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Meta Weller hatte es sich als letzten Freundschaftsdienst von Ilse ausgebeten, daß diese sie nach London begleiten und bis zu ihrer Einschiffung bei ihr bleiben möchte, und da es sich dabei nur um einen Tag handelte, hatte Lady Jane gern eingewilligt und nur gewünscht, daß die Fahrt mit der Eisenbahn gemacht werden möchte. Ilse hatte immer schon Verlangen gehabt, ein deutsches Home in London kennen zu lernen, und trat die kleine Reise mit Vergnügen an.
Das Cab hielt vor einem stattlichen Hause in Bryanston Square, der Türklopfer wurde in Bewegung gesetzt, und die Tür alsbald vom Pförtner geöffnet. Wenig Minuten später standen die beiden Mädchen im Empfangszimmer vor der Vorsteherin, einer Dame in mittleren Jahren, die die Ankömmlinge durch ihre Brille scharf, aber mit wohlwollendem Ausdruck musterte, Meta als Bekannte begrüßte und sich nach erfolgter Vorstellung sehr freundlich an Ilse wandte. Fräulein Althaus hatte etwas in ihrem Wesen, das gleich Vertrauen einflößte und die Herzen gewann; auch ohne die lieben, vertrauten Töne ihrer Sprache fühlte man, daß man eine Deutsche vor sich hätte, und für Ilse war der Gedanke, daß sie in diesem Hause immer ein Stückchen Deutschland mitten in der Fremde finden könne, ungemein tröstlich. Zu Tische erschienen etwa zwanzig größtenteils junge Damen, lauter Deutsche, von denen einige erst vor kurzem aus der Heimat herübergekommen waren, andere, die sich schon länger in England aufhielten, sich von hier aus nach neuen Stellungen umsahen, während eine kleine Anzahl als daily governesses in Familien oder als Lehrerinnen an Schulen tätig war und jeden Abend in dies trauliche Heim zurückkehrte.
Es herrschte eine lebhafte Unterhaltung an der Tafel, alle Mundarten, an denen das deutsche Vaterland so reich ist, schwirrten durcheinander; jeder Tischgast hatte von seinen Erfahrungen zu berichten, über Enttäuschungen zu klagen, aber auch von angenehmen Dingen zu erzählen, und immer verstand es Fräulein Althaus, die Aufgeregten zu beruhigen, die Verzagten zu ermutigen und den Irrenden zurechtzuhelfen. »Sie ist wie eine Mutter für uns alle,« sagte ein junges Mädchen, das neben Ilse saß, ganz begeistert, »ich weiß nicht, was ich angefangen hätte ohne ihren Rat, ihre freundliche Zurechtweisung. Wenn es Ihnen möglich ist, Fräulein Stein, so kommen Sie zu Weihnachten hierher; man empfindet es hier nicht so schwer, daß man in der Fremde ist. Das erste Mal, als ich das Fest in England verlebte, glaubte ich vor Heimweh sterben zu müssen, aber hier im deutschen Home läßt es sich wirklich ertragen.«
Der Abend verging in der angenehmsten Weise; das große Wohnzimmer vereinte die meisten Hausgenossen, man plauderte und musizierte, wer aber lesen und schreiben wollte, der fand in der anstoßenden Bibliothek einen ruhigen Platz. Ilse lernte viele deutsche Erzieherinnen kennen und hörte über die verschiedensten Verhältnisse sprechen; sie erkannte, daß die Schwierigkeiten, mit denen andere zu kämpfen hatten, viel größere wären als die, welche sie zu überwinden gehabt hatte, und daß ihr Los vielen als höchst beneidenswert erschien. Für den nächsten Vormittag wurden allerlei Pläne gemacht; man wollte ihr in aller Eile verschiedene Sehenswürdigkeiten und besonders prächtige Straßen zeigen. Aber am andern Morgen lag ein undurchdringlicher Nebel über der Millionenstadt; es wollte gar nicht Tag werden, denn die Sonne vermochte den gelblichen Dunst, der wie eine dichte Masse über den Straßen lagerte, nicht zu durchbrechen. Drinnen und draußen mußten die Gasflammen brennen, aber sie sahen trübselig aus; besonders die Laternen glommen nur wie Leuchtkäferchen und verbreiteten gar keine Helligkeit um sich her. In gespensterhaften Umrissen ragten Türme und Fabrikschornsteine aus dem Nebelmeer heraus; Wagen und Fußgänger tauchten plötzlich auf und verschwanden ebenso schnell wieder in dem grauen, hoffnungslosen Einerlei. In solcher Beleuchtung war an ein Durchstreifen der Straßen nicht zu denken, und man mußte froh sein, daß sich um die Mittagsstunde der Nebel so weit lichtete, um die Fahrt bis zum Anlegeplatz des Dampfschiffes ohne Gefahr zurücklegen zu können.
