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Zehntes Kapitel.
Ein unerwarteter Gast


Mehrere Wochen waren vergangen, seit Lady Jane Rivers mit den beiden jungen Mädchen aus Marscourt-Hall zurückgekehrt war. Zuerst hatte die Erinnerung an alles dort Erlebte wie ein schwerer Druck auf Ilsens Gemüt gelastet, aber mit jedem Tage trat sie weiter zurück, und ihr frischer, froher Geist gewann bald die alte Spannkraft wieder.

Da von der Heimkehr des jungen Mr. Howard noch gar keine Rede war, so lag auch keine Notwendigkeit vor, an das Versprechen zu denken, das sie der alten Bridget gegeben hatte; der ganze Vorgang erschien ihr wie ein wirrer Traum, den sie am liebsten ganz vergessen hätte. Mit Evelyn stand sie in lebhaftem Briefwechsel und bemühte sich, auch in ihrer Abwesenheit die neugewonnene Freundin zu trösten und zu erheitern; doch fühlte sie sich augenblicklich so glücklich in Ivy-Lodge, daß kein Hangen und Bangen ihre zufriedene Stimmung trüben durfte. Mit Lady Jane stand sie auf dem besten Fuße, Maud hing mit Zärtlichkeit an ihr, Harry begrüßte sie mit lauter, Mr. Wilmot mit stiller Freude, und sogar über das würdevolle Gesicht der Mrs. King ging ein Ausdruck des Vergnügens über die Rückkehr der jungen Damen. Kurz, es herrschte unter den Hausgenossen von Ivy-Lodge eine solche Harmonie, daß Ilse nur alle Tage Gott bat, sie vor jeder Störung zu behüten.

Auf Mauds dringenden Wunsch hatte Ilse angefangen zu reiten, und nachdem sie das erste Gefühl von Scheu und Unsicherheit überwunden hatte, fand sie außerordentliches Vergnügen daran. Freilich blieb sie hinter Mauds Künsten weit zurück, aber diese war auch, wie die meisten Engländerinnen, eine geborene Reiterin und von klein auf mit ihrem Pferde vertraut. Sie und Harry ergingen sich gern in allerlei Wagnissen, sprangen über Gräben und Hecken und lachten über die Warnungen und Bitten, die Ilse ihnen angedeihen ließ. »Wenn Archie nach Hause kommt, muß er mich gleich auf die erste Fuchshetze mitnehmen,« pflegte Maud zur Beruhigung ihrer Gefährtin zu sagen; »dabei gilt es noch ganz andere Hindernisse zu nehmen.« Wenn sie auf ihrem Pony dahinsauste, in sicherer Haltung, mit geröteten Wangen, in knapp anliegendem Reitkleide und dem kleinen Hütchen, unter dem die rötlichen Locken lustig im Winde wehten, dann bot die junge Engländerin einen so hübschen und anmutigen Anblick dar wie niemals im Zimmer, wo sie sich mit ihren langen Gliedern nicht recht einzurichten wußte.

Eines Tages, als die drei von einem Spazierritt heimkehrten, meldete der Diener Ilsen, es sei eine Dame angekommen, die sie zu sprechen wünsche; sie warte im parlour. »Wer ist es?« fragte sie sehr erstaunt. »Die Dame will ihren Namen nicht nennen, sie wünscht Miß zu überraschen,« erwiderte der Bediente, während der Schatten eines Lächelns unwillkürlich um seinen Mund spielte. Von unheimlicher Ahnung ergriffen, öffnete Ilse die Tür; eine weibliche Gestalt flog auf sie zu, umarmte sie stürmisch und küßte sie auf beide Backen. »Ach Gott, liebe Ilse! wie freue ich mich, Sie wiederzusehen, Sie mein guter Engel – seien Sie mir tausendmal gegrüßt ...«

Mit einiger Mühe machte sich Ilse los und trat ein paar Schritte zurück. »Wie kommen Sie hierher, Fräulein Weller?« fragte sie ganz verwirrt und keineswegs erfreut.

»Teils mit der Eisenbahn und teils zu Fuß,« erwiderte Meta mit ihrem kurzen Lachen; »ich mußte nahe an Ihrem Aufenthaltsorte vorbei und konnte es mir nicht versagen, Sie aufzusuchen. Hoffentlich können Sie mich ein paar Tage beherbergen, denn ich bin obdachlos. Wie hübsch Sie hier wohnen, Sie Glückliche! wie Dornröschen in einem verzauberten Schlößchen, und Sie sehen in Ihrem kleidsamen Reitanzuge auch aus wie eine Prinzessin. Ja, die Schönheit ist ein guter Freibrief, den Mutter Natur ihren Lieblingen mit auf den Weg gibt, aber wer so vom Schicksal begünstigt ist, soll sich auch der Armen und Häßlichen freundlich annehmen.«

»Bitte, sprechen Sie nicht so, Fräulein Weller,« sagte Ilse unwillig. »Ich bin weder eine Schönheit noch eine Prinzessin und verfüge leider durchaus nicht über die Mittel, Gäste aufzunehmen, da ich selbst nur eine abhängige Stellung in diesem Hause einnehme.«

