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Sechstes Kapitel.
Die Herrin von Marscourt-Hall


Vor der Tür von Ivy-Lodge hielt ein bequemer Reisewagen, der mit vier kräftigen Pferden bespannt war, und im Hause war man noch eifrig beschäftigt, die letzten Zurüstungen zur Fahrt nach Marscourt-Hall zu beenden. Mit Erstaunen sah Ilse beide Kammerjungfern auf den Hintersitz steigen, während sich ein Bedienter auf den Bock schwang, und es gab ihr einen Begriff von dem großartigen Zuschnitt des dortigen Lebens, daß man eine so zahlreiche Dienerschaft für einige Wochen mit sich nahm. Es wäre leicht möglich gewesen, den größten Teil des Weges mit der Eisenbahn zurückzulegen, aber Lady Jane zog den eigenen Wagen vor, weil dadurch mehrfaches Umsteigen und unerfreuliches Warten vermieden wurde. Ilse war wohl damit zufrieden; für sie war es ein ungewohntes Vergnügen, bequem in die schwellenden Polster zurückgelehnt auf der vortrefflichen Landstraße dahinzurollen und die reizenden Bilder der englischen Landschaft an sich vorüberziehen zu lassen. Dieses reiche Land mit seinen saftigen Wiesen und anmutigen Flüssen, seinen herrlichen Bäumen und lieblichen Hügeln, seinen Seen und sauberen Dörfern gleicht einer Galerie, in der sich ein hübsches Gemälde an das andere reiht. Freilich fehlt es an Abwechselung, an poetischer Unordnung und erhabener Wildheit; alles ist wohl geordnet, jedes Fleckchen sorgsam angebaut, Weiden und Felder durch regelmäßig gezogene Hecken abgegrenzt. Das wirkt auf die Dauer ermüdend, so sehr es zuerst das Auge fesselt und das Gemüt anspricht.

Seit Ilse, durch Miß Robsons einfache Gründe überzeugt, den Widerstand gegen die englischen Sitten aufgegeben und ihr ganzes Streben darauf gerichtet hatte, sich so ladylike zu betragen wie die feinste englische Dame, hatte sie sich viel behaglicher gefühlt. Sobald sie sich mit ihrer Umgebung im Einklang fühlte, waren auch ihre Unbefangenheit und die anmutige Frische ihres Wesens zurückgekehrt, und bald hatte sie sich Lady Janes Zuneigung und Mauds zärtliche Liebe erworben. Dennoch dachte sie mit einiger Bangigkeit an Mrs. Howard-Marscourt, denn alles, was sie von der alten Dame hörte, ließ sie ein Musterbild englischer Steifheit und strengster Form in ihr vermuten.

Nach einer Fahrt von einigen Stunden tauchte am Wege eine hohe Mauer auf, die gar kein Ende nehmen wollte; es war die Parkmauer von Marscourt-Hall, und ihre Länge gab den Vorüberfahrenden schon eine Andeutung von den umfangreichen Gründen, die sie einschloß. Wundervolle alte Bäume streckten ihre grünen Wipfel bis über die Landstraße hinaus und ließen auch den bescheidenen Wanderer etwas von ihrem erquicklichen Schatten genießen. Dann wurde ein Torwärterhäuschen sichtbar, das ganz von blühenden Kletterrosen umsponnen war; die großen eisernen Torflügel sprangen auf – auf der einen Seite knickste ein kleines Mädchen, auf der anderen zog ein größerer Knabe ehrfurchtsvoll an seiner Stirnlocke –, und der Wagen bog in eine breite Allee von uralten Walnußbäumen ein, die in schnurgerader Richtung auf das Haus zuführte. Es war viel größer und stattlicher als das von Ivy-Lodge und zeigte in seinem Mittelbau Spuren hohen Alters; die schwere Säulenhalle vor der Tür, die breite steinerne Rampe, auf die alle Fenster des Erdgeschosses mündeten, die immergrünen Bäume und Sträucher von mächtigem Umfang, die zu beiden Seiten das Haus umrahmten, das alles gab den Eindruck eines alten angestammten Herrensitzes; es war reich und würdig, aber ernst und düster.

