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Achtes Kapitel.
Im Lande der Mitternachtssonne


Auch in Krokengaard rüstete man sich zu einem Sommerausfluge. Herr Holmböe hatte Verwandte im hohen Norden, die er alle paar Jahre zu besuchen pflegte; nun gab der Wunsch, den jungen Mädchen jene fernen Gegenden zu zeigen, noch einen besonderen Anstoß zur Wiederholung dieser Reise. Frida war ganz erregt in dem Gedanken, den nördlichen Polarkreis zu überschreiten, in die kalte Zone einzudringen und die Mitternachtssonne zu sehen – lauter Dinge, die ihr früher fast wie ein Märchen erschienen waren; Sigrid dagegen ging mit gewohnter Ruhe daran, ihr Haus zu bestellen und umsichtige Vorbereitungen für die Annehmlichkeit der Reisenden zu treffen. Nur eins trübte für Augenblicke Fridas frohe Erwartung: das war die Trennung von ihren Freunden in Ulvik; Tränen standen in ihren Augen, als sie von Frau Lundholm und deren Tochter Abschied nahm. »Ich bin recht töricht,« sagte sie entschuldigend, als Ingeborg sie nach dem Strande begleitete, wo der Knabe mit dem Boot auf sie wartete, »aber wenn ich bei euch bin, ist mir immer, als hätte ich meine Mutter und Ilse wiedergefunden, und dann ist für eine Weile alles Sehnen meines Herzens gestillt.«

»Und Arved?« fragte die Freundin neckend.

»Nun,« erwiderte Frida nach kurzem Besinnen, »es hieße ihm nicht viel Ehre antun, wollte ich ihn mit Max und Hans vergleichen, denn so gute, liebe Jungen es auch sind, so stecken sie doch noch arg in den Flegeljahren. Aber wir hatten einmal einen Bruder, der an den Folgen des großen Krieges starb und in unserer Erinnerung als das Ideal eines jungen Mannes fortlebt – dem könnte Arved vielleicht ähnlich sein.«

»Sehr schmeichelhaft!« lachte Ingeborg. »Darf ich ihm das wiedersagen?«

»Unsinn!« zürnte die andere und legte der Übermütigen die Hand auf den Mund. »Übrigens würde er sich auch gar nichts daraus machen.«

»Weißt du, Frida,« fiel Ingeborg ein, »es wäre doch hübsch gewesen, diese Reise zusammen zu machen. Arved hat einen Freund in Hammerfest und versprach mir schon längst, mich mitzunehmen, wenn er einmal dorthin reiste.«

»O Ingeborg!« rief Frida, indem sie stehen blieb und die Hände zusammenschlug, »wie himmlisch wäre das gewesen! Warum hast du nicht früher daran gedacht? In eurer Gesellschaft wäre mir alles doppelt schön erschienen!«

Es war, trotz des Hochsommers, ein kühler Tag, an dem Herr Holmböe mit seinen Begleiterinnen den Dampfer bestieg, der sie zunächst nach Bergen bringen sollte. Die Sonne hatte einen Schleier vor das leuchtende Antlitz gezogen; in dem bläulichen Duft erschienen alle Linien und Umrisse verschwommen und gedämpft, und über der Landschaft lag es wie ein sanfter Hauch von Wehmut. Lars und Thorkel, die die Reisenden herangerudert hatten, schwenkten die rotwollenen Mützen, Frida rief ihnen Abschiedsgrüße für Mutter Brita zu und nickte nach der Gegend von Ulvik hin, das eine halbe Stunde oberhalb lag und der letzte Haltepunkt des Dampfers am Fjord war. Sie hatte eigentlich erwartet, Arved Lundholm, den sie bei ihrem Besuch nicht angetroffen hatte, würde noch herüberkommen, um der Reisegesellschaft Lebewohl zu sagen, aber sie hatte den ganzen Tag vergeblich auf ihn gewartet.