»Lieber Gott, Ilse, Sie werden mir doch nicht so schnöde den Stuhl vor die Tür setzen!« erwiderte Meta mit gewohnter Beharrlichkeit. »Nein nein, heute müssen Sie mir schon eine gute Mahlzeit und ein Plätzchen zum Ausruhen verschaffen, denn ich bin sehr müde, und mein Magen ist ebenso leer wie mein Beutel. Man rühmt ja immer die englische Gastfreundschaft so hoch – hoffentlich wird sie an mir nicht zuschanden werden.«

Ilse hatte sich inzwischen von ihrer unangenehmen Überraschung erholt und eingesehen, daß sie selbst einen unwillkommenen Gast nicht lieblos behandeln dürfe. »Bitte, kommen Sie auf mein Zimmer und ruhen Sie dort aus,« sagte sie in freundlicherem Ton; »ich will die Haushälterin um eine Erfrischung für Sie bitten und sehen, was ich noch sonst für Sie tun kann.«

»Sehen Sie!« sagte Meta triumphierend. »Ich wußte ja, daß Sie eine arme Kollegin nicht im Elend würden sitzen lassen! Ihnen wirft das Schicksal alles Gute mit vollen Händen in den Schoß; für mich hat es nur Rippenstöße und karge Almosen – da muß doch einmal ein Ausgleich eintreten.«

Lady Jane nahm Ilsens zaghafte Bitte, eine Landsmännin für einen oder zwei Tage bei sich behalten zu dürfen, sehr gütig auf. »Machen Sie es Ihrer Freundin auf Ihrem Zimmer bequem,« sagte sie freundlich, »und bringen Sie sie zu den Mahlzeiten herunter; sie soll mir ein lieber Gast sein.« Mit sehr erleichtertem Herzen kehrte Ilse zu Meta zurück und teilte ihr vergnügt die gute Botschaft mit, die jene mit großer Seelenruhe aufnahm. »Aber nun müssen wir daran denken, uns zum Mittagessen fertig zu machen,« sagte Ilse; »wo sind Ihre Sachen, Fräulein Weller?«

»Dies ist alle meine fahrende Habe,« erwiderte die andere lachend, indem sie auf eine mäßige Handtasche zeigte; »es ist nur mein Nachtzeug und ein schwindsüchtiges Geldtäschchen darin. Mit diesem Gewande müssen Sie schon vorlieb nehmen, denn meinen Koffer habe ich nach London geschickt.«

»Unmöglich!« sagte Ilse ganz erschrocken. »Mit diesem Kleide, an dem der Staub und Schmutz der Landstraße klebt, wollen Sie hier, in einem feinen englischen Hause, zu Tisch kommen? Das geht nicht an.«

»So geben Sie mir ein anderes,« erklärte Meta kaltblütig, »aus der Erde stampfen kann ich doch keins.«

»Aber ich habe kein einziges Kleid, das den Damen nicht bekannt wäre, das sie nicht auf den ersten Blick als ein geborgtes erkennen würden!«

»Darüber würde ich mir keine grauen Haare wachsen lassen,« meinte Meta, »aber wenn es Ihr zartes Gemüt beunruhigt, können Sie mir ja gleich eine Schenkungsurkunde darüber ausstellen.«

Ilse bezwang mühsam ihre Empörung und suchte, heimlich murrend, ein hübsches einfaches Kleid heraus, das sie dem unwillkommenen Gaste darbot. »Die Länge wird wohl passen,« sagte sie sehr kühl, »für die Weite muß Arnott Rat schaffen.«

»Gott, wie niedlich!« rief Meta bewundernd, und als die geschickten Hände der Jungfer ihre Haare und ihren Anzug geordnet hatten, betrachtete sie sich wohlgefällig im Spiegel. »Kleider machen Leute,« sagte sie mit vergnügtem Schmunzeln; »wenn ich alle Tage so eine geschickte Sklavin zu meiner Verfügung hätte, könnte ich auch beinahe hübsch aussehen.« Ilse war zufrieden, daß Meta in ihrem Kleide und mit Hilfe einiger kleinen Kunstgriffe wirklich anständig aussah; sie hätte ihr gern noch einige Winke über ihr Benehmen gegeben, wagte es aber doch nicht, da jene viel älter war als sie selbst.