Mehrere Diener sprangen herzu, um den Wagenschlag zu öffnen; in der großen Eingangshalle waren der alte Haushofmeister und die Haushälterin anwesend, um die Ankommenden zu empfangen und sogleich auf ihre Zimmer zu führen. »Wie verschieden sind doch die Begriffe von Höflichkeit,« bemerkte Ilse halblaut zu Maud, während sie die breite Treppe hinaufstiegen; »bei uns in Deutschland würde man es für unhöflich halten, seine Gäste nicht an der Tür willkommen zu heißen.«

»O, darling,« rief die andere ganz verwundert, »sollte Großmama hier bereit stehen, um uns beide zu empfangen? Sie wartet natürlich, bis wir zu ihr kommen. Wir sind ja alle müde und bestaubt; ist es nicht viel bequemer, daß sie uns Zeit läßt, uns zu erholen und umzuziehen und uns nachher im kühlen drawing-room erwartet?«

»Es hat seine Vorzüge,« gab die Deutsche zu, »aber das merke ich doch, daß eine englische Dame, und wäre sie noch so fein, bei uns auch manchen Anstoß erregen würde.«

Den beiden jungen Mädchen wurde ein gemeinsames Wohnzimmer angewiesen, und als sich Ilse darin umsah und die vornehme Ausstattung betrachtete, mußte sie mit einem stillen Seufzer an die »gute Stube« daheim im lieben Pfarrhaus denken, die sich an Eleganz und Behaglichkeit nicht entfernt mit diesem Fremdenzimmer messen konnte. Wie hätte sie ihrem Mütterchen nur die Hälfte des Teppichs gewünscht, der hier den ganzen Fußboden bedeckte! Großartig war der Blick auf den Park; weite Rasenflächen, mit Gruppen alter mächtiger Bäume bestanden, dehnten sich in anmutigen Wellenlinien bis in unabsehbare Fernen aus; ganze Rudel von Rehen ästen in ungestörtem Frieden oder jagten, durch irgendein Geräusch aufgescheucht, in leichtfüßigen Sprüngen ins Weite. Zur Seite sah man die langen Glaswände großer Gewächshäuser durch das Buschwerk schimmern, während in der Nähe des Hauses Rosen und viele seltene Blumen in üppigster Fülle blühten und dufteten.

»Was für ein wundervolles Bild!« sagte Ilse, und unwillkürlich fügte sie hinzu: »Wie reich muß Ihre Großmutter sein, Maud!«

»Ich glaube wohl,« war die Antwort, »aber beneiden Sie sie nicht, Darling; sie hat sehr viel Unglück im Leben gehabt.«

»In welcher Art?«

»Sie hat alle ihre Kinder vor sich sterben sehen, und von ihren Enkeln sind nur Archie und ich übrig geblieben. Ich hatte immer das Gefühl, als ob eine Wolke über all den Herrlichkeiten von Marscourt-Hall läge. Beide Großeltern waren ernste, förmliche Leute, vor denen wir Kinder große Scheu hatten, sogar Archie, der sich doch sonst vor keinem Menschen fürchtete. Vollends seit der Großpapa starb, geht es hier trübselig zu, und ich besinne mich kaum, auf Großmamas schönem altem Gesicht jemals ein Lächeln gesehen zu haben.«

»Traurig!« erwiderte Ilse. »Aber sehen Sie doch, wer sind die beiden Damen, die dort auf das Haus zukommen?«

Maud sah hinaus. »Das müssen die beiden Amerikanerinnen sein, die jetzt bei der Großmutter zum Besuch sind.«

»Verwandte von Ihnen?«

»Nein – es sind die Angehörigen eines Freundes vom Großvater. Ich weiß nur, daß sich Großmutter viel Mühe gegeben hat, sie aufzufinden, und daß sie wünscht, ich möchte mich mit Evelyn befreunden.«

Ilse hätte gern noch weiter gefragt, doch mochte sie nicht zudringlich erscheinen; hatte sie es doch schon einigemal erfahren, daß man in England jedes Forschen nach den Verhältnissen anderer als unfein verurteilt.