Man mochte eine Viertelstunde gefahren sein, als aus der Kajüte zwei Gestalten auftauchten, die einige Augenblicke unbeweglich am Ausgange der Treppe stehen blieben. Frida sah sie zuerst und packte mit einem kleinen Schrei Sigrids Arm. »Ist es eine Einbildung,« flüsterte sie, »oder ...« dann flog sie empor. »Ingeborg!« rief sie jubelnd und umschlang die Freundin voll Entzücken, »Arved – seid ihr es wirklich? wo kommt ihr her?« Sie war förmlich außer sich vor Freude, ihre Wangen glühten, ihre sanften Augen strahlten. Herr Holmböe nickte ihr wohlgefällig zu. »Haben wir's gut gemacht?« fragte er lächelnd. »Hättest am Ende das halbe Herz am Hardanger zurückgelassen, wenn wir deine Freundin nicht mitgenommen hätten. Freut mich, daß die Überraschung so geglückt ist.« Nach allgemeinem Händeschütteln setzten sich alle zusammen auf dem Verdeck hin, und es begann ein fröhliches Geplauder, wobei die Herren aber nicht versäumten, ihre Begleiterinnen auf alles Schöne und Merkwürdige aufmerksam zu machen, das sich unterwegs darbot.

An jeder Haltestelle wurde das Dampfschiff von einer Schar von Kähnen umkreist, die neue Fahrgäste und reiche Ladung heranführten, und jedesmal gab es ein gewaltiges Durcheinander und lauten Lärm, ehe Personen und Lasten sicher geborgen waren. Auf dem Vorderdeck ging es äußerst lebhaft zu, da drängte sich eine bunte Menge von Männern, Frauen und Kindern; alles lagerte in zwanglosester Weise auf dem Boden, denn der Raum bot keinerlei Bequemlichkeiten dar. »Wie arm müssen alle diese Leute sein,« meinte Frida; »sie müssen sich so kümmerlich behelfen.«

»So arm sind viele darunter gar nicht,« erwiderte Arved; »unser norwegischer Bauer verschmäht es nur, sich einen bessern Platz zu sichern, wenn er auch noch so wohlhabend ist, teils aus Sparsamkeit, teils um sich nicht in den Verdacht zu bringen, als wollte er sich als ›Herre‹ aufspielen. Sehen Sie die vielen runden Schachteln aus Baumrinde? die enthalten die nötigen Lebensmittel für ein paar Tage, die geliebten Heringe, ohne die ein echter Norweger nicht bestehen kann, Käse und Fladbröd; dazu kommt noch die unvermeidliche Branntweinflasche, die jeder Mann in der Rocktasche trägt. Nachts haben sie es freilich nicht bequem, denn ihr Gepäck bildet das einzige Kopfkissen, und sogar im Hochsommer wird es manchmal empfindlich kühl; aber das stört die gute Laune nicht. Sie können kein fröhlicheres Völkchen sehen als diese bescheidenen Leute auf dem Vorderdeck, für die eine solche Reise nach der Stadt oft in Monaten die einzige Abwechselung in ihrem arbeitsvollen Leben bildet.«

Es war Abend, als die alte Hansastadt Bergen in Sicht kam, aber trotz der späten Stunde war noch keine Abnahme des Tageslichts zu bemerken; näherte man sich doch immer mehr der Gegend, wo die Sonne in dieser Jahreszeit nicht untergeht. Durch einen Mastenwald dampfte man langsam am Hafendamm und am Leuchtturm vorüber; eigentümlich gebaute Warenhäuser, die aus der Blütezeit der Hansa stammten, tauchten auf, und endlich warf das Schiff in dem schmalen Hafen die Anker aus. Ein sauberes Gasthaus nahm die Reisenden auf, die hier einen Tag rasten wollten. Am anderen Morgen war alles in Nebel gehüllt, und ein feiner Regen sickerte herab. »Kein Wunder,« bemerkte Arved; »Bergen ist der regenreichste Ort an der norwegischen Küste – und das will etwas sagen.«

