Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel.
Unter dem Weihnachtsbaum


So war Weihnachten herangekommen, auch in Norwegen ein Fest der Freude, das von Großen und Kleinen sehnsüchtig erwartet wird. In der Einförmigkeit des langen, harten Winters bildet es eine willkommene Unterbrechung, und da um diese Zeit auch der bescheidenste ländliche Haushalt noch einige Vorräte an Mehl und gedörrtem Hammelfleisch, an Speck und Schinken aufweist, so herrscht überall eine sorgenfreie, fröhliche Tätigkeit. Karin Bunserud, die sonst häufig der alten Signe zu Hilfe kam, konnte jetzt zu Hause kaum entbehrt werden; es gab soviel zu backen, das heimische Bier zu brauen, das Haus zu säubern, denn man mußte auf viele Gäste rechnen. Ging auch die kirchliche Feier allem voran, so wurde doch der Rest der Tage dem Vergnügen geweiht, Tanz und heiterer Mummenschanz sollte jung und alt erfreuen. Bei den norwegischen Bauern dauert das Julfest, wie es genannt wird, wenigstens vierzehn Tage, in denen man von einem Gaard zum andern zieht, und viele alte Gebräuche stammen noch aus der Zeit, da man hier Thor und Odin anbetete.

Frau Lundholm hatte die Krokengaarder Freunde herzlich eingeladen, die Festtage in Ulvik zuzubringen; sie erwartete außerdem ihre verheirateten Töchter mit deren Familien. Herr Holmböe ließ Sigrid entscheiden; er wollte ihrer Stimmung keinen Zwang antun, doch war sie dafür, der Einladung zu folgen. Da das Wetter freundlich war, und es Onkel Nils selbst übernahm, Frida sicher nach Ulvik zu bringen, so hatte diese keinen Grund zur Besorgnis, und wenn sie der Gedanke an die vielen fremden Menschen auch etwas einschüchterte, so freute sie sich doch, das liebe Fest unter Kindern zu verleben.

Als sie wohl verhüllt vor die Tür trat, sah sie Thorkel damit beschäftigt, große Bündel Hafer auf Zäunen und Dächern zu befestigen. »Was macht er da?« fragte sie Lars, der die Pferde hielt.

»Er bereitet den Vögeln das Weihnachtsmahl, Jomfru; die müssen doch auch eine Freude haben.«

Die Bündel waren alsbald von Hunderten kleiner Vögel umflattert, die sich eifrig bemühten, die Körner auszupicken; es war ein lautes, fröhliches Gezwitscher unter der hungrigen Schar, als ob sie ihren Dank für die Gabe ausdrücken wollte. »Das ist hübsch!« sagte das junge Mädchen lächelnd. »Habt Ihr Euch das ausgedacht?«

»Bewahre,« erwiderte der junge Bauer, »das ist alte Sitte bei uns, die keiner versäumt; auch in den Städten kauft sich heute jeder eine Garbe und stellt sie den Vögeln hin. Unser Vieh erhält heute auch ein reichlicheres Teil Futter; es soll doch jede Kreatur teilhaben an der großen Freude, die uns der Herrgott beschert hat.« –

In Ulvik wimmelte das Haus von frohen Menschen jedes Alters, und der heitere Ruf: »Gloedelig Jul!« empfing die Ankommenden. Da waren die Kellgréns, ein stattliches Paar, das im Österdal, einer der fruchtbarsten Gegenden Norwegens, eine schöne Besitzung inne hatte, den Winter aber in Christiania zubrachte, wo Herr Kellgrén seinen Bezirk im Storthing vertrat, ernsten Studien oblag und gelehrte Bücher schrieb; dann waren die Almquists da, die in Thelemarken wohnten, wo der Mann einen schwunghaften Holzhandel betrieb. Beide waren von einer großen Kinderschar begleitet, und alle hatten unterwegs allerlei Abenteuer und Unglücksfälle erlebt, denn winterliche Reisen in Norwegen sind nicht ohne Beschwerden; da sie aber ohne böse Folgen verlaufen waren, so dienten sie jetzt nur zu scherzhafter Neckerei und frohem Gelächter. Frida befreundete sich schnell mit den Kindern, die vor glücklicher Ungeduld den Abend kaum erwarten konnten. Doch erst mußte das Abendessen eingenommen werden, das sich zum Kummer der jungen Gesellschaft lang ausdehnte; was hatten sich nur die Erwachsenen gerade heute zu erzählen?! Aber endlich öffneten sich doch die geheimnisvoll verschlossenen Türen des großen Wohnzimmers, ein strahlender Weihnachtsbaum wurde sichtbar, und mit einem lauten Jubelgeschrei stürmten die Kinder hinein, während die Erwachsenen langsamer folgten. Nun faßten sich alle bei den Händen, und indem sie sich in feierlichem Takte hin und her bewegten, sangen sie ein altes, einfaches Weihnachtslied, das jedem von alters her vertraut war.