Ilse nahm einen herzlichen Abschied von Meta Weller, deren überströmende Dankbarkeit sie tief beschämte; dann ließ sie sich durch ein Cab nach der Eisenbahnstation bringen, um nach Thornton zurückzukehren. Aber die Wagen mußten heute vorsichtig fahren, um Zusammenstöße zu vermeiden, und als sie den Bahnsteig betrat, war der Zug schon im Abgehen; ängstlich lief sie darauf zu und bat flehentlich, sie noch mitzunehmen. Eine Tür öffnete sich, zwei Hände streckten sich aus, um ihr hineinzuhelfen; als sie atemlos auf ihren Sitz sank, sauste der Zug schon davon. Sie gebrauchte einige Augenblicke, sich von ihrem Schrecken zu erholen, und sah sich dann nach der Person um, die ihr so hilfreich beigestanden hatte. Es war nur ein Herr im Wagen, er also mußte ihr Ritter sein. Sie hätte ihm gern ein Wort des Dankes gesagt, aber nach englischer Sitte durfte sie mit einem Herrn, der ihr nicht vorgestellt war, nicht sprechen, und er schien es auch gar nicht zu erwarten, denn er hatte sich an das andere Fenster gesetzt und die Augen geschlossen. Er war noch jung und sah sehr gut aus; man konnte sich kein besseres Bild eines englischen Gentleman machen. Unwillkürlich beschäftigten sich Ilsens Gedanken mit dieser anziehenden Persönlichkeit, aber ihre wachen Träume wurden bald unterbrochen, da der Bahnhof von Thornton nach kurzer Fahrt erreicht war. Sie machte ihrem Reisegefährten eine stumme Verbeugung und eilte, ohne sich aufzuhalten, der Stelle zu, wo die Wagen zu halten pflegten. Maud war selbst gekommen, um sie abzuholen; sie thronte auf dem hohen Bock und führte die Zügel; wenig Sekunden später jagten die Ponies die Landstraße entlang. Die beiden jungen Mädchen waren sogleich in ein heiteres Gespräch vertieft; einmal kam es Ilse vor, als hörte sie hinter sich rufen, aber sie achtete nicht darauf und sah sich nicht danach um.
Zu Hause angelangt, ging sie auf ihr Zimmer; hier stand sie lange am Fenster und schaute in den Park hinab – wieviel schöner war es hier als in den nebligen Straßen der Hauptstadt! Sie überdachte mit dankbarem Herzen alle die Vorzüge, die sie hier genoß, und nahm sich aufs neue vor, Lady Janes Güte und Mauds zärtliche Anhänglichkeit durch die größte Liebe und Treue zu vergelten.