»Wird mich in meinen Geschäften nicht stören,« meinte Herr Holmböe, »aber was fangt ihr an?«

»Überlaß die Damen nur meiner Führung, Onkel Nils,« entgegnete Arved; »ich denke, es wird sich hier allerlei finden, was ihnen, trotz des Regens, Vergnügen machen wird.«

Da die jungen Mädchen mit Regenmänteln und kräftigen Schuhen ausgerüstet waren – wohl nirgends sind diese unentbehrlicher als in Norwegen –, so fürchteten sie sich vor der Nässe nicht und machten sich sehr vergnügt auf den Weg, um die Stadt zu besichtigen, die nach der Hauptstadt Christiania die volkreichste des ganzen Landes ist, und in deren zum Teil recht engen Straßen sich ein äußerst reges Leben entfaltet. Besonders lebhaft ging es auf dem Fischmarkt zu, wo mehrere hundert Fischerboote am Hafendamm lagen; da gab es alle Sorten von frischen Fischen, auch riesige Kabeljau und Hellbutten, die bis zu hundertfünfzig Pfund wogen und nur von mehreren Personen nach Hause getragen werden konnten. Feilschend und wählend beugten sich alte und junge Frauen, flinke Dienstmädchen und Bauern in ihren oft seltsamen Trachten in buntem Durcheinander über das Geländer, das den langen Steg begrenzte, und von unten her tönten die lauten Stimmen der Fischer, die ihre Ware anpriesen und die Leute eifrig zum Kaufen einluden. Arved gab einige Erläuterungen über die Bedeutung des Handels von Bergen, das seine Verbindungen über die ganze Welt erstreckt und der Stapelplatz für den weiten Norden des Reiches ist. »Von hier«, sagte er, »holt sich der wohlhabende Besitzer der nördlichen Provinzen alles, was sein Leben schmückt: deutsche Möbel und Teppiche, französische Spiegel und Tapeten, englisches Steingut und vieles andere; hierher schickt der Kaufmann aus Nordland und Finnmarken die unzählbaren Mengen gedörrter und gesalzener Fische, Stockfisch, Hering und Lebertran. Dem Nordländer ist Bergen der Inbegriff der Kultur und eine Reise dorthin oft das Ziel langjähriger Wünsche; seine Schulen werden von vielen besucht, die jenseits des Polarkreises zu Hause sind. Würde ein Besuch in der hiesigen Mädchen-Gewerbeschule Sie interessieren, Fräulein Frida? sie ist eine ganz vorzügliche Anstalt und genießt einen guten Ruf.«

Frida war sehr bereit dazu, und die beiden anderen folgten gern. Im belebtesten Teile der Stadt erhebt sich ein altertümliches Gebäude, das für diesen Zweck eingeräumt ist. Die Besucher fanden in einem großen Saal einen Kreis von Schülerinnen um eine ältere Dame von liebreichem Aussehen geschart; diese empfing sie sehr freundlich und erklärte ihnen bereitwillig alle Einrichtungen der Anstalt. Mächtige Blumensträuße standen auf einer langen Tafel und gaben dem Raume einen hübschen Schmuck; zugleich aber sollte das Schönheitsgefühl der Kinder dadurch geweckt und gebildet werden. Dazwischen lagen viele zierliche Arbeiten, die von den Schülerinnen auf Bestellung angefertigt worden waren. In Gruppen saßen sie zusammen und führten je nach ihrem Alter und ihrer Gewandtheit die verschiedensten Handarbeiten aus; da wurde gestrickt und gestickt, geflickt und gestopft, da wurden Wäschegegenstände und einfache Kleider zugeschnitten und genäht, und über dem allen schien ein Geist heiterer Freudigkeit zu schweben, der ungemein ansprechend war. Außerdem erhalten die Schülerinnen täglich einige Stunden in den Fächern des Wissens, die für das tägliche Leben unentbehrlich sind; der ganze Unterricht aber ist unentgeltlich, und es sind vor allem die Kinder der ärmeren Klassen, die seine Wohltaten genießen. Frida war ganz entzückt von allem, was sie hier sah, und meinte, eine solche Gewerbeschule müsse auch daheim eingerichtet werden, denn etwas Vollkommeneres könne sie sich auf diesem Gebiete gar nicht denken.