Eine Stunde später trat Arnott ein, um Maud zu ihrer Tante zu bescheiden und Ilse anzukleiden. Die sonst so bescheidene Jungfer war heute offenbar sehr zur Unterhaltung aufgelegt; sie machte allerlei Bemerkungen über die Größe und Schönheit des Hauses und die wunderbare Geschichte seiner Bewohner. Ilse ließ sie ungestört reden; sie stellte zwar keine Fragen, aber sie hinderte Arnott auch nicht, alles auszuplaudern, was sie von den Dienstboten erfahren hatte. Die Marscourts, erzählte das Mädchen, wären eine sehr alte Familie gewesen und so stolz auf ihren bürgerlichen Namen wie nur irgendein Lord oder Herzog auf den seinigen. Doch hätten sie durch unglückliche Handelsgeschäfte ihr Vermögen verloren, so daß sich der Vater der jetzigen Herrin genötigt gesehen habe, die schöne Besitzung zu verkaufen und mit den Seinen nach London zu ziehen. Sein einziger Gedanke sei es gewesen, die alte Halle wieder zu erwerben; deshalb habe er die Hand seiner wunderschönen Tochter nur einem Manne geben wollen, der imstande wäre, das Gut zurückzukaufen. Zwei junge Männer hätten sich um Miß Marscourts Gunst beworben, Mr. Harrison und Mr. Howard, beide vermögende Londoner Kaufleute; Howard habe den Preis gewonnen, die schöne Miß geheiratet und ihren Namen dem seinigen hinzugefügt. Seitdem habe sein Reichtum immer mehr zugenommen, während der andere ganz verarmt sei. Aber es müsse wohl eine geheimnisvolle Bedeutung damit gehabt haben, denn nach dem Tode ihres Gatten habe Mrs. Howard-Marscourt Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um die Nachkommen jenes Mr. Harrison aufzusuchen; die beiden Damen würden wie nahe Verwandte mit aller Rücksicht behandelt, und man sage, der junge Mr. Howard solle Miß Harrison heiraten, damit der ganze Reichtum ihr ...

Ilse fühlte sich tief beschämt, daß sie Arnotts Geschwätz bis dahin ruhig angehört hatte; jetzt sprang sie auf und machte der Unterhaltung ein Ende. Bald kam Maud herein, um sie abzuholen, und klopfenden Herzens folgte jene den beiden Damen in das drawing-room, das noch viel prächtiger eingerichtet war als das in Ivy-Lodge. Freilich fehlte ihm die ansprechende Gemütlichkeit, die jenes auszeichnete, aber es bildete einen passenden Rahmen zu der hohen, gebietenden Gestalt, die dort in einem rotsamtnen Armstuhl saß und sich beim Eintritt der Gäste langsam erhob. Mrs. Howard-Marscourt hatte die stattliche Würde einer Königin, aber in den schönen Zügen ihres Gesichts, das von grauen Locken eingefaßt war, lagen Stolz und Kälte als hervorstechendste Eigentümlichkeiten. Maud küßte ehrerbietig die Hand der Großmutter und beantwortete ihre Fragen mit Höflichkeit und Zurückhaltung; es lag keine Spur von Zutrauen und Zärtlichkeit in ihrem Verkehr. Ilsens tiefe Verbeugung erwiderte die alte Dame nur mit einem kurzen, herablassenden Knopfnicken, dann wandte sie sich wieder zu Lady Jane, ohne das junge Mädchen weiter zu beachten. Der stieg das Blut in die Wangen, doch wurde ihre Aufmerksamkeit schnell auf einen andern Gegenstand gelenkt, da Miß Evelyn Harrison eintrat, dieselbe, die Ilse schon im Park beobachtet hatte. Sie war von großer, kräftiger Gestalt; ihr Gesicht war regelmäßig und von außerordentlich zarter Farbe, die Augen hellblau, die üppigen Haare von einem goldigglänzenden Gelb, aber es fehlte ihrem Gesicht jeder Hauch von jugendlicher Frische; es trug einen müden, trüben Ausdruck, der sich auch beim Sprechen kaum aufhellte. Ilse fühlte eine große Teilnahme für das Mädchen und wandte sich mit einer Frage an sie, aber die Antwort wurde in so gedämpftem Ton gegeben, als fürchte die Sprecherin, ihre Stimme hier laut werden zu lassen. Es war, als ginge von der Herrin dieses reichen Hauses ein fühlbarer Druck aus, der jede heitere Unbefangenheit lähmte, und Ilse atmete erst wieder freier auf, als ein Herr eintrat, der den Gästen als Mr. Frost, Vikar von Marscourt, vorgestellt wurde; seine wohllautende Stimme und sein sicheres Auftreten hatte etwas wahrhaft Erfrischendes.

