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Neunzehntes Kapitel.
Ein Ausflug nach Schweden


Viel später als in England legte in Norwegen der Winter sein Zepter nieder und trat die lange umstrittene Herrschaft an den Frühling ab. Aber als erst die Sonne wieder hinter den Bergen hervorkam, und ihre vollen Strahlen die Täler am Hardanger Fjord trafen, da schmolz in kurzem der Schnee; die braune Erde und die grünen Wintersaaten guckten endlich hervor, und begierig griff man überall zu Pflug und Egge, um den Boden zur Frühlingsaussaat zu bestellen. Voller Entzücken begrüßte Frida jeden Keim des neuerwachenden Lebens, und doch war ihr die zweite Hälfte des Winters lange nicht so schwer und niederdrückend erschienen als die erste. Es war manches zusammengekommen, um die stillen, einsamen Monate zu verschönern, vor allem war Sigrid allmählich aus ihrer starren Versunkenheit erwacht; nachdem ihre Arbeit an den Tagebüchern ihres Bruders vollendet war, hatte sie sich überwunden, sie ihren Hausgenossen vorzulesen, und diese gemeinsame Beschäftigung war allen dreien zum höchsten Genuß geworden. Es spiegelte sich ein reicher, edler Geist in diesen Aufzeichnungen ab, und sowohl die persönlichen wie die wissenschaftlichen Erlebnisse weckten das größte Interesse. Manche Fragen wurden dadurch angeregt, deren Beantwortung in anderen Büchern gesucht werden mußte; wo Herrn Holmböes Bücherschätze nicht ausreichten, nahm man die Ulviker zu Hilfe, und so wurde auch das befreundete Haus in dieses Studium hineingezogen.

Der Februar und der März hatten sehr strenge Kälte mitgebracht; bei den Husmaend, d. h. den kleinen Leuten, die auf Krokengaarder Grund und Boden lebten und den Pachtzins für ihre Felder durch Arbeit in der herrschaftlichen Wirtschaft abzahlten, waren die Lebensmittel knapp geworden, und man mußte die Hungrigen speisen. Jeden Tag stand in Signes Küche eine riesige Schüssel mit Gröt auf dem Tische, daneben ein Haufen Fladbröd und ein Eimer voll saurer Milch, und jeder, der da kam, wurde freundlich willkommen geheißen. Frida strickte und nähte unermüdlich; wo ihr ein Kind nicht warm genug bekleidet schien, da half sie aus und hatte die größte Freude daran, wenn sie ein Paar blaugefrorene Händchen in warme Handschuhe oder eine rote Nase in einen dicken Schal stecken konnte. Ihre sanfte, herzliche Freundlichkeit und Teilnahme erwarben ihr allgemeine Liebe; besonders aber hingen die Kinder an ihr, und oft saß sie von einem Kreise umgeben am großen Herde, in dem den ganzen Tag ein helles Feuer brannte, und erzählte den Kindern Geschichten oder ließ sich allerlei aus ihrem Leben und Treiben berichten.

Aber nun war es endlich Frühling geworden! Vorüber die Zeit, wo alles unter Schnee und Eis begraben lag, die Zeit der kurzen Tage und endlos langen Nächte; es war, als würden die Tore eines Kerkers aufgetan, und die Gefangenen dürften wieder das Licht und die Luft der Freiheit schmecken! – Auch für Sigrids tief verwundetes Herz sollte eine neue Zeit beginnen. Sie hatte die Schriften und Sammlungen ihres Bruders an die Universität zu Upsala geschickt und erhielt nun ein ehrendes Dankschreiben von dort, in dem sie mit ihren Angehörigen eingeladen wurde, der jährlichen Feier der Erteilung der Doktorwürde beizuwohnen, da bei dieser Gelegenheit auch ihres verstorbenen Bruders dankbar gedacht werden solle. Sigrids immer noch blasse Wangen erglühten, als sie diesen Brief las und ihrem Großvater reichte; auch er nickte befriedigt. »Was denkst du zu tun?« fragte er.

»Der Einladung zu folgen; ich hoffe, du begleitest mich.«

»Ich – nach Schweden? Habe das Land nie geliebt.«

»So reise ich allein,« erwiderte sie kurz und ging hinaus.

»Was ist das für ein Brief?« fragte Frida, welche die beiden besorgt beobachtet hatte. Herr Holmböe erklärte ihr den Inhalt. »O Onkel Nils, du mußt hinreisen,« rief sie lebhaft; »denke doch, es handelt sich um deinen Enkel, auf den du mit Recht stolz sein darfst.«

»Mag aber nicht unter die Schweden, habe sie nie leiden mögen!« brummte der Alte, indem er mit großen Schritten auf und ab ging und grimmige Rauchwolken aus seiner langen Pfeife stieß.

Frida hängte sich an seinen Arm. »Es ist nie zu spät, sich zu bessern, Onkel Nils,« sagte sie sehr weise.

»Schweig, du Naseweis! Mußt nicht alte Leute schulmeistern wollen,« erwiderte er unwirsch.

Sie setzte eine Weile stumm den Spaziergang an seiner Seite fort und sammelte Mut und Gedanken zu einem neuen Angriff. »Onkel Nils,« fing sie wieder an, »ist es recht, wenn sich Brüder hassen und zanken?«

»Nein,« knurrte er, »ist wider Gottes Gebot.«

»Aber sind denn nicht Schweden und Norweger zwei Brüder, die Gott so recht aufeinander angewiesen hat?«

»Falsch!« rief der alte Herr triumphierend. »Wozu hätte der Herrgott alle die himmelhohen Berge und tiefen Schluchten der Länge nach dazwischen gelegt, als um sie voneinander fern zu halten? Er wußte wohl, was Er tat!«

»O Onkel Nils, du hast Ihn sicher nicht richtig verstanden! Wenn Er jedem der beiden unbändigen Jungen ein eigenes Haus mit hübschen, festen Wänden gab, so wollte Er doch, daß sie durch die offengelassenen Türen recht liebevoll und freundlich miteinander verkehren sollten. Und im Grunde, meine ich, müßten sich die beiden doch recht ähnlich sein.«