Die vornehme und gemessene Haltung der Lady Jane übte einen dämpfenden Einfluß auf Fräulein Wellers beredte Zunge, und sie zeigte anfangs eine bescheidene Zurückhaltung. Aber wie erschrak Ilse, als man zu Tische ging und sie inne wurde, daß Meta keine englische Sitte beim Essen beobachtete! Sie nahm die Gabel wechselweise in die rechte und linke Hand, legte ihren Zeigefinger bis auf die Klinge des Messers statt nur den Griff damit zu berühren, führte das Messer an die Lippen, als wollte sie sich den Mund aufschneiden, und benutzte es sogar beim Zerlegen des Fisches – lauter Dinge, die Ilse längst vorsichtig zu vermeiden gelernt hatte, weil sie wußte, daß sie auf englische Nerven ebenso wirken, als ob man mit einem scharfen Stift auf der Tafel kratzt. Anfangs hatte sie sich wohl gegen solche Kleinigkeitskrämerei aufgelehnt, heute aber betrachtete sie alle diese Verstöße mit englischen Augen und fühlte sich höchst peinlich dadurch berührt. Als Mr. Wilmot den Damen Wein einschenkte und grüßend sein Glas erhob, dankten die beiden andern nur durch einen freundlichen Blick, Meta aber stieß kräftig mit dem ihren an. »Das ist hier nicht Sitte,« flüsterte Ilse, indem sie die Übeltäterin am Ärmel zupfte. »Aber es ist deutsche Sitte, denke ich, und ich bin doch einmal eine Deutsche,« sagte Meta so laut, daß die Mahnerin brennend rot wurde und ängstlich nach Lady Jane hinsah, auf deren ernstem und ruhigem Gesicht aber nichts zu lesen war.

Es war ein kühler Abend; der Nebel, der den ganzen Tag wie ein Schleier über der Landschaft gelegen, hatte sich in Regen aufgelöst, einzelne Windstöße fuhren rauschend durch die Baumwipfel des Parks – man merkte, daß der Herbst herannahte. Lady Jane hatte ein Feuer im Kamin anzünden lassen, und die kleine Gesellschaft sammelte sich nach Tische um die flackernde Glut. Harry streckte sich auf der Decke aus, warf Tannenzapfen in die Flammen und freute sich, wenn sie laut knatterten und wie feurige Blumen glühten; auch Maud vergaß, daß sie gern schon eine junge Dame sein wollte, und kniete neben ihm nieder; beide beobachteten unter Scherz und Lachen die sprühenden Funken, denen sie, nach altem Kinderglauben, mancherlei Bedeutungen gaben. Lady Jane hatte die Füße auf das Kamingitter gestützt und eine leichte Arbeit vorgenommen, Mr. Wilmot saß mit der Zeitung daneben, aus der er hin und wieder einen Absatz vorlas. Das Ganze bot ein anheimelndes Bild eines englischen Familienkreises dar, und Ilse würde sein Behagen froh genossen haben, wäre sie nicht in fortwährender Unruhe um Meta gewesen, die eben alle Stücke der Einrichtung gründlich untersuchte.

»Gott, was für ein Glück haben Sie gehabt,« sagte sie in nicht sehr leisem Ton; »hier hat ja alles einen fürstlichen Anstrich! Natürlich ist Ihr Gehalt auch fürstlich – was bekommen Sie eigentlich?«

»Bitte, lassen Sie das, Fräulein Weller,« erwiderte Ilse flüsternd, »wir wollen dergleichen auf meiner Stube besprechen. Und seien Sie so gut, nicht fortwährend den Namen Gottes im Munde zu führen, das beleidigt die Ohren der Engländer.«

»Was Sie sagen! Ich denke, es müßte ihrer Frömmigkeit recht wohltun, wenn man vom lieben Gott spricht – aber diese Engländer sind immer wunderlich und unberechenbar. Können Sie mir nicht auch eine solche Stelle verschaffen, Ilse? Wenn ich die Mittel hätte, mich gut anzuziehen ...«

»Wollen wir uns nicht setzen?« fragte Ilse ungeduldig, und beide nahmen in der Nähe des Kamins Platz. Lady Jane richtete an Meta eine Frage über ihren bisherigen Aufenthaltsort und entfesselte damit einen Strom von Klagen über das Haus, in dem sie die letzten zwei Monate verlebt hatte; man habe sie wie einen Dienstboten behandelt und völlig auf das Schulzimmer und die Kinderstube verbannt; sie hätte die Kinder nicht nur unterrichten, sondern auch mit ihnen essen, spazierengehen, kurz sie fortwährend um sich haben sollen. Vergebens suchte Ilse diesen Redestrom zu hemmen, es half kein Winken, Zupfen und Anstoßen; Meta hörte nicht eher auf, bis sie ihr ganzes Herz ausgeschüttet hatte, ohne nur einmal darauf zu achten, daß Lady Janes Miene immer kälter und abweisender wurde.

»Wir wollen etwas Musik machen,« sagte die Dame statt jeder Antwort, »sind Sie musikalisch, Miß Weller?«

»Nein, zu wenig, um mich hören zu lassen,« erwiderte Meta mit ihrem schrillen Auflachen; »es wird in dieser Richtung in England so viel gesündigt, daß ich an dieser Missetat nicht beteiligt sein möchte. Ich spiele nur Tänze.«

»So spielen Sie uns wohl etwas vor, Miß Stein,« sagte Lady Jane, ohne auf diese liebenswürdige Äußerung einzugehen, und Ilse spielte und sang mit wahrer Todesverachtung, um Meta nur nicht wieder zu Worte kommen zu lassen.