Bald darauf meldete ein Diener mit feierlichem Ernst, daß das Mittagessen angerichtet sei; die Flügeltüren sprangen auf, und durch mehrere schön eingerichtete Zimmer ging man in den Speisesaal. Er vermochte wenigstens fünfzig Personen aufzunehmen; das hohe Eichengetäfel und die Wandgemälde darüber, die schweren Zieraten der reichgeschmückten Decke, die kostbaren Geräte von altertümlichem Porzellan und Metall, die auf offenen Schenktischen aufgestellt waren, der riesige Kamin mit seiner Einfassung von glänzendem, schwarzem Marmor – das alles zeugte von altem Wohlstande, der sich schon oft vom Vater auf den Sohn vererbt hatte. Alles trug das Gepräge düsterer Würde, nur die gedeckte Tafel mit ihrer Fülle von Silber, Kristall und herrlichen Blumen war wie ein heller Sonnenstrahl anzusehen. Einen Augenblick senkten sich die Köpfe, während der Vikar das übliche Tischgebet sprach: »Für das, was wir empfangen, o Herr, mache uns aufrichtig dankbar!« – dann nahm das feierliche Mahl, das von zwei Dienern aufgetragen und von dem stattlichen Haushofmeister geleitet wurde, seinen Anfang. Daß es nicht, wie daheim, mit einer Suppe begann, daran war Ilse nun schon gewöhnt, aber sie vermochte es noch immer nicht, sich mit der Einförmigkeit der englischen Küche zu befreunden; den wirklich guten und saftigen Fleischstücken fehlte jede schmackhafte Beigabe; die Gemüse erschienen ihr zu fade, die Pasteten zu schwer, das Weizenbrot zu fest und nüchtern. Wie sehnte sie sich oft nach einem Stück des heimischen kräftigen Roggenbrotes, den lockeren Aufläufen und luftigen kalten Speisen, in deren Bereitung ihre Mutter eine Meisterin war. Wie gern hätte sie es einmal versucht, ein deutsches Gericht herzustellen, aber Mrs. King hatte zu solchem Ansinnen höchst bedenklich den Kopf geschüttelt und sehr ernst gemeint, das schicke sich nicht für eine feine Lady und bliebe besser den Dienstboten überlassen, die bei solchem Eingriff in ihr Gebiet leicht den schuldigen Respekt vergessen könnten.

Anfangs tafelte die kleine Gesellschaft in tiefem Schweigen, dann begann Lady Jane eine Unterhaltung mit dem Vikar, der mit Eifer darauf einging. Er erzählte mancherlei Erfahrungen aus seinem Amt und sprach so klug und anziehend, daß Ilse aufmerksam zuhörte und sich auch mitunter in das Gespräch mischte. Sobald sie aber lebhaft werden wollte, warf Lady Jane ihr einen mahnenden Blick zu, den sie sogleich verstand und beherzigte.

Nach einer langen Reihe von Gerichten wurde das Tischtuch fortgenommen und der Nachtisch auf der spiegelblanken Mahagoniplatte aufgetragen; dann erhob man sich, der Vikar sprach ein kurzes Dankgebet und öffnete die Tür, um die Damen hinauszulassen, die sich in eins der kleineren Zimmer begaben, wo trotz der lieblichen Wärme des Sommerabends doch ein helles Feuer im Kamin brannte. Der Geistliche, dem es bei seinem einsamen Weinglase nicht sehr gefallen mochte, folgte bald, empfahl sich aber gleich darauf, da Amtsgeschäfte seiner warteten; Evelyn, die bei Tische kein Wort gesprochen hatte, bat um Erlaubnis, zu ihrer leidenden Mutter zurückkehren zu dürfen, die beiden älteren Damen setzten sich nahe an die Flammen, und die beiden jungen Mädchen blieben sich selbst überlassen. Ilse flüsterte Maud ganz verzweifelt zu, ob sie nicht lieber in den Park hinausgehen könnten, statt sich hier teils rösten, teils zu Tode langweilen zu lassen, aber Maud winkte ihr bittend zu, Geduld zu haben; sie reichte ihr ein Buch mit schönen Kupferstichen und vertiefte sich in ein ähnliches. Nachdem der Tee getrunken war, forderte Mrs. Howard-Marscourt die Enkelin auf, Klavier zu spielen, was diese auch gehorsam tat, obgleich die Natur ihr, wie den meisten Engländerinnen, nur geringe musikalische Anlagen verliehen hatte. Dann kam Ilse an die Reihe; sie fügte sich ohne Widerstreben diesem Verlangen, obgleich sie sehr wohl merkte, daß die anderen die Töne ohne jedes Verständnis an sich vorüberrauschen ließen. Endlich verkündete die Stutzuhr auf dem Kamin die zehnte Stunde, die alte Dame erhob sich, wünschte ihren Gästen eine Gute Nacht und zog sich zurück, ohne auch nur einmal das Wort an die deutsche Gesellschafterin gerichtet zu haben.