Plötzlich flog die Tür auf, und Maud kam hereingestürmt; alles an ihr schien zu strahlen. Sie umfaßte Ilse, wirbelte sie ein paarmal im Kreise herum und rief atemlos: »Ich bin so glücklich, Darling – raten Sie, weshalb!«
»Wie soll ich das? Ist jemand angekommen? irgendein lieber Gast?«
»Getroffen, getroffen, Sie weise Sibylle! Aber nun die Hauptsache: wer ist es?«
Ilse sah ihr einen Augenblick fragend in das freudeglühende Gesicht: »Ist es Archie – Mr. Howard, meine ich!«
»Ja ja!« jubelte die andere, »er ist es! Er hat uns plötzlich überrascht, seine Anmeldung wird wohl etwas hinterdrein hinken. Wie freue ich mich, ihn Ihnen vorzustellen – er sieht noch viel hübscher und männlicher aus als vor seiner Reise. Nun soll ein heiteres Leben anfangen – nun will ich nicht länger wie ein baby zu Hause sitzen, nein, wir wollen reiten und wandern, Gesellschaften geben und besuchen und oft nach London fahren – o, es wird herrlich werden! Machen Sie sich heute besonders hübsch, Darling; ich möchte gern, daß Sie Archie sehr gefielen!«
Als Maud und Ilse in hellen, duftigen Kleidern und mit frischen Blumen geschmückt ins drawing-room traten, tönte ihnen helles, fröhliches Gelächter entgegen. In einem der tiefen, bequemen Sessel am Kamin ruhte in nachlässiger Stellung ein junger Mann im feinsten Gesellschaftsanzuge, der mit Harry scherzte, bei der Annäherung der jungen Mädchen aber aufsprang und sie mit tiefer Verbeugung begrüßte. »Mein Bruder, Mr. Howard – Miß Stein,« stellte Maud vor; Ilse verneigte sich ebenfalls, als sie aber ihre Augen zu denen des Herrn erhob, stieg eine lebhafte Röte in ihre Wangen. »Ich glaube, ich hatte heute schon die Ehre ...« sagte Mr. Howard mit einem leichten Lächeln.
»Ich habe Ihnen für Ihren Ritterdienst noch gar nicht gedankt«, erwiderte sie etwas verwirrt, »und freue mich, es nachzuholen.«
»Kennt ihr euch denn schon?« rief Maud sehr verwundert dazwischen.
»Wir waren Reisegefährten von London bis Thornton,« sagte Archie.
»Mr. Howard war so freundlich, mir in den Zug zu helfen, sonst wäre ich zu spät gekommen,« setzte Ilse hinzu.
»Sie waren mit solcher Windeseile entflohen, daß ich vergebens hinter dem Wagen herlief und um ein Plätzchen bettelte.«
»Also Sie waren der Rufer? Ich hörte es wohl, aber wie konnte ich denken, daß es uns gälte –«
»O Archie, wie reizend wäre es gewesen, wenn wir dich mitgebracht hätten! ein wahrer Triumphzug!« fiel Maud ein.
Als Lady Jane eintrat, fand sie zu ihrem Erstaunen die junge Gesellschaft schon ganz gut befreundet und in einer sehr zwanglosen und heiteren Unterhaltung, wozu sie ein ziemlich ernsthaftes Gesicht machte. Ilse merkte es sogleich und versuchte es, ein zurückhaltenderes Betragen anzunehmen, aber wie konnte sie Mr. Howard wie einen Fremden betrachten, da ihr doch Maud alle Tage von ihm erzählt hatte? Zudem kam er eben aus Straßburg, wo er ihre verheiratete Schwester Gertrud besucht hatte; er war mit allen Bewohnern des dortigen Hauses gut bekannt und brachte ihr ganz frische Grüße mit; auch war sein Wesen so einfach und natürlich, daß man gleich Vertrauen zu ihm fassen mußte. Bei Tische erzählte er viel von seinem Aufenthalt in Indien; seine Beobachtungen waren scharf, seine Erlebnisse interessant, und nicht Harry allein verschlang seine Berichte über Bären- und Tigerjagden, indische Feste und merkwürdige Bauwerke mit gespannter Aufmerksamkeit. Ilse fiel es nicht ein, sich nach der Abendandacht mit Mr. Wilmot und Harry sogleich zurückzuziehen und die Verwandten allein zu lassen; sie war dabei, als sich Maud auf ein niedriges Polster zu ihres Bruders Füßen setzte, den Kopf an sein Knie lehnte und glückselig zu ihm aufsah. »Nun denkst du hoffentlich nie wieder daran, uns zu verlassen, Archie,« sagte die Schwester liebevoll; »jedenfalls wollen wir dir das Fortreisen sauer und das Zuhausebleiben angenehm machen – nicht wahr, Darling?«
»Leider muß ich sehr bald wieder fort, obgleich ich es am häuslichen Herde ungemein behaglich finde,« erwiderte Mr. Howard seufzend.