»O Gott, wie steif und hochmütig sind diese Engländer!« sagte Meta gähnend, als beide auf Ilsens Zimmer allein waren. »Diese Lady Jane fühlt sich mindestens so hoch über uns, als wäre sie eine Königin und wir ihre Schuhputzer.«

»Da irren Sie gewaltig,« fiel Ilse erregt ein, »Lady Jane ist eine der feinsten, besten und liebenswürdigsten Frauen, die es gibt. Aber wenn Sie darauf studiert hätten, so hätte es Ihnen nicht besser gelingen können, ihr Auge und Ohr in jedem Augenblick zu beleidigen!«

»Ich?« fragte Meta, aufrichtig erstaunt. »Ich denke, ich war so bescheiden wie ein Veilchen, das im Verborgenen blüht; ich habe meinen Mund ja nur aufgetan, wenn ich gefragt wurde.«

»Aber Ihre ganze Art spricht allen englischen Anforderungen Hohn!« fuhr Ilse zornig fort. »Warum bemühen Sie sich nicht, so zu essen und sich so zu benehmen, wie es hier in der guten Gesellschaft Sitte ist?«

»O Ilse, Ilse!« rief Meta mit spöttischem Lachen, »sind Sie auch schon zur Anbetung des großen Götzen Gentility bekehrt? Sie waren doch in der Schule immer ein kleiner Querkopf, der sich ungern unter fremde Herrschaft beugte – und nun so ganz verwandelt? Wozu soll ich vor diesen aufgeblasenen Engländern im Staube kriechen und eine Sklavin ihrer engherzigen Vorurteile und läppischen Regeln sein, während man doch soviel von englischer Freiheit spricht?«

Ilse biß sich auf die Lippen; es war ihr, als höre sie die hochtrabenden Reden widerklingen, die sie selbst im Anfange geführt hatte; doch glaubte sie nicht, daß ihr Gegenüber den Gründen der Miß Robson zugänglich sein würde, und ließ darum den Gegenstand fallen. »Wir wollen zur Ruhe gehen,« sagte sie seufzend, »Sie sind gewiß müde.« Als sie die Tür des Schlafzimmers öffnete, fand sie zu ihrem Schrecken, daß man kein zweites Bett hineingestellt hatte. »Ich begreife nicht ...« stotterte sie sehr verlegen, aber Meta brach in ein schadenfrohes Gelächter aus. »Ich begreife es vollkommen. Sie sollen Ihre Lagerstätte mit Ihrem Gast teilen – das ist auch englische Sitte, scheint Ihnen aber nicht ganz zu behagen. Aber nur getrost, ich werde mich so dünn machen wie ein Bindfaden, um Ihnen so wenig Platz wie möglich zu rauben.« Doch zog es Ilse vor, sich ein Lager aus dem Ruhebett und verschiedenen Stühlen am Kamin zu bereiten und in ihren Plaid zu wickeln; sie hatte schon am Tage genug von Metas Gesellschaft genossen.

Am nächsten Morgen teilte Lady Jane Ilsen mit, daß sie mit Maud einen lange beabsichtigten Besuch in der Nachbarschaft machen und vielleicht zwei Tage fortbleiben würde. Sollte Miß Weller unterdessen nach London zu fahren wünschen, so stünden ihr Wagen und Pferde jeden Augenblick zur Verfügung.

»Wir räumen Ihrer Freundin das Feld, Darling,« flüsterte Maud Ilsen beim Abschied neckend zu; »genießen Sie diesen lieben Gast recht ungestört – ich will nicht neidisch sein.«

»Nennen Sie dieses Mädchen nicht meine Freundin!« erwiderte Ilse ärgerlich. »Ich kenne sie kaum und würde sie ohne weiteres fortschicken, wenn ich nicht Mitleid mit ihr hätte. Sie ist so arm!«

»Ich glaube, Tante Jane fürchtet den Einfluß ihrer kontinentalen Sitten auf mein weiches Gemüt,« fuhr Maud spottend fort, »deshalb bringt sie mich vor der Ansteckung in Sicherheit. Unnütze Sorge! In dieser Form bringt das deutsche Sichgehenlassen keine Gefahr. O Darling, Miß Weller kann keine Lady sein, denn sie hält ihre Nägel und Zähne nicht untadelhaft und ißt mit dem Messer! Shocking, shocking!« –

»Gottlob, die steinerne Königin und die rothaarige Giraffe wären wir los!« sagte Meta, als der Wagen mit den beiden Damen verschwunden war. »Nun wollen wir unserer Freiheit froh werden! Lassen Sie uns zuerst Haus und Hof, Ställe und Garten besehen; ich will alles gründlich kennen lernen.« Und gründlich war in der Tat die Besichtigung, nicht der kleinste Raum entging ihren Späheraugen. Mrs. King durfte einen solchen Einfall in ihr Reich auch nicht fürchten, denn es war in tadelloser Ordnung. Da war die helle, geräumige Küche mit dem spiegelblanken Kupfer- und Zinngerät, daneben die Halle mit dem großen Tisch, wo die Dienerschaft ihre Mahlzeiten einnahm; dann die pantry, wo die beiden Diener ihr Wesen trieben und das sorgfältig geputzte Silberzeug in verschlossenen Truhen aufbewahrten, die scullery, wo ein eignes Scheuermädchen das Geschirr aufwusch, Fleisch und Fische reinigte, der kühle larder, wo man das rohe Fleisch aufbewahrte, die dairy oder Milchkammer, wo alles von Sauberkeit glänzte. Dann ging es über einen reinlichen Hof nach dem Back- und Waschhause mit der Plättstube, die unter der besonderen Oberhoheit der laundry-maid standen; denn der Wirkungskreis englischer Dienstboten ist immer genau begrenzt, und keiner rührt eine Arbeit an, die ihm nicht zukommt. Dann kam die Reihe an die Gewächshäuser mit ihren ausländischen Blumen und Ananastreibereien, an den Hühnerhof mit seinem seltenen Geflügel, die wohlgefüllten Kuh- und Pferdeställe und den Küchengarten mit seinen reichbeladenen Fruchtbäumen und Spalieren, seinen langen, sorgfältig gepflegten Gemüsebeeten.