Als die beiden Mädchen auf ihrem Zimmer angekommen waren, warf Ilse den Kopf in den Nacken, reckte ihre Arme aus und ging mit großen Schritten auf und ab. »Luft, Luft! ich ersticke!« rief sie erregt. »Was für ein Leben, was für eine Frau! Wie soll ich diesen Druck einige endlose Wochen hindurch ertragen! Ich laufe davon und quartiere mich im Torwärterhäuschen oder in der kleinsten Hütte des Dorfes ein – nur nicht hier bleiben, wo einem das Blut in den Adern gerinnt in der unerträglichen Luft von Anmaßung, Steifheit und Langerweile! Ist diese Frau die Selbstherrscherin aller Reußen, und sind wir andere nur der Staub zu ihren Füßen? Ich glaube, der Stolz hat alle anderen Eigenschaften ihrer Seele aufgefressen, und als er nichts mehr zu verzehren fand, da ist er zu Stein erstarrt. O diese eiskalten Augen! Sie haben wohl nie etwas anderes angebetet als das eigene Ich und das goldene Kalb!«

»Warum regen Sie sich so auf, Darling?« fragte Maud in großer Gemütsruhe, indem sie sich in einen bequemen Lehnsessel warf und ihre langen Glieder weit von sich streckte. »Sie werden weder die Verhältnisse noch die Großmama ändern und müssen sich schließlich doch in das Unvermeidliche fügen. Zu Ihrem Trost kann ich Ihnen sagen, daß sie selten vor dem Lunch (zweiten Frühstück) erscheint und am Vormittag nur die Auserwählten zu sich befiehlt, zu denen Sie wohl nicht gehören dürften. Übrigens verkennen Sie Großmama doch vielleicht; sie ist eine freigebige und gerechte Herrin, und auf wenig Gütern geschieht so viel für das Wohl der Untergebenen wie in Marscourt. Die Großeltern haben eine eigene Kapelle hier im Park erbaut, damit es die Alten und Schwachen, die beschäftigten Familienmütter und die Kinder nicht weit bis zur Kirche haben, und Großmama besoldet den Vikar allein aus ihrer Tasche, um ihren Leuten das Wort Gottes recht nahe zu bringen. Heißt das nur sich selbst und sein Geld lieben?«

Ilse hatte während dieser Rede in den dämmerigen Park hinausgesehen und immer lebhafter mit den Fingern an die Scheiben getrommelt; jetzt drehte sie sich schnell um und streckte Maud die Hand entgegen. »Verzeihen Sie mir,« sagte sie mit reuiger Offenheit, »ich sprach sehr unbedacht. Ich hätte nicht so vorschnell über eine alte Dame urteilen dürfen, die Ihnen so nahe steht, und die ich so wenig kenne. Ich will mich aufrichtig bemühen, sie besser schätzen zu lernen.«

Maud schlug in die dargebotene Hand ein. »Das ist hübsch von Ihnen, Darling,« sagte sie lachend, »aber wohl gemerkt: für leutselige Liebenswürdigkeit stehe ich auch bei der genauesten Bekanntschaft nicht ein; ich fürchte, die ist bei der Zusammensetzung von Großmamas Charakter vergessen worden.«

»Wie unglücklich diese Evelyn aussieht!« begann Ilse nach einer nachdenklichen Pause von neuem, »so, als ob sie das Leben nur von der trübseligsten Seite kennte. Ich wollte, ich könnte etwas tun, um sie zu erheitern. Dabei grübele ich immer, woher mir die Einzelheiten ihrer Erscheinung so bekannt vorkommen; gesehen habe ich sie sicher noch nie, höchstens im Bilde, oder ich habe irgendwo eine Beschreibung gelesen, die genau auf sie paßt.«

»Vermutlich haben Sie sie im Traume geschaut, Darling,« meinte Maud neckend, »ich glaube, ihr Deutschen träumt im Wachen und Schlafen mehr als andere Menschen.«

»Spötterin! Zur Strafe ziehe ich mich gleich ganz ins Reich der Träume zurück.«

»O bitte, bleiben Sie, und lassen Sie uns noch ein Weilchen plaudern!«

»Nein nein, ohne Erbarmen: Gute Nacht!«

Ilse verschwand nach einigen scherzhaften Kämpfen wirklich hinter der Tür ihres Schlafgemaches, guckte aber nach einer Weile noch einmal heraus und fragte: »Gibt es eine Morgenandacht in diesem Hause?«