»Sind mir zu fein und zu geschniegelt, diese Herren Schweden,« sagte Herr Holmböe grimmig; »meinen immer, sie seien besser als wir – sie die Gebieter, wir nur die gehorsamen Diener. Haben sich aber verrechnet, die feinen Herrchen – finden härtere Kopfe und festere Nacken in unserem Storthing, als sie gedacht haben.«

»Sage, Onkel,« fragte Frida, »findest du in der Verschiedenheit von Geschwistern einen Grund dazu, sich nicht zu lieben? Meine Ilse ist sehr anders als ich, viel hübscher, klüger, glänzender, aber um aller der Eigenschaften willen, die sie vor mir voraus hat, liebe ich sie nur um so mehr.«

»Kleiner Narr!« sagte ihr Begleiter, aber es klang nicht mehr sehr böse. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann beugte sich Frida plötzlich hinab und küßte seine Hand. »Ich bin recht töricht, dich mit solchen Gründen bekämpfen zu wollen, statt bei deinem Herzen anzuklopfen. Du wirst doch Sigrid diese Genugtuung, diese Freude über die Ehre, die dem Andenken ihres Olaf gezollt wird, nicht verkümmern! Ich war dumm genug, dein Brummen für Ernst zu nehmen, du lieber Bär; verzeih mir's.«

Herr Holmböe machte ein etwas verblüfftes Gesicht und tat einige tiefe Züge aus seiner Pfeife. »Ist eine ganz gefährliche kleine Hexe,« murmelte er kopfschüttelnd, »wickelt den alten Mann um ihren Finger wie einen weichen Faden. Was soll ich denn mit dir unterdessen anfangen?« fragte er, indem er plötzlich stehen blieb und sie scharf ansah.

»Mit mir? O darauf kommt gar nichts an; ich bleibe hier oder in Ulvik.«

»Nichts da! Kommst mit – reise nicht ohne dich!«

»O du lieber, einziger, alter Onkel Nils, ist das dein Ernst?« rief sie jubelnd und flog ihm um den Hals. »Dafür muß ich dir noch einen Kuß geben – es ist gar zu gut von dir! Sigrid, Sigrid! wir reisen alle – nach Schweden, nach Stockholm, nach Upsala – o lieber Himmel, wie glücklich bin ich!«

Ihre kindliche Freude tat mehr dazu, den alten Herrn mit seinem Entschluß auszusöhnen, als Sigrids gemessene Zufriedenheit; und manchmal dachte er mit stillem Kummer an den Tag, da dies liebe kleine Wesen sein Haus verlassen würde, um in seine Heimat zurückzukehren.

Vierzehn Tage später wurde die Reise angetreten. Auf der prächtigen Landstraße, die vom Ausgang des Hardanger Fjords nach Südosten führt, fuhren sie bequem dahin und genossen ohne besondere Mühe die wundervollen Ausblicke auf das wild romantische Bergland von Thelemarken. Überall zweigten sich schmale, holprige Wege nach den engen Seitentälern ab, wo stattliche Höfe in tiefer Einsamkeit lagen, oder wo ein uraltes Holzkirchlein mit dem Glockenturm daneben den Mittelpunkt einer weit zerstreuten Gemeinde bildete. Die Posthäuser an dieser Straße, bei denen man anhielt, um die Pferde zu wechseln, waren von der einfachsten Art, wenn auch meist sehr sauber; doch war es gut, daß Sigrid und Signe für reichlichen Mundvorrat gesorgt hatten, denn die Kost, die man hier erhielt, hätte einem einigermaßen verwöhnten Gaumen schlecht behagt. Im Städtchen Kongsberg, das wegen seiner Silberminen berühmt ist, wurde eine längere Rast gemacht; hier wollte man die Familie Almquist aufsuchen, die in der Nähe wohnte. Die Reisenden wurden mit warmherziger Gastfreundschaft empfangen; Frau Almquist hoffte, die kleine Gesellschaft wenigstens acht Tage lang festzuhalten. »Ich möchte unserer deutschen Freundin so gern den Rjukand-Foß zeigen,« sagte sie, »und ihr wißt, wenn ich mir einmal etwas in den Kopf setze, lasse ich nicht davon ab.«

»Geht nicht, liebe Marit, ein andermal ...« begann Herr Holmböe, aber sie fiel ihm schnell ins Wort. »Ein andermal könnte leicht auf den Nimmerstag fallen! Bestelle drei Karriolen zu morgen früh, Rolf; ich hoffe, der Himmel wird auf meiner Seite sein.«

Was konnte man einer so liebenswürdigen Tyrannei gegenüber anfangen? Man mußte sich ihr fügen, und als am nächsten Morgen die Sonne warm und lachend vom unbewölkten Himmel herabschien und den Reif der Nacht schnell verzehrte, da bestiegen alle in der besten Laune die leichten Fuhrwerke, die sie in rascher Fahrt an die Ufer des düsteren Tinnsees brachten, der von zerklüfteten und bewaldeten Bergen eingeschlossen ist. Nun ging es aufwärts; ein Bergstrom toste in wilden Sprüngen an ihnen vorüber, man mußte die Wagen verlassen und zu Fuß weiter gehen. Immer enger wurde das Tal, immer betäubender der Donner, der an ihr Ohr drang, immer mühsamer das Klettern über gewaltige Felstrümmer, bis man einen Platz erreichte, der wie ein Altan über einen Abgrund vorsprang und rings durch himmelhohe Wände eingeschlossen wurde. Von oben stürzt eine glänzend weiße Masse herab, einem Strom geschmolzenen Silbers vergleichbar; klingend und donnernd schlägt sie auf die schwarzen Felsen und prallt davon ab, in Staub zerstiebend und in schimmernde Wolken aufgelöst, bis sie in einem unabsehbar tiefen Schlunde verschwindet. Die gewaltige Größe des Schauspiels, die schauerliche Wildheit der Umgebung überwältigten Frida so sehr, daß sie sich zitternd an den Arm ihres Führers klammerte; sie hatte ein Gefühl, als würde sie im nächsten Augenblick mit hineingerissen werden in den brandenden, brausenden Strudel.