»O Archie, was willst du denn schon wieder in der Ferne?« rief Maud vorwurfsvoll; »kannst du die häßlichen alten Geschäfte nicht schriftlich abmachen?«
»Es handelt sich nicht um ein Geschäft, sondern um ein Versprechen, das ich einem Sterbenden gab, und ein solches muß man heilig halten, auch wenn uns die Erfüllung ein Opfer auferlegt, meine kleine Schwester.«
»Wer war der Sterbende? wo sahst du ihn? was verlangte er von dir? war es ein Inder?« forschte Maud neugierig. »Berichte uns wenigstens alles ganz genau.«
»Du solltest nicht so in deinen Bruder dringen, mein Kind,« mahnte Lady Jane; »du kannst nicht wissen, ob er gern vor andern von der Sache spricht.«
»Es ist kein Geheimnis dabei,« erwiderte der junge Mann, »und da mich die Geschichte in kurzem abermals zu einer Reise zwingt, so kann ich sie ohne Bedenken erzählen. Als ich im Sommer aus dem Himalaja zurückkehrte, wohin ich vor der furchtbaren Hitze geflüchtet war, wurde ich in Delhi von einigen Offizieren aufgefordert, an einem großen Jagdzuge in die Dschungeln am Ganges teilzunehmen. Es war ein Notschrei der dortigen Pächter an den Statthalter gedrungen, sie von den Löwen und Tigern zu befreien, die ungeheuern Schaden unter den Herden anrichteten und schon mehrere Menschenleben gefordert hatten. Wir waren eine stattliche Gesellschaft, gegen dreißig Jagdgenossen, dazu wohl zwei Dutzend gezähmter Elefanten und ein riesiger Troß von Treibern, Jägern und Dienern, ohne die es in Indien niemals abgeht. Die meisten von uns waren gut beritten, zahlreiche Packpferde trugen Zelte und Vorräte, denn der Ausflug konnte länger als eine Woche dauern. Kurz vorher waren heftige Regengüsse gefallen, deren Spuren uns oft das Fortkommen erschwerten, obgleich die glühende Sonne mit allen Kräften bemüht war, die Nässe aufzusaugen. Das gibt eine schwüle, schwere Luft, die dann die verheerenden Fieber und Seuchen jener Gegenden erzeugt. Aber schön war es dennoch! In den Wäldern, die sich vor den Dschungeln hinziehen, entfaltete sich ein wunderbarer Reichtum an Tieren und Pflanzen; um die schlanken Sykomoren, die hohen Yukkas und die prachtvollen Araukarien schlangen sich bunt blühende Lianen, auf denen zahllose Affen ihr tolles Spiel trieben; durch die Luft schossen märchenhafte Vögel wie feurige Meteore, am Boden huschten schillernde, riesige Eidechsen dahin, oder eine Schlange ringelte ihren bunten, geschmeidigen Leib durch das hohe Kraut. Wenn die tropische Hitze der Kühle des Abends wich, erschallte der Wald von einem Lärmen und Schreien, vor dem man sich die Ohren zuhalten mußte; nur wenn sich von fern das donnerähnliche Gebrüll des Löwen hören ließ, wurde es plötzlich still: die niederen Geschöpfe verstummten ehrfurchtsvoll vor dem König der Tiere.