»Nein, aber in der Kapelle – das wird Ihnen gefallen, Darling.«

Am nächsten Morgen erklang der helle Ton eines Glöckchens durch den Park, und allerlei Gruppen eilten dem kleinen Kirchlein zu, das im Schatten herrlicher Buchen und Eichen erbaut war. Vom Dorfe her kamen Greise und Matronen, von Enkelkindern geführt, Frauen mit dem Jüngsten auf dem Arme und einem älteren Kinde an der Hand, ein langer Zug von Schulkindern mit der Lehrerin an der Spitze und ein Teil der Hausdienerschaft, denen die Damen folgten, mit Ausnahme der Herrin, für deren Jahre die Stunde zu früh war. Die kurze Feier war schön und erhebend, der Gesang der Kinderstimmen frisch und lieblich, und Ilse fühlte sich mit Mrs. Howard-Marscourt etwas ausgesöhnt. Da Lady Jane ausdrücklich gewünscht hatte, daß die Stunden keine Unterbrechung erleiden möchten, so machten sich die jungen Mädchen nach dem Frühstück daran, sich in der Bibliothek einen stillen Arbeitsplatz zu suchen. Es war ein mächtiger Raum, dessen Wände ganz mit Büchergestellen bedeckt waren, denn man legt in England allgemein einen hohen Wert auf den Besitz vieler Bücher und benutzt sie fleißig. Die in tiefen Nischen liegenden Fenster mit den kleinen, altertümlichen Scheiben, die schweren Stühle und dunkeln Vorhänge gaben auch diesem Zimmer ein besonders ernstes Aussehen, doch ließ sich in einem der vorspringenden Erker ein trauliches Plätzchen schaffen, auf dem sich die beiden häuslich niederließen, um mit dem gewohnten Eifer an die Arbeit zu gehen. Zuerst kam deutsches Lesen an die Reihe – ein Gegenstand, der Ilsens Geduld auf besonders harte Probe stellte, da Mauds Aussprache viel zu wünschen übrig ließ. Wenn sie von Go-iße statt von Goethe, von Si-us statt von Zeus sprach, so hielt sich die Lehrerin entsetzt die Ohren zu, und wenn die Engländerin Schillersche Dramen mißhandelte, so konnte die Deutsche kaum ruhig sitzen bleiben. Auch heute hörte sie in stiller Verzweiflung dem Radebrechen zu, als Maud plötzlich innehielt und mit einem schelmischen Ausdruck zu dem finsteren Gesicht der Gefährtin hinüberblinzelte. »Warum lesen Sie nicht weiter?« seufzte Ilse.

»O Darling, ich furchtbare mir vor Ihre ausdrückliche Blicke!« erwiderte die andere.

Diesem Pröbchen deutscher Sprachgewandtheit hielt Ilsens Ernst nicht stand; sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und brach in ein schallendes Gelächter aus, in das Maud gedämpft einstimmte. In diesem Augenblick öffnete sich die hohe Tür, und Mrs. Howard-Marscourt trat ein; die beiden fuhren erschrocken auf, konnten aber ihre Lachlust nicht gleich bezwingen. Maud faßte sich zuerst so weit, der Großmutter entgegenzugehen, ihre Hand zu küssen und sie nach ihrem Befinden zu fragen, während Ilse neben ihrem Stuhl stehen blieb und mit der unglückseligen Neigung kämpfte, der Gebieterin von Marscourt-Hall ins Gesicht zu lachen.

»Ich glaubte, hier fände eine Lehrstunde statt,« begann die alte Dame in strengem Ton, »aber die Töne, die mein Ohr berührten, paßten wenig zu dem Ernst, der einer solchen gebührt.«

»Miß Stein sucht meine fehlerhafte deutsche Aussprache auf verschiedene Weise zu heilen, Großmama,« fiel Maud schnell ein; »wenn die ernste Ermahnung nicht mehr hilft, lacht sie mich aus. Das ist sehr beschämend und deshalb nicht unwirksam.«

Mrs. Howard verzog keine Miene; Scherz war für sie nicht vorhanden. »Fahre mit Lesen fort, Maud; ich bin nicht gekommen, um zu stören, sondern um zuzuhören. Ich bitte, Miß Stein.« Damit nahm sie auf einem der hochlehnigen, lederbeschlagenen Stühle Platz in so aufrechter Haltung wie eine Königin, die mit Krone und Zepter auf ihrem Throne sitzt. Ilse wünschte sich viele Meilen weit weg; die Nähe einer solchen Aufseherin war äußerst unbehaglich. Zugleich aber regte sich der beleidigte Stolz in ihr; sie wollte dieser herrischen alten Frau, die sie als Gast ihrer Beachtung für unwert hielt, beweisen, was sie sei und könne; sie nahm deswegen eine wahre Amtsmiene an und begann Maud durch eine Menge schwieriger Fragen in Verlegenheit zu setzen. Das verstimmte jene; sie gab ihre Antworten immer zögernder und widerwilliger und mußte es sich gefallen lassen, daß Ilse in ihren Zurechtweisungen einen immer schärferen Ton anschlug und ihr eigenes Wissen immer heller leuchten ließ. Eine lange Weile hörte Mrs. Howard-Marscourt dieser unerquicklichen Prüfung ohne jede Bewegung zu; dann sah sie nach der Uhr und erhob sich. »Es dürfte Zeit sein, aufzuhören,« sagte sie steif, »du mußt dir gründliche Bewegung machen, Maud. Du magst jetzt zwei Stunden reiten oder fahren, die Ponies und der Reitknecht stehen um diese Zeit zu deiner Verfügung; doch wünsche ich, daß du Miß Harrison aufforderst, dich zu begleiten.«

»Ich möchte lieber reiten, Großmama,« war Mauds schnelle Antwort.