»Wie gefällt Ihnen mein Freund, Frida?« fragte Frau Almquist mit ihrer frischen Stimme. »Ist er nicht wundervoll in seiner schäumenden Lebensfülle, seinem tollen Übermut? Hier könnte ich stundenlang sitzen und dem wilden Gesellen zusehen, der nicht nach den Umwegen der geebneten Straße fragt, sondern sich kopfüber hinabstürzt, wo es ihm gerade paßt. Er geht darum doch nicht verloren, sondern kommt ganz wohlbehalten unten an und setzt seinen Weg als Maanelf fort – ein wenig stürmisch zwar, aber zu allem gutem Werk bereit, denn er treibt eine Menge Mühlenräder. Aber ich glaube gar, die Kleine fürchtet sich,« fuhr sie mit einem mitleidigen Blick auf Frida fort, »sie sieht ganz blaß aus. Arved sagte mir gleich, dies würde nichts für Sie sein, aber ich wollte es nicht glauben; für norwegische Herzen und Sinne kann es doch nichts Herrlicheres geben als so einen Wasserfall.«

»Ich glaube, er hat deiner Beredsamkeit zum Muster gedient, mein Frauchen,« bemerkte Herr Almquist lächelnd.

»Er ist sehr, sehr schön!« sagte Frida hastig, wenn auch mit zitternden Lippen, »mir schwindelte nur ein wenig bei dem Blick in die grauenvolle Tiefe.« Sie schämte sich ihrer Schwäche, und es kränkte sie etwas, daß Arved sie schon vorhergesagt hatte; sie fühlte sich wieder einmal so klein in der gewaltigen Natur dieses Landes, neben seinen kräftigen, starknervigen Bewohnern, denen sie es doch niemals gleichtun konnte.

Erst spät am Nachmittag kehrte man nach Kongsberg zurück, wo man einen sehr gemütlichen Abend verlebte, doch blieb Herr Holmböe taub gegen jede Überredung, noch länger hier zu verweilen. Am folgenden Tage brachte eine kurze Eisenbahnfahrt die Reisenden nach der Hauptstadt Christiania, wo sie bei den Kellgréns die gleiche gastliche Aufnahme fanden. Christiania ist eine freundliche Stadt in reizender Lage, doch fehlt es ihr an hervorstechender Eigenart, und die Merkwürdigkeiten waren bald besichtigt. Das Königsschloß, das Storthingsgebäude, die Universität sind stattliche Bauwerke, und hübsche Villen umsäumen die herrlichen Anlagen und Spazierwege, die sich nach dem befestigten Schlosse Agerhus hinziehen, aber man sieht nirgends etwas Altertümliches. »Christiania ist erst vor etwa zweihundert Jahren an der Stelle der uralten Königsstadt Opslo erbaut worden,« belehrte Herr Kellgrén, »aber leider sind von dieser keine Überreste vorhanden als die, welche unser Museum bewahrt.«

»Christiania muß man eigentlich im Winter sehen,« sagte seine Frau; »wenn der Fjord zur Hälfte zugefroren ist, dann entfaltet sich ein mannigfaltiges Leben auf der glatten Eisfläche, und wenn der Storthing tagt, und der König hier Hof hält, dann gibt es Abwechslung genug. Oder man muß im Hochsommer herkommen, wenn die Wälder der Umgegend im schönsten Schmuck stehen; dann kann man entzückende Punkte aufsuchen und lohnende Ausflüge machen. Leider habt ihr die ungünstigste Zeit getroffen, zu früh und zu spät.«

Mit geheimer Ungeduld ertrug Sigrid diese Aufenthalte; sie fragte in diesem Augenblick nichts nach den Reizen Norwegens, sondern verlangte nur mit tiefer Sehnsucht danach, wieder auf dem heimischen Boden zu stehen, den sie seit drei Jahren nicht wiedergesehen hatte. Je weiter die schwedische Grenze hinter ihnen zurückblieb, um so mehr hellte sich ihre ernste Miene auf; sie saß dicht am Fenster des Eisenbahnwagens und verwandte keinen Blick von der Landschaft draußen. Es war eigentlich kein schönes Land, das der Zug durcheilte; eine unendliche Einförmigkeit, eine wehmütige Trauer war darüber ausgebreitet. Längs des Eisenbahndammes zogen sich endlose Steinwälle hin; jenseits derselben breitete sich ein unermeßliches Gewirr von Felsbrocken aus, die von einem niedrigen Pflanzenteppich und Fichtengestrüpp nur halb verdeckt wurden. Hin und wieder glänzte der Spiegel eines einsamen Sees, den tiefes, lautloses Schweigen umgab – ein passender Aufenthalt für den schwermütigen Wasserneck, der in der schwedischen Volkspoesie eine hervorragende Rolle spielt.

»Das ist der echte ›Skog‹, in dem die Trollen und Waldfrauen hausen,« sagte ein mitreisender Herr, »unser schwedischer Urwald, der der Kultur fast unübersteigliche Hindernisse bereitet. Ich bin in Amerika gewesen und habe den Ansiedlern zugesehen, die sich mitten unter den Baumriesen des dortigen Urwaldes eine Heimstätte gründeten, aber das war leichte Arbeit gegen das, was hier zu tun ist. Denn dort gilt es nur, die Bäume zu fällen oder zu verbrennen, um den fruchtbarsten Boden zu finden, der jede Aussaat dreißigfältig lohnt; hier aber muß der granitene Felsenwald ausgerodet werden. Da genügen nicht Axt, Säge und Feuer; da muß man mit Pulver sprengen und die Trümmer mühsam fortschaffen, ehe ein freier Fleck geschaffen ist, um die Saat auszustreuen. In manchen Gegenden Deutschlands muß man tief in die Erde graben, um Steine zu finden; hier durchwühlt man ein Meer von Steinen, um eine Handvoll Erde zu gewinnen.«