Frida traten die Tränen in die Augen; es war ganz ähnlich wie daheim und doch so ganz anders: fremde Gesichter, die Laute einer fremden Sprache um sie her – sie mußte an sich halten, um nicht zu weinen, wo alle andern fröhlich waren. Nun ging es an das Verteilen der Geschenke, die sorgfältig eingehüllt an den Zweigen des Baumes hingen; eins nach dem andern wurde herabgenommen, der daran befestigte Name ausgerufen und das verheißungsvolle Päckchen in die weit ausgestreckten Arme des Empfängers gelegt. Dann gab es einige Augenblicke namenloser Spannung, während vor Ungeduld zitternde Hände die Hüllen lösten – und dann laut ausbrechenden Jubel über einen erfüllten Herzenswunsch oder eine wohlgelungene Überraschung. Auch Frida ging nicht leer aus; nicht nur Onkel Nils und Sigrid, Frau Lundholm und Ingeborg hatten sie liebevoll bedacht, auch verschiedene Briefe und Päckchen aus der Heimat und von Ilse wurden ihr hier überreicht, und sie fühlte sich plötzlich von der Liebe und den Gedanken der Ihrigen umgeben. Nur Arved hatte ihr nichts geschenkt und war ihr heute beinahe auffällig ausgewichen; das gab ihr, inmitten aller Freude, einen Stich ins Herz, und sie schämte sich fast der kleinen Gabe, die sie für ihn gearbeitet, und für die er sich höflich, aber doch mit einiger Zurückhaltung bedankt hatte.

Der Baum war leer, die Lichte herabgebrannt, man wollte eben das Zimmer verlassen, da rief eins der kleinen Mädchen: »Hier ist noch etwas vergessen!« Ein ziemlich umfangreiches Paket wurde von den unteren Zweigen losgelöst, es zeigte Fridas Namen. Erstaunt und mit klopfendem Herzen öffnete sie es – schönes, weiches Pelzwerk sah ihr entgegen, genug, alle ihre stillen Wünsche zu befriedigen, denn der Mangel eines warmen Pelzmantels hatte sich ihr in diesem rauhen Lande schon oft aufgedrängt. »Ingeborg,« rief sie errötend, »welche Pracht – von wem kommt das?«

»Errätst du es nicht?« fragte die Freundin lachend. »Sieh nur, es sind die Felle des Vielfraßes, der hoch oben in den Bergen sein Wesen treibt. Wer, denkst du, hat den scheuen Tieren dort bei Tag und Nacht aufgelauert?«

»Arved?« fragte Frida, »und für mich?«

»Freilich, für wen denn? Weißt du noch, wie du Mamas Pelz bewundertest? Das hat er sich wohl gemerkt. Arved, komm doch her und berichte dieser ungläubigen jungen Dame von deinen Jagdabenteuern!« Damit lief sie lachend fort und ließ ihren Bruder und Frida allein. »O wie gut ist das von Ihnen – haben Sie tausend Dank dafür – ich hoffe, es hat Ihnen nicht zu große Mühe gemacht!« stammelte sie, aber sie konnte heute den alten, unbefangenen Ton nicht finden, in dem sie immer mit ihm verkehrt hatte.

»Es hat mir große Freude gemacht, die Felle zu erjagen,« sagte er ernsthaft, »möchte es Ihnen nur nicht unlieb sein, sie zu tragen.«

»O, im Gegenteil, ich werde stolz darauf sein! Und nicht wahr,« fügte sie bittend hinzu, indem sie schüchtern zu ihm aufsah, »wir bleiben doch immer gute Freunde, wie bisher? Zwischen uns beiden kann sich nie etwas ändern?«

»Nein, niemals!« erwiderte Arved mit einem tiefen Seufzer und küßte die kleine Hand, die sie ihm reichte. »Ich glaube, Frida, Sie sind heute noch gerade so gegen mich gesonnen wie am ersten Tage unserer Bekanntschaft, und so wird es auch immer bleiben!«

»Immer, immer!« rief sie froh. »Wir sind zwei gute Kameraden, die jederzeit treu zueinander halten.«