»Gut, ich werde die nötigen Befehle erteilen. Zum Lunch erwarte ich euch.« Damit rauschte sie majestätisch hinaus und ließ die beiden Mädchen in der unbehaglichsten Stimmung zurück. Maud war sich bewußt, durch ihren Entschluß, zu reiten, Ilse von dem Vergnügen des Vormittags ausgeschlossen zu haben, aber sie war zu ärgerlich auf jene, um Rücksicht auf sie zu nehmen; in Ilse aber kochte ein heißer Zorn gegen den englischen Hochmut, der in einer besoldeten Gesellschafterin ein Wesen untergeordneter Art sah. Sie stülpte ihren Hut auf und lief in den Park hinaus; in heftiger Erregung stürmte sie durch die Gänge, bis sie unvermutet vor der Kapelle stand, deren Tür halb geöffnet war. Unwillkürlich trat sie ein, und die kühle Stille, die sie hier umfing, brachte sie plötzlich auf ganz andere Gedanken. War sie nicht in einer Schule der Sanftmut und Demut, und durfte sie sich so ungebärdig anstellen, wenn ihr die Aufgabe schwer gemacht wurde? Sie fühlte, daß sie sehr unfreundlich gegen Maud gehandelt habe, die dies wahrlich nicht um sie verdient hatte; mit ihr mußte sie sogleich Frieden machen. Von der Gebieterin dieses stolzen Hauses aber wollte sie fortan nichts erwarten und sich durch ihr herrisches Wesen weder ärgern noch einschüchtern lassen; sie wollte ihr aus dem Wege gehen, oder wo sich das nicht tun ließ, in ruhiger Höflichkeit begegnen. Mit sehr beruhigter Seele verließ sie endlich die Kapelle und wandelte nun mit wahrem Genuß durch den herrlichen Park, die wundervollen Baumgruppen und die reizenden Fernblicke mit Entzücken betrachtend, bis durch die friedliche Stille plötzlich das klägliche Weinen eines Kindes an ihr Ohr drang. Sie folgte dem Ton und fand im Gebüsch ein kleines Mädchen an der Erde sitzen, mit zerschundenen Händchen und hochroten Wangen, die von Erde und Tränen mit seltsamen Linien bemalt waren. Ilse beugte sich voll Teilnahme zu der Kleinen hinab, in der sie das Töchterchen des Torwärters erkannte, wischte ihr Gesicht und Hände ab und sprach ihr tröstend zu; das Kind erzählte unter Schluchzen, es sei beim raschen Wettlauf mit dem Bruder hingefallen und von ihm verlassen worden, ihm täte aber alles so weh, daß es nicht allein nach Hause gehen könne. So erbot sich Ilse, die kleine Mary zu geleiten; diese fing bald an, ganz zutraulich zu plaudern und von ihrem Heim und der alten Großmutter zu erzählen; sie bat ihre Begleiterin dringend, einzutreten, denn alle würden sich freuen, sie zu sehen. Das junge Mädchen folgte ihr gern; es war ihr interessant, auch die Wohnungen bescheidener Leute kennen zu lernen. Es sah innen sehr sauber und behaglich aus; auch hier bildete der Kamin den Mittelpunkt der Einrichtung, die, trotz ihrer Einfachheit, doch in der ganzen Anordnung eine gewisse Übereinstimmung mit der der reichen Häuser zeigte. Die Feuerstelle war jetzt mit einem großen Strauß von bunten Papierblumen und Hobelspänen ausgefüllt, während sie im drawing-room von Marscourt-Hall mit den schönsten lebenden Blumen verziert war, und auf der oberen Platte, die dort reizende kleine Kunstwerke trug, standen hier Tassen und fabelhafte Tiere von buntbemaltem Porzellan.