»Gott, was für ein Überfluß überall!« seufzte Meta. »Könnte nicht ein kleiner Teil davon auf mich abfallen? Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, Ilse, so würde ich den Erben dieses reichen Besitzes heiraten, um dieses Paradies nie wieder zu verlassen.«

»Reden Sie doch nicht solchen Unsinn!« erwiderte Ilse mit unwilligem Achselzucken; »man kann sich doch wahrlich an den Schätzen eines anderen erfreuen, ohne sie für sich selbst zu begehren.«

»Sie haben gut reden,« sagte Meta, »Sie haben noch nie der Not und dem Hunger gegenüber gestanden, noch dazu in einem fremden Lande, wo Sie jeder über die Achsel ansieht, wenn Sie nicht schön gekleidet sind und keine feinen Manieren haben. Wo sollte ich die wohl hernehmen? Im Hause meines Vaters, des ehrsamen Schneidermeisters, konnte ich die Sitten der vornehmen Welt doch nicht lernen. Ich wollte, meine Eltern hätten eine Schneidermamsell oder ein Kindermädchen aus mir gemacht, wie aus meinen Schwestern, aber sie waren so stolz auf ihre kluge Tochter, die immer die besten Zeugnisse nach Hause brachte. Wäre ich nur nie in dieses schreckliche Land gekommen, daheim war es doch besser.«

»Warum kehren Sie denn nicht so schnell wie möglich in die Heimat zurück?«

»Weil ich kein Geld habe, die Überfahrt zu bezahlen und zu Hause etwas Neues anzufangen,« erwiderte Meta mit ihrem gewohnten Lachen, das diesmal aber mehr wie ein Schluchzen klang und Ilse sehr zu Herzen ging. Sie schämte sich ihrer feindseligen Gefühle gegen ein Wesen, das der Hilfe und Teilnahme so sehr bedurfte, und bemühte sich ernstlich, freundlicher gegen sie zu sein.

Meta war nicht gewillt, die Rolle des bescheidenen Veilchens heute noch weiter zu spielen, und kaum war sie Mr. Wilmots ansichtig geworden, als sie ihn sofort in ein lebhaftes Gespräch verwickelte. »Ich begreife gar nicht, worauf die Engländer eigentlich so stolz sind,« begann sie; »sie haben nichts aus sich selbst, sondern verdanken alles anderen Nationen. Die Bevölkerung von England ist ein buntes Gemisch aller Stämme vom Kap Finisterre an bis zu den Lofoten hinauf; seine Sprache setzt sich aus deutschen und französischen Brocken zusammen; das Christentum empfing es aus Italien, die Reformation aus Deutschland, die schönen Künste aus dem Süden, eine Menge Erfindungen aus Frankreich, Belgien und von uns. Ich glaube, wenn die Seefahrer des Festlandes nicht kühn den Kanal durchkreuzt und die Kultur herübergebracht hätten, so wäre das Land noch heute von halbwilden Barbaren bewohnt, und die weiten Torfmoore wären nur von spärlichem Pflanzenwuchs und noch kümmerlicherem Tierleben bedeckt.«

»Was für eine Übertreibung!« warf Ilse unwillig ein.

»Ich kann Miß Weller nicht widersprechen,« meinte Mr. Wilmot mit behaglichem Lächeln, »denn sie hat in vielem recht. Wie alle Inseln, empfing auch die unsrige das Urgesäme der Kultur, ja sogar den größten Teil seiner Tiere und Pflanzen vom Festlande. Aber was hat dieses Land daraus gemacht? Innerhalb seiner scharf gezogenen Grenzen sind alle die verschiedenen Bestandteile zu einem Ganzen zusammen geschmolzen, das die ursprünglichen Keime weit übertrifft! Wir sind unzweifelhaft ein Mischvolk, aber wie sich aus der Vereinigung der verschiedenen Metalle zur Glockenspeise ein Klang entwickelt, der tiefer, stärker und schöner ist als der jedes einzelnen, so ist auch der englische Charakter fester, kraftvoller und abgeschlossener als der der Stammvölker. Auch unsere Sprache, obgleich sie die Mischung nicht verleugnen kann, ist durch unermüdlichen Fleiß und geistige Arbeit zu einer seltenen Vielseitigkeit ausgebildet und hat für Irdisches und Himmlisches, Zartes und Kräftiges, Ernst und Scherz eine solche Fülle des Ausdrucks, daß sie viele Ursprachen in Schatten stellt. Ähnlich ist es mit Tieren und Pflanzen bestellt; wir haben vieles erst künstlich eingebürgert, aber wir haben jedem rohen Keim eine edle Gestalt gegeben und das ganze Land in einen blühenden Garten verwandelt. Dürfen wir auf die hochgespannte Geisteskraft, die tausend Hindernisse überwunden und aus geringen Anfängen Großes geschaffen hat, nicht stolzer sein, Miß Weller, als wenn uns die Natur alle ihre Gaben blindlings in den Schoß geworfen hätte?«