Zuweilen tauchten kleine Ansiedelungen auf; die Häuschen und Ställe mit dunkelm Rot getüncht, die breiten Fensterrahmen mit hellem Weiß bemalt; so boten sie einen hübschen Gegensatz gegen das schwärzliche Grün des Skog und das eintönige Grau der Felsstücke. Kleine Gärten, von hohen Zäunen oder Steinwällen eingeschlossen, umgeben sie; man pflanzt Gemüse und Blumen darin, aber nie einen Baum, denn der schwedische Landmann liebt die warme Sonne seines kurzen Sommers viel zu sehr, um sie irgendwie zu verschatten, und seine Fenster, die immer von sauberen Gardinen umrahmt sind, stehen auch in den heißesten Sommertagen weit offen.

Um Mittag hielt der Zug, die Beamten verkündeten zwanzig Minuten Aufenthalt, und alle Reisenden stiegen aus, um das Mittagessen einzunehmen. Aber es gab kein Laufen und Hasten, kein Stoßen und Drängen; in gemessener Ruhe und Höflichkeit begab sich jeder in den Bahnhofssaal, wo drei lange Tafeln mit verschiedenen Speisen und Getränken bedeckt waren. Auf der einen standen viele kalte Schüsseln mit den stark gewürzten, prickelnden Sachen, die man in Schweden unmittelbar vor der eigentlichen Mahlzeit im Stehen einnimmt, um den Appetit zu reizen; auf der zweiten allerlei warme Gerichte, und auf der dritten Kaffee und andere Getränke, unter denen süße und saure Milch niemals fehlen darf. Alles war in der zierlichsten Weise angerichtet; schönes, feines Porzellan und eine Menge gediegenen Silbergerätes war dazwischen aufgehäuft, und jeder Gast bediente sich ganz nach Belieben. Zum Schlusse trat jeder Reisende an den Schenktisch, nannte selbst die Speisen, die er verzehrt hatte, und bezahlte den Betrag, und bei dem allem ging es so ruhig und anständig zu, daß man sich in einer feinen Privatgesellschaft hätte glauben können. »Das ist schwedische Art!« sagte Sigrid, als Frida diese Bemerkung machte; »so wirst du es überall finden, an allen Orten und in allen Ständen. Man nennt uns nicht umsonst die Franzosen des Nordens.«

»Wenn mir etwas an euch nicht gefällt,« meinte Frida, »so ist es diese große Hinneigung zu Frankreich und die geringe Vorliebe für die Deutschen, mit denen ihr doch viel mehr innere Verwandtschaft habt als mit jenen.«

»Vergiß aber nicht, daß unser Königsgeschlecht aus Frankreich stammt,« erwiderte Sigrid, »und daß unser Volk alle Ursache hat, es zu lieben und ihm dankbar zu sein. Wir haben manchen guten und weisen Herrscher gehabt, aber seit Marschall Bernadotte als Karl der Vierzehnte den Thron bestieg, hat Schweden einen ganz neuen Aufschwung genommen.«

Gegen Abend lief der Zug in den Stockholmer Bahnhof ein; ein offner Wagen nahm die Reisenden auf, um sie nach dem Hotel Rydberg zu führen. Zuerst ging es durch enge, steile Straßen, die in Wellenlinien auf und nieder stiegen, vorüber an dem stolzen Königsschlosse, das den Mittelpunkt der Stadt bildet. Bei jeder neuen Wendung trat ein neues, entzückendes Bild dem Blicke entgegen; erst Reihen stattlicher Häuser, dann der Hafen mit seinem Mastenwalde und prachtvollen Kais – der gewaltige Bogen von Norrbro, der Hauptbrücke Stockholms – Plätze mit Palästen eingefaßt und Standbildern besetzt – hier die schimmernden Wasser des Mälarsees, den zahllose Dampfschiffe durchschneiden, dort die nimmerruhenden Wellen der Ostsee – düstere Felsmassen und dunkelgrüne Wälder, alles vom glühenden Lichte der nordischen Abendsonne begossen – es war ein Anblick, der mehr einem bezaubernden Märchen als der Wirklichkeit glich.

Frida preßte in entzücktem Staunen Herrn Holmböes Hände. »Onkel Nils,« stammelte sie, »hast du so etwas schon gesehen? Ist es nicht, als schaute man im Traum ein Feenland?«

»Verstehe mich schlecht auf Feen und Träume,« erwiderte der alte Herr, »gehe auch lieber auf ehrlichem, festem Boden als auf lauter Brücken und Inselchen. Ist aber so übel nicht, dies Stockholm – will's zugeben.« Sigrid warf Frida einen triumphierenden Blick zu; so wenig freudig dieses Urteil auch noch klang, so bedeutete es doch schon einen großen Sieg über seine Abneigung gegen alles, was schwedisch hieß.

Man wies den Reisenden zwei hübsche Zimmer an, deren Fenster nach dem Gustav-Adolf-Platz hinausgingen, auf dem Frida das Standbild des Heldenkönigs wie einen lieben Freund begrüßte. Es war schwer, die Blicke von allem loszureißen, was sich vor dem Fenster ausbreitete, und Sigrid wurde nicht müde, der Freundin jeden Punkt zu erklären, aber Herr Holmböe mahnte schon ungeduldig, daß es Zeit sei, an das Abendessen zu denken. Im Speisesaal saßen verschiedene Gruppen an kleinen Tischen, und unsere Gesellschaft hatte sich eben an einem derselben niedergelassen, als sich am andern Ende des Saales ein Herr erhob, der dort einsam gesessen hatte und mit schnellen Schritten auf sie zukam. In Sigrids Wangen schoß eine lebhafte Röte; sie stand auf und ging dem Kommenden entgegen. »Mr. Howard!« sagte sie, und ihre klangvolle Stimme zitterte ein wenig, »seien Sie uns gegrüßt! Welchem glücklichen Zufall haben wir dieses unverhoffte Wiedersehen zu danken?«

»Ich hoffte schon seit Wochen darauf,« erwiderte er, ohne ihre Hand loszulassen oder einen Blick von ihrem Antlitz zu wenden, das in seiner Freude doppelt schön erschien; »seit dem Augenblick, da mich die Universität Upsala mit einer Einladung zur Gedächtnisfeier ihres Bruders beehrte. Aber daß ich Sie hier schon finden würde, das ist freilich ein Glück, auf das ich nicht zu hoffen wagte.«

Jetzt kam die Reihe der Begrüßung auch an die beiden andern; Mr. Howard wurde herzlich gebeten, sich zu ihnen zu setzen, denn Herrn Holmböe erschien es selbstverständlich, daß sie fortan zusammengehörten.