»Aber ich will euch jetzt nicht mit langen Schilderungen und Jagdgeschichten aufhalten, sondern schnell zum Ziele kommen. Eines Tages machten wir in einem Dörfchen Halt, d. h. bei einem Häuflein roher Bambushütten, wie sie den dortigen Hirten zum Schutz dienen. Da wir einen kundigen Führer brauchten, trat ich in eine dieser Behausungen ein, die sich immer durch eine gänzliche Abwesenheit von Sauberkeit und Behagen auszeichnen. Im ersten Augenblick schien sie mir ganz leer zu sein; dann sah ich zu meinem Erstaunen auf einem niedrigen Lager einen totenbleichen Mann liegen, dessen Züge unzweifelhaft den Europäer, und zwar den Nordländer, verrieten. Bei meiner Anrede schlug er langsam die Augen auf und sah mich mit einem müden Blicke an; dann wies er mit matter Gebärde auf seine vertrockneten Lippen. Ich flößte ihm etwas Wein aus meiner Feldflasche ein, und allmählich gewann er so viel Kraft, mir in gutem Englisch zuzuflüstern, daß er am Fieber erkrankt sei und sterben müsse; ich möge alle seine Sachen an mich nehmen und in die Heimat senden. Der Zustand völliger Verlassenheit und Hilflosigkeit ergriff mich tief; ich sprach ihm Mut ein und eilte zu den Genossen, um sie zum Beistand aufzufordern. Es war ein Arzt darunter, der sich bewegen ließ, mir in die Hütte zu folgen und den Kranken zu untersuchen; er gab ihm ein Pulver ein, zuckte die Achseln, meinte, hier sei keine Hoffnung mehr, und entfernte sich eilig, um den Aufbruch der Gesellschaft nicht zu versäumen. Auch bei den andern fand ich kein Gehör; niemand wollte um eines verlornen Mannes willen die Jagd aufgeben, höchstens einen Diener wollte man bei ihm zurücklassen. Ich sah ein, daß mir allein die Aufgabe zufiele, für den Armen zu sorgen und ihn der gefährlichen Fieberluft zu entreißen, und befahl meinen Dienern, Zelte, Decken und Vorräte zusammenzupacken und sich sogleich zum Rückmarsch zu rüsten, wozu sie zuerst wenig Lust zeigten. Wir kamen langsam vorwärts, denn der Kranke mußte getragen werden; dennoch erholte er sich sichtlich, sobald wir die feuchte Niederung hinter uns hatten und gesündere Luft atmeten, gewann die volle Besinnung wieder und war imstande, zusammenhängend zu sprechen. Er war ein schwedischer Naturforscher, den die Liebe zur Wissenschaft nach Asien getrieben hatte; wochenlang hatte er mit dem tückischen Fieber gekämpft, ehe es ihn endlich besiegte und niederwarf. Zwei Dinge waren es, die ihn marterten und nicht zur Ruhe kommen ließen; das eine war die Sorge um seine Aufzeichnungen und Sammlungen, die seinem Vaterlande nicht verloren gehen sollten, das andere der Gedanke an seine Schwester, der er keinen Abschiedsgruß hatte senden können. Als ich ihm versprach, beides zu übernehmen, hellte sich sein tiefer Trübsinn auf; er gab mir noch viele mündliche Aufträge, und nachdem er seine irdischen Angelegenheiten geordnet hatte, sah er dem Tode mit ruhiger Fassung entgegen. Ich blieb bis zu seinem Ende bei ihm und gewann ihn sehr lieb; er war ein edler Mensch und frommer Christ – als er in meinen Armen sanft entschlafen war, hatte ich das Gefühl, als hätte ich einen Bruder verloren.«
Der Erzähler schwieg und schaute gedankenvoll in die Glut des Kaminfeuers; in Mauds Augen standen Tränen, und Lady Jane strich sanft über seine Schulter. Ilse hatte gespannt zugehört; jetzt fragte sie leise, als fürchte sie, einen feierlichen Augenblick zu stören: »War es Olaf Svendson?«
Mr. Howard sah sehr erstaunt auf. »Ja, so hieß er, aber wie können Sie das wissen, Miß Stein?«
»Meine Schwester lebt bei seiner Schwester in Norwegen – ich weiß durch sie, wie sehr Sigrid die Rückkehr ihres Bruders ersehnt.«