Von dort führte Arved die jungen Damen in das Museum, das eine Menge nordischer Altertümer enthält. Hier tat sich ihrer Phantasie eine längst versunkene Welt auf; alte Waffen, Armringe, Trinkhörner und Geräte aller Art, mit geheimnisvollen Runen bedeckt, sprechen von einer glorreichen Zeit, als der Name der Wikinger oder Normannen ganz Europa mit Schrecken und Bewunderung erfüllte. Da war unter anderem ein gewaltiges zweihändiges Schwert, das mit Gold und Silber reich verziert war. »Das könnte Angurwadel, Frithjofs berühmte Waffe, sein,« meinte Frida, »von der es heißt:

Matt nur glänzten die Runen zur Zeit des goldenen Friedens,
Doch wenn Hildur begann ihr Spiel, dann glänzten sie alle
Rot, wie im Kampfe der Kamm des Hahnes. Verloren war jeder,
Der in der Nacht des Gefechts der lodernden Klinge begegnet'.«

»Kannst du unsere ganze Frithjofssage auswendig?« fragten ihre Begleiterinnen angenehm überrascht.

»Nicht die ganze,« erwiderte sie errötend, »aber vieles hat sich mir unauslöschlich eingeprägt; denn Frithjof war lange mein Lieblingsheld, und Ingeborg, die ebenso groß im Lieben wie im Gehorchen und Entsagen war, mein höchstes Ideal.«

»Ich fürchte, du liebst mich hauptsächlich um meines Namens willen!« rief Arveds Schwester schmollend, während Sigrid halblaut bemerkte: »Sie hat selbst etwas von dieser Ingeborg an sich; ich glaube, sie würde lieber sterben als Unrecht tun.«

Eine große Anziehungskraft übten auf die Beschauenden die Modelle der alten Drachenschiffe aus, auf denen die kühnen Wikinger alle Meere durchschifften und die Welt bis zum sonnigen Süden hinab mit dem Ruhm ihrer Taten erfüllten. Arved erzählte von einem Funde in der Nähe von Christiania, wo man in einem Hügel die noch gut erkennbaren Überreste eines solchen Schiffes aufgedeckt habe, das mit der Leiche seines Herrn, seinen Pferden, Hunden und wertvollsten Besitztümern dort bestattet worden sei. »Es ist ein merkwürdiger Eindruck,« sagte er, »wenn man den unmittelbaren Zeugen einer großen Vergangenheit gegenübersteht; man empfindet es ebenso tief, daß sie einst voll Leben und Herrlichkeit war, wie daß sie für immer versunken und verloren ist.«

»Ach, warum ist alles auf Erden dem unerbittlichen Gesetz der Vergänglichkeit unterworfen?« seufzte Sigrid; »warum muß das Große und Erhabene vergehen, um dem Kleinen und Unbedeutenden Platz zu machen?«

»Mir liegt ein Vers im Sinn, der dir vielleicht Antwort darauf gibt,« erwiderte Frida ein wenig schüchtern, »er lautet:

Wohl stürzt, was Macht und Kunst erschufen,
Wie für die Ewigkeit bestimmt,
Doch alle Trümmer werden Stufen,
Darauf die Menschheit weiter klimmt.

(Geibel.)

Klingt das nicht tröstlich? und meinst du nicht, daß euer herrlicher Glaubensheld Gustav Adolf um viele Stufen höher stand als die alten heidnischen Wikinger?«

»Was für hübsche Gedanken in dem kleinen Köpfchen wohnen!« flüsterte Ingeborg ihrem Bruder zu, indem sie Frida mit zärtlicher Bewunderung betrachtete. »Ist sie nicht ein liebes Wesen?«

Arved winkte ihr zu schweigen, aber er widersprach ihr nicht.