»Hoffentlich bringen Sie mir gute Nachricht von meiner lieben Ilse,« sagte Frida.

»Leider habe ich keinen unmittelbaren Gruß an Sie zu bestellen,« erwiderte Mr. Howard etwas befangen; »ich habe Miß Stein seit zwei Monaten nicht gesehen.«

»Ich fürchte, sie überarbeitet sich in London,« sagte Frida betrübt, »sie schreibt jetzt so selten und flüchtig. Werden Lady Jane und Miß Maud denn nie zurückkehren?«

»Ich erwarte sie jeden Tag,« entgegnete er höflich, aber dann wandte er sich mit einer Frage wieder an Sigrid, und die Unterhaltung wurde allgemein. Frida beteiligte sich wenig daran; sie beobachtete Mr. Howard mit einigem Unbehagen, denn seine große Aufmerksamkeit gegen ihre Gefährtin gefiel ihr nicht. Sie hatte sich auf Grund von Ilsens Erzählungen ein ganz allerliebstes Luftschloß für ihre Lieblingsschwester erbaut, worin dieser Herr die Rolle des Königssohnes spielen sollte; nun schien er aber ganz andere Gedanken zu hegen, die doch nimmermehr zum Ziele führen konnten. Sigrid war so gut wie verlobt, wenn auch diese Angelegenheit des Trauerfalles wegen im Winter ganz geruht hatte. Aber auch Sigrid war ihr heute unverständlich; ihr Wesen und ihr Aussehen war plötzlich so verändert, als hätte sich ein neuer Lebensstrom durch ihre Adern ergossen. Frida hatte noch gar nicht gewußt, daß diese ruhigen Augen so strahlen, dieser ernste Mund so lieblich lächeln könnte. Sie schien auch keine Ermüdung zu spüren, während Fridas Augen bald zuzufallen drohten; die lange Tagereise hatte sie sehr erschöpft, und sie war froh, als Herr Holmböe entschieden zum Aufbruch trieb.

Am nächsten Morgen trafen sie Mr. Howard natürlich schon beim Frühstück und wanderten mit ihm in die Stadt hinaus; Sigrid, die hier wohlbekannt war, übernahm die Führung. Auch im hellen, nüchternen Tagesschein verlor Stockholm nichts von seiner wunderbaren, eigenartigen Schönheit. Sie standen auf Norrbro, der langen, prächtigen Brücke, die auf der einen Seite ganz mit eleganten Läden besetzt ist, während man über das Geländer der anderen einen weiten Ausblick genießt. Da fließt rechts der Nordstrom, der Ausfluß des Mälarsees, eingefaßt von den Palästen Norrmalms und Riddarholms, der beiden stolzesten Stadtviertel; mitten drin aber liegt ein kleines Eiland, Strömsholm, das mit Bäumen bepflanzt und mit einem Kaffeehause versehen ist, zu dem flinke kleine Dampfboote wie schillernde Eidechsen unaufhörlich hinübereilen. Nach links blickend lag zu ihren Füßen das köstliche Strömparterre, zu dem gewaltige Steintreppen, aus behauenen Granitquadern wie für die Ewigkeit gebildet, hinabführen. Hier zu sitzen, mitten im Herzen der großen Stadt, und doch still und ungesehen wie in einer Berg- oder Waldesgrotte, leise umrauscht von den plätschernden Fluten des Nordstroms und umfächelt von der frischen Brise der Salzsee – über sich die Wipfel herrlicher alter Bäume, vor sich die stattlichsten Gebäude der Residenz und drüben den sonnenbeglänzten Hafen mit seinem regen Leben – das ist in der Tat ein traumhafter Genuß. Erst halblaut, dann immer fester und kräftiger sprach Sigrid die Verse des schwedischen Lieblingsdichters, Esaias Tegnér:

Auf Norrbro schaust du deiner Jugend Bild!
Da mischt der Nordstrom seine süßen Wasser
Mit salz'gen, gleichwie deine Jugend knüpft
Des Kindes Spiele an des Mannes Sorgen.
Wie prächtig spiegeln sich im Strome ab
Turm, Heldenbilder, Schloß und Musentempel,
Und dort im Abendglühen Riddarholm,
Wo Schwedens Ehre unterm Marmor schlummert.
Und wie der Strom dann weiter fließt und weiter,
Der Sturm beginnt und hoch die Wogen peitscht:
Da sehnt ermattet er sich wohl zurück
Nach stillen Buchten, grünen Mälarinseln
Und nach der Fichtenwälder Friedensstatt.
Vergebens alles Sehnen, vorwärts muß er,
Muß schwinden in des Meeres bitterm Salz.
Auf Norrbro schaust du deiner Jugend Bild!