»Armes Mädchen!« seufzte der junge Mann. »Nach dem, was mir Svendson von ihr sagte, muß ich sie für eine hohe, aber sehr verschlossene Natur halten, deren ganze Liebe und Zärtlichkeit ihrem Bruder galt. Wie wird sie den Boten hassen, der alle ihre Hoffnungen rauh zerstören muß! Ich wollte, ich dürfte ihr schreiben, aber ich versprach ihm, sie selbst zu sprechen.«
Ilse dachte, daß es viel leichter sein müsse, das Schlimmste durch diese freundliche Stimme, diesen teilnehmenden Blick zu erfahren als durch tote Buchstaben – aber sie sprach es nicht aus. Sie lag abends noch lange wach und überlegte alles, was ihr der heutige Tag gebracht hatte; waren wirklich erst zwölf Stunden vergangen, seit sie Meta Weller zum Dampfschiff begleitete? Es kam ihr vor, als ob alles, was sie bisher in England erlebt hatte, in den graugelben Londoner Nebel versunken, als ob jetzt erst die Sonne aufgegangen wäre, die alles mit Licht und Leben erfüllte! Wie gut mußte Mr. Howard sein! Er hatte ohne Bedenken sein Vergnügen geopfert, um einen Wildfremden dem Verderben zu entreißen und bis zu seinem Tode bei ihm auszuharren. Und wie wenig Wesens machte er von seiner Samaritertat, wie treu nahm er es mit dem gegebenen Wort! Dieser Gedanke traf ihr Gewissen; hatte sie nicht auch einer Sterbenden ein Versprechen gegeben, und mußte sie es nicht ebenso gewissenhaft erfüllen? Sie sah noch nicht klar, wie sie es anfangen solle, den Auftrag der alten Bridget ohne Zeugen auszurichten, aber sie schlief mit der Überzeugung ein, daß sie es zu geeigneter Stunde unfehlbar tun müsse.
Die nächste Woche war für die beiden jungen Mädchen eine Zeit ungetrübten Genusses; zwar gab es keine Gesellschaften oder sonstige rauschende Vergnügungen, aber die Nähe des jungen Hausherrn gab auch dem Alltagsleben einen wunderbaren Reiz. Vormittags erschien er gewöhnlich im Bibliothekzimmer, nahm am deutschen und französischen Lesen teil und würzte die Studien durch Erzählungen und kleine Scherze; nach dem Lunch wurden die Pferde vorgeführt, und wenn er an Ilsens Reitkünsten noch manches zu tadeln und zu verbessern fand, so konnte sie ihm doch nicht böse sein, so wenig sie es sonst liebte, sich zurechtweisen zu lassen. Seine Belehrungen waren zartfühlend und überzeugend, und wenn sie etwas gut gemacht hatte, war er auch nicht karg mit dem Lobe. Gegen Lady Jane war er so aufmerksam und liebevoll wie der zärtlichste Sohn gegen seine Mutter; mit Harry verkehrte er wie ein guter Kamerad, und doch fühlte der Knabe immer die Überlegenheit des älteren Verwandten und hing an ihm mit einem Gemisch von Vertrauen und Ehrerbietung. Je näher Ilse Mr. Howard kennen lernte, um so vollkommener erschien er ihr, sowohl im Charakter wie im Wesen, das den Stempel einer Ritterlichkeit trug, die nicht erlernt war, sondern von innen heraus kam.
So verflogen die Tage in heiterem Glück und stiller Freude, und Ilse erschrak, als er eines Abends erklärte, er müsse morgen früh aufbrechen, um seine Großmutter in Marscourt-Hall zu begrüßen und dann mit dem Dampfer nach Norwegen abzureisen. Sie hatte ja noch keine Gelegenheit gefunden, von der Botschaft der Sterbenden zu sprechen! Aber sie beruhigte sich damit, daß es besser sei, wenn er der alten Dame und Evelyn diesmal noch ganz unbefangen gegenüberträte. Evelyn – wie wenig hatte sie in der letzten Zeit an die Freundin gedacht! Jetzt ertappte sie sich auf der Betrachtung, daß jene doch gar nicht für Mr. Howard passen würde und eine Verbindung zwischen beiden durchaus nicht wünschenswert sei. Dann tadelte sie sich bitter, daß sie dem armen Mädchen das ihr bestimmte Glück nicht gönne, daß sie wohl gar neidisch sei – aber nein, der Gedanke war zu niedrig, um ihn auszudenken! Doch machten alle diese Überlegungen sie ernsthaft und unruhig, und die Tage, die der Abreise des Hausherrn folgten, waren lange nicht so hübsch wie die, welche ihr vorausgingen.