Am Nachmittag klärte sich der Himmel auf, und da Herr Holmböe mit seinen Geschäften noch nicht fertig war, so beschloß die junge Gesellschaft, die Hügel zu ersteigen, die die Stadt im Halbkreis umgeben, und deren einer das alte Schloß Bergenhuus trägt. Die Stadt mit ihren Türmen und dem Gewirr enger Häuserreihen, der belebte Hafen, das glänzende, weite Meer, über das Schiffe mit schimmernden Segeln oder dampfenden Schornsteinen zogen – das alles vereint sich zu einem anmutsvollen Bilde. »Was mag das für ein stattliches Gebäude sein, das da so weit draußen liegt?« fragte Frida. »Es sieht aus wie ein prächtiger Herrensitz in vornehmer Zurückgezogenheit.«

»Und ist doch eine Zufluchtsstätte für die Ärmsten und Elendesten, die die Erde trägt,« erwiderte Arved ernst. »Es ist das große Hospital für Aussätzige.«

»Großer Gott! gibt es hier im kühlen, klaren Norden solche Unglückliche?« fragte sie tief erschrocken. »Ich dachte, das wäre ein Fluch, der nur auf den glühenden Ländern der heißen Zone lastet.«

»Keineswegs; gerade unser Norwegen leidet schwer unter dieser furchtbaren Plage. Wir haben fünf große Krankenhäuser, die nur solche Leidende aufnehmen, und wohl zwanzigtausend Menschen sind diesem furchtbaren Übel verfallen. Alle Bemühungen der hervorragendsten Ärzte, es dauernd zu heilen, haben sich bisher als unwirksam erwiesen; zuweilen werden wohl Kranke als gebessert entlassen, aber mit der Zeit verfallen sie unfehlbar ihrem trostlosen Geschick. Das Schlimmste aber ist, daß sich der Keim dazu auf Kinder und Kindeskinder vererbt, daß also kein Ende dieses Jammers abzusehen ist.« –

Weiter, immer weiter nach Norden ging die Fahrt. Hinter den Reisenden zurück blieb das Reich der Städte, des lauten menschlichen Treibens, und ihren Blicken begegnete nur die unberührte Natur in ihrer gewaltigsten Majestät. Ein düsterer Kranz von zerrissenen Felsen, die überall aus dem Meer auftauchten und ihre kahlen Häupter spitz und zackig in die klare Luft streckten; eine hohe, unwirtliche Küste in schweigender Wildheit, durchwühlt von Meeresarmen, die sich darin zu verlieren schienen; hie und da ein grüner Streifen oder ein weiß leuchtendes Birkengebüsch, ein paar schwarze Nadelhölzer in einer Felsspalte, oder ein paar armselige Fischerhütten, die die ungeheure Öde und Einsamkeit ringsumher nur noch deutlicher hervortreten ließen – das waren die Bilder, die sich tagelang den Blicken der Nordlandsfahrer darboten. Und diese Tage nahmen kein Ende, denn die Sonne verschwand nicht vom Horizont. Zwar scheint es, als wolle sie um Mitternacht ins Meer tauchen und für kurze Zeit von dem ermüdenden Kreislauf ausruhen: dann breitet sich ein schlaftrunkenes Schweigen über die ganze Natur aus; kein Hauch bewegt die Luft, keine Welle plätschert, kein Fisch springt im Wasser, und die Tausende von Möwen, Enten und Eidergänsen, die alle Klippen bedecken, verbergen die Köpfe unter den Flügeln, die vom gelbroten Sonnenlicht wunderbar und geheimnisvoll überflutet werden. Aber nach wenig Minuten des Stillstandes scheint die Sonne neue Kraft gesammelt zu haben; langsam erhebt sich der riesige Feuerball aus dem Meer, rotglühend, aber strahlenlos, so daß man mit unbeschützten Augen hineinsehen und seinen Lauf verfolgen kann. Dann erglänzt der Himmel in allen Farben, vom dunkelsten Purpur, der die Felsen säumt, bis zum blassen Weißgrau in der Höhe; jetzt nimmt die Sonne einen violetten Schimmer an, jetzt einen goldigen, und dann wieder breitet sich ein grünlicher Schleier darüber aus, bis nach einigen Stunden die Natur ihr gewohntes Ansehen nimmt und das Leben in Luft und Wasser wieder erwacht.