In einem großen Lehnstuhl am Fenster saß eine steinalte Frau, die bei Ilsens Eintritt nicht einmal aufsah. Die kleine Mary kletterte an ihrem Stuhl hinauf und rief ihr ins Ohr, eine fremde Dame aus dem Herrenhause sei da, um sie zu besuchen. Die Alte blickte auf, sah Ilse prüfend an und nickte langsam mit dem Kopfe; dann bat sie diese, sich zu setzen, und fragte sie mit einer gewissen Würde, wer sie sei, und woher sie komme. Bei der Antwort, daß sie Miß Mauds Gesellschafterin sei, erhellte sich das Gesicht der alten Frau; sie wurde gesprächig, erzählte, daß sie selbst hier im Torwärterhäuschen geboren und schon früh in den Dienst der Herrschaft getreten sei, als noch der alte Glanz in der Halle herrschte, und die Marscourts unter den angesehensten Besitzern der Grafschaft genannt wurden. Dann sprach sie mit Tränen von dem Unglück ihrer Herrschaft, die das alte Gut hatte verlassen müssen, berichtete, wie sie als einzige Dienerin ihrer Gebieterin gefolgt sei, wie wunderschön Miß Maud gewesen und mit welchem Jubel sie hier empfangen worden, als sie an Mr. Howards Seite wieder in das Haus ihrer Väter eingezogen sei. Erst allmählich wurde es Ilse klar, daß die Alte eine ganz andere Miß Maud meine als die jetzige, und daß sie die Herrin von Marscourt-Hall mit diesem Namen bezeichne. Sie hörte mit lebhafter Teilnahme den Erzählungen zu und hätte gern noch länger gelauscht, hätte sie nicht die Uhr daran gemahnt, daß die Stunde des Lunch erschreckend nahe sei. Sie nahm einen eiligen Abschied von der Greisin und versprach ihr, bald wiederzukommen.

Als sie heiß und atemlos auf ihrem Zimmer anlangte, kam ihr Maud entgegen. »Gottlob, daß Sie da sind, Darling, ich fürchtete schon, Sie würden sich verspäten, und das hätte Großmama ...« Sie brach errötend ab, denn sie erinnerte sich plötzlich, daß sie nicht im besten Einvernehmen von ihrer Gefährtin geschieden sei. Aber Ilse schlang den Arm um sie und küßte sie. »Sind Sie mir nicht mehr böse, liebe Maud?« fragte sie herzlich. »Ich war vorhin recht häßlich gegen Sie.«

Das junge Mädchen gab den Kuß mit Wärme zurück, was bei einer Engländerin noch mehr bedeutet als bei einer Deutschen. »Ich habe Ihnen etwas abzubitten,« sagte sie beschämt, »ich war so rücksichtslos.«

»So sind wir quitt«, entgegnete Ilse lachend, »und können einen Strich darunter ziehen.«

»Gern, Darling! Zu Ihrer Genugtuung kann ich Ihnen sagen, daß ich an diesem Ritt mit der stummen, trübseligen Evelyn auch nicht ein Fünkchen Vergnügen gefunden habe; in Ihrer Gesellschaft wäre es ein ganz anderes Ding gewesen!«

»Und ich habe einen köstlichen Spaziergang gemacht und im Park meine gute Laune wiedergefunden,« sagte Ilse heiter, »ich hatte also entschieden das bessere Teil erwählt.«

Beim Lunch ließ sich zum erstenmal Mrs. Harrison sehen; sie war von ursprünglich hohem Wuchs, und ihr Antlitz zeigte Spuren früherer Schönheit, aber jetzt war ihre Haltung gebeugt, die Züge verhärmt; Kummer und Leiden hatten eine traurige Verwüstung angerichtet und die kaum vierzigjährige Frau in eine Matrone verwandelt. Die erste Anknüpfung mit den Fremden gab die Musik; Ilse bemerkte wohl, daß sie die einzigen in diesem Kreise seien, die mit Verständnis ihrem kunstvollen Spiel lauschten. Ja es fand sich sogar, daß Evelyn eine hübsche Altstimme habe, die zu Ilsens hellem Sopran sehr gut paßte. Auch Mr. Frost bekannte sich zu einiger Kenntnis in der Kunst des Gesanges; man übte mehrstimmige Lieder ein, ein Wetteifer entbrannte, und die erst so langweiligen Abendstunden erhielten einen Reiz. Sogar Mrs. Howard-Marscourt hörte mit Vergnügen zu und äußerte einige Wünsche nach altmodischen Gesängen, die man gern zu erfüllen bestrebt war – kurz, die kleine Gesellschaft war nach Ablauf einer Woche in einer so angeregten und einträchtigen Stimmung, wie es Ilse anfangs nicht für möglich gehalten hätte.


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