Sie gewann nach diesem Gespräch ihre ganze sanfte Heiterkeit wieder, denn sie fühlte sich von einer schweren Last befreit, und nahm an der herrschenden frohen Stimmung vollen Anteil. Man spielte mit den Kindern, man stimmte in ihre Weihnachtslieder ein und ließ sich von den Größeren die Gedichte aufsagen, die sie für das Fest gelernt hatten. Frida war glücklich, wenn sich unter der Hülle einer ihr immer noch fremd klingenden Sprache zuweilen ein wohlbekannter Inhalt entwickelte, wie die schöne Weissagung des alten Baldurpriesters an Frithjof:

Ein Baldur war im Süden auch, der Jungfrau Sohn;
Die Runen zu erklären, sandt' Allvater ihn,
Die auf der Nornen Schild noch ungedeutet stehn.
Sein Feldgeschrei war Friede! Liebe war sein Schwert,
Und Unschuld saß, der Taube gleich, auf seinem Helm.
Fromm lebt' und lehrt' er, so auch starb er und verzieh,
Und unter fernen Palmen steht sein Grab im Licht.
Doch seine Lehre geht, so heißt's, von Tal zu Tal,
Erweichet harte Herzen, leget Hand in Hand
Und bauet auf versöhnter Erd' ein Friedensreich.
Einst wird sie kommen, weiß ich, und dann schwebt sie leicht
Mit weißen Taubenflügeln über Nordens Höh'n.
Ihr glücklichern Geschlechter, ihr, die ihr dann trinkt
Den Strahlenkelch des neuen Lichts, o seid gegrüßt!
Verachtet uns doch nicht, die redlich wir gesucht
Mit unverwandtem Blick der Wahrheit Himmelsglanz.
Allvater ist nur Einer, Boten hat er viel. (Tegnér.)

Am nächsten Morgen standen mehrere Schlitten bereit, die Damen nach der Kirche zu bringen; die Herren und Knaben zogen die Schneeschuhe vor. Auch die meisten Dienstboten wurden zum Gottesdienst entlassen, doch blieb Frau Lundholm bei den jüngeren Kindern zurück, und Frida bat um Erlaubnis, ihr Gesellschaft zu leisten. »Heute soll Ingeborg einmal feiern,« sagte sie fröhlich, als sie eine einfache Andacht mit den noch übrigen Hausgenossen gehalten hatten, »heute müssen Sie mir erlauben, einmal ganz die Tochter bei Ihnen zu spielen, Tante Ragnild.«

»So ein liebes Töchterchen könnte ich mir schon gefallen lassen,« meinte die alte Dame, indem sie dem jungen Mädchen zärtlich die Wange klopfte. Frida war äußerst geschäftig; sie deckte schon früh den Tisch, damit bei der Rückkehr der Kirchgänger alles fertig wäre, und die Kinder waren glückselig, ihr dabei zu helfen. Mit Staunen sah sie in einem Schranke allerlei altes Prunkgeräte stehen und bat Frau Lundholm dringend, es ihr zum Schmuck der Tafel herauszugeben. Jene schüttelte zwar den Kopf und meinte, das käme nur bei Hochzeiten und Kindtaufen ans Tageslicht, aber sie konnte ihrem Schmeicheln doch nicht widerstehen und ließ ihr den Willen. Welche seltenen Schätze kamen da zum Vorschein! Da war ein silberbeschlagenes Trinkhorn, das aus dem riesigen Horn eines Auerochsen gefertigt und mit zierlichen Füßchen in Gestalt von Vogelkrallen versehen war; da waren ganz eigenartig geformte silberne Schalen und kunstreich geschnitzte hölzerne Humpen, die mit Gold und Silber eingelegt waren. Das alles mochte schon seit langer Zeit in der Familie Lundholm vorhanden sein.

Es war ein hübscher Anblick, als alle die strahlenden jungen Gesichter eines aufblühenden Geschlechts die lange Tafel umgaben, auf der diese Zeugen einer jahrhundertelangen Vergangenheit prangten. Herr Kellgrén wußte manches Interessante davon zu erzählen; er war ein gründlicher Kenner der einheimischen Altertümer. »Aus diesen Humpen«, sagte er, »haben schon die Anbeter Odins ihren Skål getrunken; diese Trinkschalen mögen erklungen sein, als sich die alten Normannenrecken, die der Schrecken halb Europas waren, beim Met ewige Freundschaft und Treue schwuren. Ich habe ähnliche Geräte gesehen, die in alten Blockhäusern, weit abseits von der großen Landstraße, aufbewahrt wurden, die vielleicht schon in der Urzeit aus Asien mit herübergebracht worden sind. Sie mögen jahrhundertelang in der Erde gelegen haben und durch einen Zufall wieder ans Licht gekommen sein, aber wenn sie sprechen könnten – welche wunderbaren Aufschlüsse über die Geschichte und Entwicklung unseres Volkes würden sie uns geben! Ich hoffe, Fräulein Stein, Sie werden uns im Sommer besuchen; gerade das Gudbrandsdal in unserer nächsten Nachbarschaft ist reich an solchen alten Schätzen und bewahrt eine Menge Sagen, die bis auf Harald Harfagar zurückgehen.«

»Wer war das?« fragte Frida.

