besser hätten wissen können, schlimm genug von ihm gedacht haben.« Er legte plötzlich die Hand über die Augen, als ob ihn die Sonne blende, aber es schien Frida, als ob ein schmerzliches Zucken über seine wetterharten Züge flöge. Ihr Herz wallte auf vor Teilnahme und Zuneigung; gewiß hatte er Kälte und Undank erfahren, wo er es nicht verdiente, und sie nahm sich vor, ihm ihrerseits so viel Liebe zu beweisen, wie es in ihrer Macht stände. Einige Bemerkungen ihres Vaters, die sie damals nur mit halbem Ohr gehört hatte, fielen ihr ein, Andeutungen von Familienzwisten und trüben Erfahrungen, die Herr Nils Holmböe bei seinen nächsten Angehörigen gemacht haben sollte; aber wenn Frida die wahrhaft väterliche Güte bedachte, mit der er in den letzten acht Tagen für sie gesorgt hatte, so gewann sie die Überzeugung, daß ein Mann von so herzlicher Freundlichkeit, so biederer Offenheit unmöglich große Fehler begangen haben könnte.

Der Dampfer bog jetzt in den Hardanger Fjord ein, einen der schönsten der tief in das Land einschneidenden Wasserarme, an denen die norwegische Küste so reich ist. Steile Felswände schließen ihn von beiden Seiten ein; hier nackt und kahl überhängend, als wollten sie sich in die grüne Flut zu ihren Füßen stürzen, dort mit Laub- und Nadelwäldern bis hoch hinauf bekränzt, während Wasserfälle und Gießbäche, silberglänzenden Bändern gleich, über die Bergwände hinabflattern, in Schaumwolken zerstiebend, bis sie unten ihre Wasser wieder sammeln und als rauschende Bäche den rastlosen Lauf fortsetzen. Noch standen die Buchen blätterlos da, noch zeigten die sorgfältig angebauten Felder nur das Grün der Wintersaaten, aber die dunkeln Tannen streckten sich stolz und kühn der Sonne entgegen, die Birken dazwischen waren wie mit lichten, hellgrünen Schleiern behängt; sie woben ein dichtes Kleid um die Felsenmauern und verliehen den großartigen Umrissen des Bildes einen wohltuenden Schmuck. Mit gefalteten Händen saß Frida da und schaute wortlos auf die herrliche Umgebung; sie hatte noch nie ein Gebirge gesehen, und was sich ihr hier zeigte, übertraf an Majestät und Erhabenheit ihre kühnsten Vorstellungen. Ein feierliches Gefühl, das aus Demut und Erhebung gemischt war, kam über sie; sie betete in der Stille den allmächtigen Schöpfer an, dessen bloßes Wort diese Bergriesen geschaffen, diesen Meeresarmen und Flüssen ihre wunderbaren Wege gewiesen hatte.

Auch Herr Holmböe blieb stumm und nickte nur leise mit dem grauen Kopf, als begrüße er liebe alte Freunde, deren Anblick er ungern vermißt hätte. »Wie gefällt dir mein Hardanger Fjord?« fragte er nach langem Schweigen.

»O, er ist schön, wunderschön!« erwiderte sie leise, »es ist, als wäre man in der Kirche. Ich meine, hier müßte man immer andächtig sein und könnte gar nicht lachen und alltägliche Dinge treiben.«

»Findet sich auch wieder,« meinte er mit gutmütigem Lächeln, »aber ein Schade ist's wahrlich nicht, wenn man sich unserem Herrgott nahe fühlt. Da drunten in den Städten, in dem lauten Treiben, dem ewigen Handel und Wandel vergißt man Ihn gar zu leicht oder merkt Ihn nur in der Kirche; aber hier in den Bergen, da redet Er zu uns auf Schritt und Tritt. Wäre auch schlimm um uns bestellt, wenn wir keinen Herrn und Vater im Himmel hätten, der für uns sorgte und uns behütete – ist wahrhaftig manchmal, als wären in der Natur noch die alten Trollen am Ruder, die nur auf böse Streiche bedacht sind und alles Menschenwerk zerstören möchten. – Aber suche deine Sachen zusammen, Kleine; sind gleich am Halteplatz – sehe dort schon das Boot mit unseren beiden braven Jungen, die uns bald nach Hause bringen sollen.«