Beide Mädchen hatten aufmerksam zugehört, und sogar Meta wußte nicht gleich etwas zu erwidern. »Sie sind ein sehr geschickter Anwalt Ihres Volkes,« sagte sie nach einigem Nachdenken, »aber Sie können doch nicht leugnen, daß bei dem Zusammenschmelzen auch manches Zarte und Gute in Dampf aufgegangen ist. Manche schöne deutsche Eigenschaft wie Gemüt und Phantasie, manche französischen Vorzüge wie die leichte Beweglichkeit und Anmut sind in das englische Wesen nicht übergegangen; dagegen hat es so viele scharfe Ecken und Kanten angesetzt, daß sich der Fremde bei jedem Schritt sehr unsanft dadurch berührt fühlt.«

»Zugegeben!« erwiderte Mr. Wilmot. »Aber alles Kernige, Feste, Zuverlässige hat die Feuerprobe bestanden und ist dann noch sorgfältig geschliffen worden. Die deutsche Treue und Gastfreundschaft, die Freiheitsliebe und den Stolz auf edle Geburt, die schon Cäsar an den alten Germanen rühmt, finden Sie in England in gesteigertem Maße wieder; die deutsche Treuherzigkeit und Gemütlichkeit haben wir so lange geglättet, bis das untadlige Benehmen des echten Gentleman daraus wurde; auf den etwas breiten und stumpfen Schaft der deutschen Rede haben wir die scharfe Lanzenspitze englischer Kürze und englischen Witzes geschroben – kurz, Sie werden auf jedem Gebiet die nimmer müde Tatkraft finden, die das Gebotene im höchsten Grade auszunutzen verstand und uns zu den Herren der Welt gemacht hat.«

Meta fühlte sich arg in die Enge getrieben, aber sie wollte sich noch nicht für besiegt erklären. »Es ist wunderbar,« sagte sie mit einem neuen, kampfesmutigen Anlauf, »daß bei soviel geistiger Tätigkeit Ihre Schulen nicht besser sind; doch muß ich gestehen, daß mich die Mängel des weiblichen Unterrichts in Erstaunen setzten.«

»Ja, hier muß noch viel gebessert werden,« meinte Mr. Wilmot ruhig. »Ich glaube, daß eine sechzehnjährige Deutsche der besseren Stände im Durchschnitt gebildeter ist als eine Engländerin in demselben Alter. Aber wenn Sie zehn Jahre später bei beiden nachfragen, was aus der Bildung geworden ist, so werden Sie finden, daß die deutsche Frau in den meisten Fällen viel vergessen, daß ihr Gesichtskreis sich verengt hat, während die englische bedeutend fortgeschritten ist. Denn bei unsern Frauen hört das Lernen, Lesen und Fortbilden mit der Verheiratung nicht auf, im Gegenteil, es wird ernstlicher und bewußter betrieben; auch haben sie mehr Anregung und Muße dazu, da nicht so viel schwere Arbeit von ihnen verlangt wird wie in Deutschland.«

»Ja, das ist wahr,« gab Meta seufzend zu, »Ihre Frauen führen ein beneidenswertes Leben! Sie brauchen sich nicht mit dem Haushalt zu placken, nicht selbst in der Küche zu stehen und Tag und Nacht ihre Kinder zu versorgen! Sie dürfen nur das Heer ihrer Dienerschaft anstellen, wie der Feldherr seine Truppen ins Feuer schickt, und alle Arbeit des Hauses wird ohne ihr Zutun vollbracht!«

»Ich lobe mir doch unsere deutschen Hausfrauen und ihr stilles Walten!« sagte Ilse mit Wärme. »Ich möchte nicht, daß einmal eine Zeit käme, in der es nicht mehr von ihnen hieße:

Sie lehret die Mädchen
Und wehret den Knaben
Und reget ohn' Ende
Die fleißigen Hände
Und füget zum Guten den Glanz und den Schimmer
Und ruhet nimmer.«

(Schiller.)

Unter solchen Gesprächen war der Abend vergangen; Meta erklärte beim Schlafengehen, dies wäre ein hübscher Tag gewesen, und sie wünsche sich noch viele solche – ein Wunsch, den Ilse nicht ohne Rückhalt unterschreiben konnte. Doch fühlte sie sich heute mit ihrem Gaste etwas ausgesöhnt, denn Meta war offenbar weder dumm noch ungebildet, und ihre zahlreichen Taktlosigkeiten waren wohl zum größten Teil auf ihre engen und trübseligen Verhältnisse zu schieben.