»Das war ein vielbesungener Nordlandskönig, der vor tausend Jahren einen Schwur tat, nicht eher sein schönes blondes Haar schneiden zu lassen, als bis er alle die kleinen Reiche Norwegens unter seinem Zepter vereinigt hätte. Sein Haar wurde immer länger, aber endlich gelang es ihm, wenn auch erst nach schweren Kämpfen mit den Königen und den trotzigen Häuptlingen, die sich seinem Regiment nicht beugen wollten. Einer von ihnen segelte mit seinen Mannen und Drachenschiffen von dannen und gründete an der sonnigen Küste Frankreichs ein eigenes Reich, die nachmals so hochgepriesene Normandie.«

»Wenn Sie Freude am Altertümlichen haben, Fräulein Stein,« sagte Herr Almquist, »so müssen Sie zu uns nach Thelemarken kommen; nirgends finden Sie die eigenartigen Trachten und Bauwerke so treu bewahrt wie da.«

»Ach, schweigt doch einmal von dem alten Plunder,« fiel ihm seine heitere Frau ins Wort; »wenn uns Frida besucht, wollen wir sie an den Rjukand-Foß führen, den stolzesten und schönsten Wasserfall in ganz Norwegen. Das ist zwar auch ein alter Schatz, aber er bleibt doch immer frisch und jung.«

»Nun, die Natur kann sich bei uns doch auch sehen lassen,« bemerkte Frau Kellgrén ruhig; »die Dovrefjelds mit dem Sneehätta ziehen Hunderte von Reisenden an, und wenn wir einen Ausflug nach Molde machen, so begegnen wir im Romsdalhorn und Troldtinden so majestätischen Bergriesen, wie sie kaum zum zweitenmal zu finden sind.«

»Und im Gudbrandsdal«, nahm Herr Kellgrén wieder das Wort, »besuchen wir meinen alten Freund Thord Tofte in Toftemoen, der seinen Stammbaum in ununterbrochener Folge bis auf Harald Harfagar zurückführt. Der Mann wird Ihnen gefallen, Fräulein Stein! Er will nichts weiter sein als ein Bauer, trägt die übliche Landestracht von selbstgesponnenem Zeuge und die rotwollene Mütze, ißt mit seinen Knechten und Mägden an einem Tisch und arbeitet mit, soweit es seine Kräfte noch erlauben –, aber dabei hat er einen Stolz auf seine Herkunft wie der mächtigste Fürst. Als im August 1860 König Karl XV. nach Drontheim zur Krönung reiste, bot Thord ihm eine Mahlzeit in seinem Hause an, ließ aber gleich dabei sagen, daß der Herrscher kein Tafelgerät, auch nicht das Silber, mitzubringen brauche, denn er sei mit allem versehen. Thord Tofte saß mit seinem hohen Gast an einem besonderen Tisch, der nur mit gediegenem Silber besetzt war, während man für das Gefolge, auch für die Minister, eine andere Tafel gedeckt hatte; ›denn‹, sagte der Nachkomme Harald Harfagars, ›nur einer aus königlichem Geblüt darf mit dem König speisen‹. Das sind unsere norwegischen Bauern, einfach und fleißig, fromm und stolz – Gott erhalte sie!«

Frida hörte mit gespannter Aufmerksamkeit diesen Gesprächen zu, die sie durch viele Fragen gern noch weiter ausgesponnen hätte, aber die flehenden Blicke der Kinder rührten ihr Herz; sie sah zu Frau Lundholm hinüber, die sich alsbald erhob und dem Mittagessen ein Ende machte. Ohne Verkleidung war ein rechtes Weihnachtsfest doch gar nicht zu denken, die junge Gesellschaft brannte darauf, und Frida hatte bereitwillig ihre Hilfe zugesagt. Unter Scherz und Gelächter wurden allerhand phantastische Kostüme angelegt und kleine Darstellungen aus dem Stegreif verabredet, und unter den Klängen einer Musik, die mit den einfachsten Instrumenten gemacht wurde, zog die fröhliche Schar durch alle Zimmer, indem sie eine Menge lustiger Possen trieb und die Erwachsenen in ihr Vergnügen hineinzog. So verging der Abend im harmlosesten Frohsinn, ein echtes Familienfest, und als Frida zur Ruhe ging, war sie selbst erstaunt, daß Weihnachten in der Fremde so lieblich verlaufen war.


 << zurück weiter >>