Knarrend legte jetzt der Dampfer an der Landungsbrücke an; die Maschine stöhnte und schnaubte wie ein ungeduldiges Roß, das sich widerstrebend dem scharfen Zügel in der Faust eines, überlegenen Reiters fügt, und viele Reisende drängten sich unter lärmendem Schreien und Lachen dem Ausgange zu. Eine Menge von Fischern und Bauern aus dem Hardanger Lande, die in Stavanger ihre Einkäufe gemacht und ihren Fang verkauft hatten, verließ hier das Dampfschiff, um zu Fuß oder in Kähnen den Weg weiter fortzusetzen; viele grüßten Herrn Holmböe im Vorübereilen, doch waren sie zu sehr mit ihren Kindern und ihrem Gepäck beschäftigt, um sich aufzuhalten. Mit unermüdlicher Geduld und Freundlichkeit waren die Schiffsleute den Aussteigenden behilflich; hier wurde ein Mann, dessen Schritt etwas schwankend erschien, mit kräftiger Hand über den schmalen Steg geleitet, dort ein weinendes Kind seiner Mutter nachgereicht oder einem Mädchen das vergessene Bündel mit lautem Scherzwort zugeworfen. Endlich war die ganze Gesellschaft in Sicherheit; Herr Holmböe schüttelte dem wackeren Kapitän herzhaft die Hand zum Abschiede und führte Frida über den Steg.

»Grüß Gott, Lars und Thorkel,« rief er den beiden kräftigen Burschen zu, die aufrecht in einem hübschen Boot standen und ihre rotwollenen Mützen zum Gruße schwenkten; »nichts vorgefallen daheim?«

»Alles in Ordnung, Herr,« erwiderten sie mit frohen Mienen. »Jungfrau Sigrid läßt dich grüßen, sie schaut aufmerksam nach dir und dem fremden Fräulein aus. Es war ihr wohl einsam in deiner Abwesenheit, wenn sich auch Karin redlich bemüht hat, ihr Gesellschaft zu leisten.«

Obgleich Frida die Worte nicht verstehen konnte, so las sie doch in den offenen, wohlgebildeten Zügen und lachenden Augen der beiden Brüder – denn daß sie das waren, zeigte eine unverkennbare Ähnlichkeit – so viel mannhafte Herzlichkeit und Teilnahme, daß sie ihnen ganz vertraulich zunickte und sich ohne Widerstreben von Lars in das Boot tragen ließ, während Thorkel das Gepäck unterbrachte und die Ruder ergriff. Es war eine liebliche Fahrt; das Wasser des Fjords zeigte eine glatte Fläche, und in wunderbarer Klarheit spiegelte sich das Bild der Gletscher, der Höfe und der bewaldeten Hügel; selbst die feinsten Linien der köstlichen Landschaft waren deutlich in der ruhigen, fast durchsichtigen Flut zu erkennen, über die der purpurne Abendhimmel einen märchenhaften Glanz ergoß.

Herr Holmböe hatte manches mit seinen Begleitern zu besprechen, und Frida machte sich unterdessen allerlei Gedanken über das Verhältnis, in dem diese zu ihrem väterlichen Freunde stehen mochten. Sie konnten nicht seinesgleichen sein, denn die kurzen, groben Wolljacken, die derben Lederkragen und die schweren, nägelbeschlagenen Schuhe, die sie trugen, kennzeichneten sie als Leute aus dem Volke, so hoch und stattlich auch die Gestalten aufragten, so kühn und frei auch die hellen blauen Augen unter der roten Mütze hervorsahen. Aber sie konnten auch nicht Diener sein, dazu war ihre Haltung und Rede zu unbefangen und freimütig, und die unverkennbare Ehrerbietung erschien vielmehr wie das geziemende Betragen der Jugend gegen das Alter, als wie die Unterwürfigkeit der Untergebenen gegen den Herrn. Das junge Mädchen hatte schon früher einiges von den patriarchalischen Zuständen in Norwegen gehört, wo man zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts durch allgemeinen Volksbeschluß den Adel aufgehoben und eine völlige Gleichberechtigung aller Stände eingeführt hatte, wo der Bauer jedermann »du« nannte; hier sah sie die erste Probe dieser Verhältnisse vor Augen, und sie war ganz danach angetan, ihr Interesse zu erregen. Sie empfand den lebhaften Wunsch, sich mit der Sprache des Landes bekannt zu machen, um recht bald persönlich mit diesen Menschen verkehren zu können, die ihr so anziehend erschienen.