Der nächste Tag war ein Sonntag; nach mehreren Regentagen schien endlich wieder die Sonne, und es war sommerlich warm. »Heute können wir einmal eine Partie Krocket mit Harry spielen,« sagte Meta, als sie am Vormittag aus der Kirche kamen, »hoffentlich ist Mr. Wilmot auch dabei.«

»Nein, das geht nicht,« erwiderte Ilse schnell, »es ist hier nicht erlaubt, am Sonntag solche Spiele zu treiben.«

»So reiten Sie und Harry mir etwas vor; ich möchte Sie gern zu Pferde sehen.«

»Unmöglich! Am Sonntag wird nicht geritten; der Reitknecht muß auch seine Sonntagsruhe haben.«

»Was fangen wir dann aber an?« fragte Meta seufzend. »Ist nur die tödlichste Langeweile erlaubt?«

»Ich gehe nachher in die Sonntagsschule und habe Maud versprochen, einige alte Frauen zu besuchen; wollen Sie mich begleiten?«

»Danke bestens, liebe Ilse; diese gottseligen Werke überlasse ich Ihnen allein – ich habe kein Talent dafür. Geben Sie mir wenigstens irgendein spannendes Buch; ich will mir ein stilles Plätzchen im Park suchen und die Zeit mit Lesen totschlagen.«

Als sich Ilse dazu rüstete, in den Nachmittagsgottesdienst zu gehen, erklärte Meta, sie habe schon an einem Male genug; schlafen könne sie zu Hause besser. Bei ihrer Rückkehr hörte Ilse aus einiger Entfernung die Töne des Klaviers, die in munterem Walzertakt durch die Sonntagsstille des Parkes schallten. Bestürzt eilte sie dem Hause zu und fand in der Halle die Dienstboten, die nicht in der Kirche gewesen waren, in offenbarer Aufregung zusammenstehen. »O Miß Stein,« riefen sie ihr entgegen, »die fremde Dame entweiht den Sabbat durch Tanzmusik! Es ist eine Sünde, die noch nie in diesem Hause begangen ist – wenn das Mylady hörte!«

Hastig trat Ilse ins Zimmer und riß mit Ungestüm Metas Hände von den Tasten fort. »Wie können Sie den Leuten solch ein Ärgernis bereiten, Fräulein Weller?« rief sie zornsprühend, »wie können Sie als Gast alle Gesetze des Hauses so mit Füßen treten? Ich muß Sie dringend bitten ...«

»Gott – was ist denn los?« fragte Meta ganz unschuldig; »Sie sind ja wie eine Dynamitpatrone, die eben zerplatzen will. Himmel, schütze mich vor dem verderblichen Krach!« rief sie lachend, indem sie aufsprang und sich hinter dem Stuhl versteckte.

»Sie sollten die Sache lieber ernsthaft nehmen,« sagte Ilse, indem sie sich bemühte, ihren Ärger zu bemeistern; »wenn man die Gastfreundschaft eines Hauses genießen will, muß man sich angemessen betragen.«

»O dieses Verbrechen, einen harmlosen Walzer zu spielen,« erwiderte Meta spottend. »Haben Sie es zu Hause etwa nie getan? auch nie am Sonntag ein munteres Tänzchen gemacht? Ich kann nicht einsehen, daß etwas, was jenseits des Kanals ein ganz erlaubtes Vergnügen ist, diesseits eine himmelschreiende Sünde sein soll. Aber Sie sind so mit Leib und Seele ins englische Lager übergegangen, schöne Ilse, daß Sie nicht mehr den kleinsten Widerspruch vertragen können, deshalb rate ich Ihnen noch einmal: heiraten Sie, je eher je lieber, einen Stockengländer, denn für Deutschland sind Sie verdorben!«

Ilse verließ im höchsten Unwillen das Zimmer – und schob in ihrem eigenen den Riegel vor; sie brauchte eine ganze Weile, sich zu beruhigen und sich zu sagen, daß solch bitterer Groll, wie sie ihn fühlte, auch keine passende Sonntagsstimmung sei. Als die Ankleideglocke ertönte, kam Meta herauf, unbefangen, als ob nichts vorgefallen sei. »Wird in diesem frommen Hause wirklich zu Mittag gegessen?« fragte sie. »Ich dachte schon, wir würden heute alle fasten.«

Bei Tische eröffnete sie sofort wieder den Kampf mit Mr. Wilmot. »Es gab einmal eine Zeit,« sagte sie, »wo man dies Land the merry old England nannte; davon ist doch nichts mehr zu spüren. Alle die heiteren Gebräuche, von denen man in alten Büchern liest, scheinen mir jetzt vor dem düstern Ernst einer puritanischen Frömmigkeit die Flucht ergriffen zu haben.«

»Sie haben recht, Miß Weller,« erwiderte Mr. Wilmot; »seit den Zeiten, wo die Puritaner zur Herrschaft kamen, hat sich sehr viel bei uns geändert – und vieles zum Besseren.«