»Verzeihen Sie,« fügte Sigrid hinzu, indem sie errötend zu Mr. Howard aufblickte, »ich vergaß, daß Sie unsere Sprache nicht verstehen.«

»Aber es ist trotzdem ein Genuß, sie aus Ihrem Munde zu hören!« erwiderte er. »Welcher Reichtum, welche Bestimmtheit liegt in diesen vollen Tönen, diesen klangvollen Endungen! Mir scheint, sie hat noch viel von der Urkraft ihrer Wikingerahnen bewahrt, während unsere modernen Sprachen sämtlich verwaschen und abgeschliffen sind.«

Weiter wanderten sie und erstiegen den Hügel Mosebacke, von dessen Höhe man einen überwältigend schönen Rundblick genießt. Hier ist die unabsehbare Fläche des Mälarsees mit seinen vierzehnhundert Inseln und tiefeingeschnittenen Ufern weit ausgebreitet; hier liegen Dörfer und Flecken, Kirchen und Schlösser, halb zerfallene Burgen und neuerbaute Landhäuser vor dem staunenden Blick. Zwischen den Häusermassen liegen die großen Seeschiffe, auf nacktem, starrendem Felsgestein reiht sich Palast an Palast; neben entzückenden Lustgärten und herrlichen Parks erhebt sich der schwarze Skog. Wildnis und höchste Kultur, tiefe Einsamkeit und das volle Leben der Großstadt – alles ist hier in eigentümlichem Durcheinander zu finden, und dieses eben gibt Stockholm einen Reiz, den kaum eine zweite Stadt besitzt.

Auch dem Nationalmuseum wurde die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt; es enthält eine schöne Sammlung von Gemälden und Bildhauerwerken aus aller Herren Ländern; denn die schwedischen Könige und Generale waren jederzeit darauf bedacht gewesen, die Kunstschätze der eroberten Städte – und im Dreißigjährigen Kriege fielen sehr viele in ihre Hände – nicht etwa zu zerstören, sondern in die Heimat zu schicken. Merkwürdigerweise hat Schweden selbst noch gar keine nennenswerte eigene Kunst; während das verwandte Dänemark in Thorwaldsen den größten Bildhauer der Neuzeit, Norwegen eine Anzahl hochberühmter Maler hervorgebracht hat, stehen die schwedischen Künstler ganz vereinzelt da, und ihr Ruf überschreitet nicht die Grenzen ihres Landes. Aber die Erwerbung eines antiken Meisterwerkes, wie des »schlafenden Edymion«, zeigt deutlich, daß es dem schwedischen Geiste nicht an der Fähigkeit fehlt, die Schönheit in der Kunst zu verstehen und zu würdigen.

An einem sonnigen Nachmittage bestieg die Gesellschaft eines der rastlos kreuzenden Dampfschiffe, das sie in wenig Minuten vom Strömparterre nach dem Tiergarten, dem Stolz der Stockholmer, brachte. Diese Schiffchen sind so leicht und fein gebaut, daß sie der Hand des Maschinisten, der zugleich das Steuer führt, wie ein lebendes Wesen gehorchen. Er wendet sie vor- und rückwärts und führt sie mit solcher Sicherheit ans Ufer, daß nie der leiseste Stoß zu merken ist. Es waren vielleicht hundert Personen auf dem Dampfer, aber wie still ging es darauf zu! Die Schweden sind ein ungemein ruhiges Volk; man hört fast niemals laute Zurufe, Witze, schallendes Gelächter; alles ist gedämpft, die Unterhaltung an öffentlichen Orten wird in leisem Ton geführt, und selbst die heiterste Gesellschaft ist immer nur stillvergnügt.

Eine Reihe hübscher Vergnügungslokale mit reizenden Gartenanlagen, luftigen Sälen und schattigen Veranden zieht sich in langer Straße durch die Tiergarteninsel. Noch waren die Wipfel der prachtvollen Eichen unbelaubt, aber schon waren die Rasen frisch begrünt, einzelne Blumen blühten, und die Sträucher schmückten sich mit zarten Blättern; dazu brannte die Sonne so heiß, daß man gern unter ein schützendes Dach flüchtete. Unvergleichlich schön ist der wohlgepflegte Park, der Seen und ungeheure Felsmassen enthält und an vielen Stellen in vollständigen Wald übergeht. Auf allen Wegen wimmelte es heute von zufriedenen und geputzten Menschen, die den schönen Frühlingstag im Freien genießen wollten; die Stockholmer sind überhaupt große Naturschwärmer, und alle Stände lieben es, sich nach der Tagesarbeit in ihrer herrlichen Umgegend zu ergehen. Als Frida von einer felsigen Höhe herab das mannigfaltige Bild überschaute und hinter den Kronen der mächtigen Waldbäume die weißen Segel sah, die über die blaue Meeresflut glitten, da überkam es sie plötzlich wie brennendes Heimweh; bespülte doch dieselbe See den heimischen Strand! »Um wieviel näher bin ich dem Vaterhause hier als in Krokengaard!« sagte sie träumerisch; »wenn ich's recht bedacht hätte, wäre ich von hier aus gleich nach Hause gereist!«

Herr Holmböe zog ihren Arm an sich, als müßte er sie festhalten. »Wirst doch den alten Mann nicht allein lassen,« flüsterte er ihr fast ängstlich zu – »wenigstens nicht, ehe die Antwort aus Amerika da ist!«

Der Ton ging ihr zu Herzen; sie schmiegte sich an ihn und sah zärtlich zu ihm auf. »Nein, Onkel Nils, ich bleibe bei dir,« sagte sie leise und drückte seine Hand. Wie dankbar empfand sie es, daß sie dem lieben alten Manne, dem das Leben so viele harte Prüfungen gebracht hatte, wirklich etwas sein durfte!

Es war schon spät, als sie alle über den Gustav-Adolf-Platz ihrem Gasthause zugingen. Auf dem Fußgestell des Standbildes war eine Menge kleiner Gipsfiguren aufgestellt, aber niemand dabei zu sehen. »Was mag dies hier bedeuten?« fragte Frida erstaunt.

»Es ist wohl der Kram eines wandernden Händlers, der seine zerbrechliche Ware nicht erst bis in die Herberge schleppen mochte,« erwiderte Sigrid gleichmütig.