Frida konnte die Fülle der Eindrücke kaum bewältigen; sie fühlte sich fast erdrückt und doch auch hoch erhoben, oft bis zu Tränen gerührt und daneben wieder voll dankbarer Freude, daß sie alle diese ungeahnten Wunder schauen durfte. Am liebsten hätte sie immer still mit gefalteten Händen dagesessen, staunend und anbetend; doch waren die anderen nicht gewillt, sie dieser beschaulichen Stimmung zu überlassen. Besonders Ingeborg konnte nicht lange schweigen und war, trotz der Großartigkeit der Umgebung, jederzeit zu Scherz und Plauderei aufgelegt, während Sigrid immer bestrebt war, sich alle Erscheinungen genau und gründlich erklären zu lassen. Es war freilich ein Vergnügen, Arved Lundholm zuzuhören, und auch Frida lauschte aufmerksam seinen belehrenden Worten. Wie anschaulich wurde ihr hier vieles, was sie in der Schule gelernt und doch nur halb begriffen hatte! Die segensreichen Wirkungen des Golfstromes, der die Küste Norwegens bespült, sah sie hier vor Augen; sie wurden immer deutlicher, je weiter sie nach Norden kamen und an vielen Stellen Felder und Gärten fanden, wo ohne dies die kühle Erde kaum einen Grashalm erzeugt hätte. Das täglich wiederholte Schauspiel der Mitternachtssonne machte die Bewegung der Erde und ihr Verhältnis zur Sonne wunderbar klar; man konnte es förmlich mit Händen greifen, daß bei der schiefen Stellung der Erdachse zu ihrer Bahn der Nordpol sechs Monate lang der Sonne zugekehrt und sechs Monate lang von ihr abgewandt ist, daß er also in der einen Hälfte des Jahres vollen Tag, in der anderen immerwährende Nacht haben muß; daß sich dieser schroffe Gegensatz aber immer mehr ausgleicht, je weiter man nach Süden kommt, bis unter dem Äquator Tag und Nacht jahraus jahrein dieselbe Länge haben.

Längst war der nördliche Polarkreis überschritten, da stieg vor den Reisenden eine gewaltige Mauer aus den Fluten empor; in wilder, wundersamer Schönheit hoben sich die starren Felswände vom blauen Himmel ab, mit so phantastisch gestalteten Spitzen und Zacken, daß man eine Schar versteinerter Riesen vor sich zu sehen glaubte. »Was ist das?« fragten die Mädchen erstaunt, und die Antwort lautete: »Das sind die Lofoten, eine Inselgruppe, die schon in alter Zeit von den Seefahrern mit scheuer Ehrfurcht betrachtet wurde, weil sie in ihnen alle Sagen von den Kämpfen der Riesen und Trollen gegen die Götter verkörpert vor sich zu sehen glaubten.« In den engen Kanälen zwischen den Inseln branden die Wogen mit so ungestümer Gewalt, daß sich kein Kahn ihnen anvertrauen darf: das ist der Malstrom, der nach altem Glauben dieses Wunderland vor der Annäherung der Sterblichen schützte. Märchenhaft war der Anblick, als die Mitternachtssonne diese Felsengebilde mit ihrem zauberhaften Schein übergoß und sie mit scheinbarem Leben beseelte; Frida glaubte zu träumen, sie rieb sich die Augen und fragte sich immer wieder, ob sie es selbst sei, die das alles schauen durfte, wovon Vater und Mutter und alle Lieben daheim keine Ahnung hatten.


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