»Das ist Krokengaard!« sagte Herr Holmböe und wies mit frohem Blick auf ein ansehnliches Gehöft, das sich auf einer mäßigen Anhöhe unweit des Ufers erhob. »Meine, dort steht Sigrid und winkt uns mit dem Tuche den ersten Willkommen zu. Geht freilich jetzt noch ein wenig bergan; häng dich an meinen Arm, Kleine, damit es leichter geht. Für bequeme Wagen sind unsere Bergpfade nicht eingerichtet; sind hier meist auf die eigenen Füße angewiesen, wenn wir nicht reiten wollen, was auch nicht für jeden paßt.«

»O, es ist ja nicht so hoch – Sie müssen mich nicht für so schwächlich halten, Onkel Holmböe,« meinte Frida zuversichtlich. Aber sie fand den Aufstieg schwerer, als sie gedacht hatte; ihr drohte bald der Atem zu vergehen, während der alte Herr mit langsamen, aber federkräftigen Schritten weiter stieg, ganz zu geschweigen von Lars und Thorkel, die mit den Koffern auf der Schulter und den verschiedenen Schachteln in der Hand so schnell und leichtfüßig dahinschritten, als gingen sie auf einem glatten Wege in der Ebene spazieren.

Endlich hielten sie vor einer niedrigen Steinmauer still, Holmböe öffnete ein Pförtchen, und sie betraten den Garten, der sich terrassenförmig zum Ufer herabsenkte. Breite Stufen führten zwischen Obstbäumen und geradlinigen Blumenbeeten auf das Haus zu, das mit seinen beiden Fensterreihen und dem auf Säulen ruhenden Altan einen schmucken und wohnlichen Eindruck machte. Eine weibliche Gestalt in hellem Kleide trat ihnen entgegen: »Grüß Gott, Großvater! Willkommen in Krokengaard, Fräulein Stein; hoffentlich haben Sie die Reise nicht allzu beschwerlich gefunden,« sagte eine wohlklingende Stimme in reinem, wenn auch fremdartig klingendem Deutsch. Das also war Sigrid Svendson, deren Gefährtin Frida werden sollte! Obgleich der Abend schon weit vorgerückt war, war es doch noch so hell, daß sie die andere deutlich sehen konnte. Sie fühlte sich ein wenig bedrückt durch den ersten Eindruck, denn es schien ihr, als wäre eine der Walküren des nordischen Altertums lebendig geworden, so hoch und stolz waren Wuchs und Haltung der jungen Dame, so goldig glänzte das volle, blonde Haar.

»Ei, Sigrid, überlaß so zimperlich feines Wesen den Leuten in den Städten,« sagte Herr Holmböe etwas unzufrieden; »gebt euch einen Kuß, Mädchen, und nennt euch »du«, wie es in Norwegen gute alte Sitte ist.«

»Du vergißt, Großvater,« erwiderte Sigrid ruhig, »daß Fräulein Stein mit den hiesigen Sitten unbekannt ist und sich über solche Vertraulichkeit vielleicht wundern könnte.«

»Nein nein!« sagte Frida hastig, »lassen Sie es ganz so sein, wie Ihr Großvater sagt – das heißt, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist,« fügte sie errötend und in großer Befangenheit hinzu. »Vielleicht – mit der Zeit – wirst du mich ein wenig liebgewinnen – es würde mich sehr glücklich machen.«

Sie reichte Sigrid die Hand und sah schüchtern zu ihr auf; in den feucht schimmernden Augen lag eine so rührende Bitte, daß jene sich sofort zu ihr niederbeugte und sie herzlich küßte.

»So ist's recht!« sagte Herr Holmböe, indem er sich vergnügt die Hände rieb. »Aber nun kommt herein, Kinder; verlangt mich herzlich am eigenen Herde niederzusitzen und Gott zu danken, daß ich wieder daheim bin – daheim im lieben alten Norwegen!«

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»Willkommen in Krokengaard!«


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