»Das ist großartig!« sagte Mr. Howard. »Was für eine Ehrlichkeit der Bevölkerung setzt dieser Zug harmlosen Vertrauens voraus! Ich fürchte, in London möchte bis zum nächsten Morgen wenig von dem ganzen Krame übrig sein!«

»Dafür sind wir auch in Schweden!« erwiderte Sigrid in frohem, stolzem Ton. –

Eine Eisenbahnfahrt von wenig Stunden führte am folgenden Morgen die Reisenden nach Upsala, der uralten Pflegestätte schwedischer Wissenschaft, die vor sechshundert Jahren gegründet und von Gustav Adolf erneuert wurde. Mancher wohlbekannte Name knüpft sich an die alte Hochschule, vor allem der des weltberühmten Naturforschers Karl Linné, der hier lehrte und starb. Der Bahnhof war ungewöhnlich belebt; jeder Zug brachte auswärtige Gäste, die der Feier beiwohnen wollten und von Studenten empfangen wurden; alle Straßen waren voll Menschen, unter denen die Hochschüler in ihren weißen Mützen mit den blaugelben Kokarden stets kenntlich waren. Auch Sigrid wurde von einigen Freunden ihres Bruders erwartet, und die ganze Gesellschaft wurde nach dem Gasthofe geleitet, wo die Wohnung für sie bereitet war; man machte sich schnell bekannt, auch Mr. Howard wurde als Gast der Universität herzlich begrüßt. Während die Damen noch ihre Reisekleider ablegten, sahen sie eine große Menschenmenge die Straße füllen; die Studenten hatten den Kanzler der Hochschule in feierlichem Zuge eingeholt und brachten ihm nun vor dem Hause ein Ständchen. Wundervoll klang der Chor der jugendfrischen Stimmen, denn der Gesang wird in Upsala mit Vorliebe gepflegt, und der meisterhafte Vortrag ist ein ganz besonderer Stolz der Musensöhne. In begeistertem Schwunge ertönte ihr Lied:

Du blauendes Meer, das Jahrtausende schon
Skandinaviens Klippen umschäumte,
Das sein Joch stets zerbrach, wenn der Winter entflohn,
Und im Jubel sich himmelan bäumte,
Dir weih' ich mein Lied, denn es zieht mich zu dir,
Wenn die Welle schlägt gegen die Schären.

Du freies, du stolzes, du brausendes Meer
Mit der Wogen gigantischen Massen,
Sing' mir von den Siegen der Vorzeit und lehr',
O lehr' mich dein Lied recht erfassen!
Ich lausche entzückt deinen Sagen dann hier,
Wo die Welle schlägt gegen die Schären.

Und siehst du einst Flotten sich nah'n unserm Strand,
Verderbliche Feindesgewalten,
Dann tön's wie ein Schlachtruf hinein in das Land:
»Zu den Waffen, ihr Jungen und Alten!«
Und umsonst nicht erbraust er, ihn donnert dem Volk
Die Flut, schlägt sie gegen die Schären.

Denn es blieb sich noch treu in Gebirge und Tal,
Das stolze Geschlecht der Schweden!
Noch glaubt es an Gott, noch an schwedischen Stahl,
Will die Sprache der Väter noch reden.
Der Feind, der uns dräuet, der finde sein Grab
In den brandenden Wellen der Schären!

(Aus: Die Ostsee von König Oskar II.)

Zwei Studenten hatten sich Sigrid und ihrer Gesellschaft als Führer angeboten, und mit einer gewissen Herzenserleichterung überließ Herr Holmböe die Sorge für seine Pflegebefohlenen für eine Zeitlang jüngeren Händen. Die Jugend zog aus, um die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu besichtigen, die eine große Anzahl wertvoller Altertümer aufweist. Man wurde des Schauens und der Unterhaltung nicht müde, und ungern gehorchten die jungen Leute, als der alte Herr darauf drang, daß man sich an diesem Abend zeitig trennte; doch war an Schlaf noch lange nicht zu denken. Kaum waren die Mädchen in ihrem Zimmer angekommen, als unter ihren Fenstern Gesang ertönte; sie konnten nicht daran zweifeln, daß er ihnen gälte. Sigrid wußte wohl, was dabei zu tun sei; sie stellte mehrere Lichte an das eine Fenster und öffnete das andere, hinter dessen Vorhängen beide ungesehen hinausblicken konnten. Eine Schar weißmütziger Studenten hatte sich unten aufgestellt, und wunderlieblich tönte ihr Lied durch die abendliche Stille:

Es zieht der Strom seine Gleise
In rauschenden Träumen,
Es flüstert der Wind so leise
Hoch in den Bäumen,
Und unten in dem Busch erklingt
Ein Lied, das lockend die Drossel singt.
Der Himmel leuchtet wie Silberschein,
Der Sonne Goldstrahl entflieht vor der Nacht;
Der Friede zieht in die Welt hinein,
Und die Liebe erwacht.
Welche Worte beschrieben
Den Zauberklang,
Der herniederbebt?
Vom Himmel schwebt
Lieb' und Gesang,
Gesang und Lieben.

(Schwedisches Lied.)

»O mein Vaterland, mein Schweden!« sagte Sigrid, als draußen alles verstummt war, und breitete wie in einer Entzückung ihre Arme aus, »jetzt fühle ich erst, wie ich gedarbt habe in diesen langen drei Jahren! Olaf, Olaf, wenn ich hier mit dir leben dürfte, würde mein Herz dann noch etwas anderes begehren, wäre es nicht Glückes genug für dieses Leben gewesen?« Sie schien ganz vergessen zu haben, daß sie nicht allein war; lange stand sie da, sinnend und träumend, zuletzt schwebte ein Lächeln um ihre Lippen. Woran dachte sie? an Arved Lundholm und eine künftige Heimat in Norwegen? Fridas Herz wurde plötzlich schwer vor Bangigkeit; ihr ahnte, daß Sigrids Gedanken ganz andere Wege gingen, daß ihrem Freunde eine bittere Enttäuschung bevorstünde. Aber noch sträubte sie sich, daran zu glauben.

Am nächsten Morgen mußte man sich schon früh in den Dom begeben, um die angewiesenen Plätze einzunehmen; das gewaltige Gebäude füllte sich schnell mit Menschen, und nicht nur die höheren Stände waren begierig, der Jahresfeier beizuwohnen, auch einfache Handwerker und Dienstmädchen sah man unter der Menge. Sehr zahlreich war die Damenwelt vertreten; da waren nicht nur die Mütter und die Schwestern der Studenten, sondern viele Bräute und sogar deren Frauen, denn es ist in Schweden nichts Ungewöhnliches, daß ein Student heiratet. Jetzt ließ die Orgel ihre feierlichen Weisen ertönen, und in langem Zuge betraten die Würdenträger der Universität, die geladenen Gäste, die Studierenden und viele andere, die einst zu Upsala ihre Bildung gesucht hatten, den ehrwürdigen Dom. Vor dem Altar hatten sich die Sängerchöre, ein männlicher und ein weiblicher, aufgestellt, das Schiff der Kirche nahm die studierende Jugend, eine erhöhte Tribüne den Kanzler und die Professoren auf. Herrlicher Gesang der vereinten Chöre leitete die Feier ein; dann hielt der Rektor eine lateinische Rede und bedeckte am Schlusse sein Haupt mit einem Kranze. In demselben Augenblick weckte der Donner der Kanonen ein lautes Echo in den hohen Gewölben des Doms, und in das dumpfe Getön fiel der Chor der schön geschulten Stimmen ein. Nun wurden die Namen derer aufgerufen, die in dieser Stunde den Lohn ihres Fleißes empfangen sollten; unter erneutem Kanonendonner krönte der Kanzler jeden einzelnen mit einem Lorbeerkranze und überreichte ihm mit Worten des Lobes und der Ermahnung das Diplom, das ihn zum »Magister« machte. Dann erhob er seine Stimme zu höherem Schwunge und gedachte eines Jüngers dieser Hochschule, der vor wenig Jahren an dieser Stelle gestanden und den Ehrenkranz empfangen habe, auf den seine Lehrer und Genossen als auf einen der Auserwählten gesehen hätten, die bestimmt seien, eine Leuchte der Wissenschaft und ein Stolz ihres Vaterlandes zu werden. Ihn habe der Trieb des Forschers hinausgeführt in ferne Länder, wo ein früher, beklagenswerter Tod ihn hingerafft habe, aber seine Sammlungen und Aufzeichnungen blieben ein unvergänglicher Schatz für die Universität, der er angehörte, und unvergessen für alle Zeit bliebe unter den Lehrenden und Lernenden von Upsala der Name: Olaf Svendson!

Ein Gemurmel ging durch die Kirche, viele Augen richteten sich auf Sigrid, aber sie sah es nicht; sie hatte sich halb erhoben und wie hingerissen diesen Worten gelauscht. Als sie verklungen waren, sank sie auf ihren Sitz zurück, und heiße Tränen stürzten aus ihren Augen – die ersten, die sie seit dem Tode ihres Olaf geweint hatte. Wohl fühlte sie in diesem Augenblick die ganze Größe ihres unersetzlichen Verlustes, aber ihm war die Bitterkeit genommen; ihr teurer, geliebter Bruder war nicht ausgelöscht wie ein Licht, das keine Spur hinterläßt, sondern sein Name war in die Jahrbücher der Wissenschaft eingetragen, und das Vaterland gedachte seiner mit Stolz und Dank. Trotz ihrer Trauerkleidung und der Wunde in ihrem Herzen fühlte sie sich erhoben und beglückt; sie hätte mit keiner der Frauen und Jungfrauen tauschen mögen, die nach beendeter Feier ihre gekrönten Söhne, Brüder und Verlobten freudig begrüßen durften.

Der Ball, der abends in den herrlichen Räumen der Bibliothek stattfand, vereinte alle Festgenossen, und die hell erleuchteten, schön geschmückten Säle boten einen reizenden Anblick dar. Alle diese stattlichen Jünglinge und holden Mädchen mit den hohen, schlanken Gestalten, den vorherrschend hellen Haaren und blauen Augen bewegten sich, trotz alles Frohsinns, mit einer so anmutigen Würde und vornehmen Ruhe, daß Frida ganz entzückt davon war und nichts begehrte, als dem bunten Schauspiel zusehen zu dürfen. Und welche liebliche Einfachheit herrschte unter den jungen Damen! Da war keine Überladung mit Schmuck oder kostbaren Stoffen; die meisten trugen luftige, weiße Kleider, die mit bunten Bändern oder Blumen verziert waren, und in denen sie so jugendlich und frisch aussahen wie die Natur an einem Frühlingstage.

Am andern Morgen nahm Frida mit Betrübnis wahr, daß Herr Holmböe sehr müde und abgespannt aussähe; man vergaß es für gewöhnlich über seiner kräftigen Gestalt und aufrechten Haltung ganz, daß er über siebzig Jahre zählte, aber das Treiben der letzten vierzehn Tage war dem an das stille Gleichmaß ländlichen Lebens Gewöhnten doch zu viel geworden. Für Sigrid war es freilich ein großes Opfer, ihren Aufenthalt in Schweden auch nur um eine Stunde zu verkürzen, und mit schwerem Herzen gab sie Fridas Bitten nach, noch heute die Heimreise anzutreten. »Wir müssen fort,« sagte sie seufzend zu Mr. Howard, »der Großvater erträgt die Unruhe nicht länger. Sie bleiben natürlich noch hier – ich könnte Sie darum beneiden!«

»Wenn Sie erlauben, schließe ich mich Ihnen an,« erwiderte er ohne Bedenken; »was soll ich noch hier, wenn mir mit Ihnen die liebenswürdige Vermittlerin mit fremden Menschen und Verhältnissen geraubt wird? Ich wollte ohnehin gern noch einen Ausflug nach Norwegen machen.«

So reisten die vier so einträchtig von Upsala ab, wie sie gekommen waren, und ohne weiteren Aufenthalt kehrte man auf dem nächsten Wege nach Krokengaard zurück.


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