»Wirklich? rechnen Sie die englische Sonntagsfeier auch zu den Verbesserungen?«

»Ganz gewiß! Gott erhalte unserem Lande diese gute und heilsame Sitte, die auf das ganze Volksleben unendlich wohltätig einwirkt. Man sagt, das jüdische Volk verdanke seine unzerstörbare Dauer seiner Sabbatfeier und seinem Familienleben, und ich hoffe, daß von dem unsrigen für alle Zeiten das Gleiche gelten möge.«

»Aber Sie müssen doch zugeben, daß unendlich viel Übertreibung darin liegt, und daß man auch gottesfürchtig sein kann, ohne jede harmlose Erholung, jeden Gedanken, der nicht geistlich ist, für Todsünde zu erklären.«

»Der Einzelne, besonders der Gebildete, könnte es wohl, aber die große Masse nicht, denn die braucht einen straffen Zügel. Soll ein großer, erhabener Gedanke in das Bewußtsein eines ganzen Volkes übergehen, in seinem Leben Gestalt gewinnen, so muß er kräftig betont und scharf begrenzt werden, und dabei wird eine gewisse Übertreibung unvermeidlich sein. Aber sagen Sie selbst, ob es nicht tausendmal besser ist, wenn der englische Hausvater mit Weib und Kind regelmäßig in die Kirche geht, als wenn er seine Erholung in der Schenke sucht und mit wüstem Kopf und leerem Beutel heimkehrt?«

»Aber die armen Kinder!« entgegnete Meta, »sie müssen einen doch jammern! Zweimal am Sonntag werden sie in die Kirche geschleppt, wo sie nichts verstehen, sondern nur umhergucken oder schlafen, und den übrigen Teil des Tages sind sie zur sträflichsten Langeweile verdammt, da sie nicht einmal spielen dürfen. Kennen Sie die kleine Geschichte von dem sterbenden Kinde, das von seiner Mutter auf den Himmel vertröstet wurde und ganz ängstlich fragte: ›Aber darf ich nicht manchmal in die Hölle gehen und da ein bißchen spielen?‹ Das arme Ding dachte sich den Himmel wie einen immerwährenden englischen Sonntag und schrak davor zurück.«

»Es mag geistlose Eltern geben, die es nicht verstehen, ihren Kindern den Sonntag lieb zu machen,« erwiderte Mr. Wilmot unbeirrt, »aber allgemein ist solche Anschauung bei Kindern nicht. Sie wachsen von klein auf in die gute Gewohnheit hinein und möchten später nicht davon lassen. Unter allen Erinnerungen an meine glückliche Kindheit ist mir die an die Sonntage im Vaterhause die schönste und liebste. In der Woche sahen wir wenig von meinem Vater, der frühmorgens nach der Stadt in sein Geschäft fuhr und abends müde und abgespannt zurückkehrte; dann durften wir Kleinen ihn eben nur begrüßen und wurden bald zu Bett geschickt. Aber welche Freude, wenn der Sonntag kam, und er uns Kindern ganz und gar gehörte! Dann frühstückten wir mit ihm zusammen und gingen an seiner Hand in die Kirche; da hatte er Muße, die Geschichte unserer Leiden und Freuden anzuhören, jede Frage zu beantworten und uns tausend Dinge zu erklären. Dann kam das frühe fröhliche Mittagessen, nachher ein friedlicher Familienspaziergang oder im Winter ein gutes Buch, das er mit uns las – eine Kette süßer Freuden. Und hätten Sie längere Zeit in dem tobenden Wirbelwind des Londoner Lebens zugebracht, Miß Weller, so würden Sie es empfunden haben, was für ein Segen in diesem völligen Ausruhen für Leib und Seele liegt, in diesem Verstummen alles geschäftlichen Lärms, in dieser friedlichen Stille, worin der gehetzte Kaufmann, der angestrengte Notar, der rastlos arbeitende Handwerker einmal feiern und zu sich selbst kommen kann.«

Meta antwortete nicht, sie war still und nachdenklich geworden. Als Harry hereinkam, um den Pudding mitzuessen – denn nach englischer Sitte durfte er an dem späten Mittagessen im übrigen noch nicht teilnehmen –, ließ sie allen Streit ruhen und ging mit ungewöhnlicher Sanftmut auf das Gespräch der andern ein. Auch als Ilse nachher einige geistliche Lieder sang, erhob sie keinen Widerspruch und störte in keiner Weise die sonntäglich ernste Unterhaltung, die Harrys Verständnis angemessen, aber keineswegs langweilig war. »Wenn ich noch lange mit Mr. Wilmot zusammenbliebe,« meinte sie, »so könnte er mich beinahe zu seinen Ansichten bekehren; er hat eine wunderbar überzeugende Art, obgleich er ein eingefleischter Engländer ist.« Diese Äußerung erfreute Ilse und beschämte sie zugleich, denn sie war sich schmerzlich bewußt, daß ihre eigene Art, Meta zu bekämpfen, weniger eindrucksvoll gewesen wäre. Dennoch quälte sie der Gedanke, wie sie ihren Gast zu baldiger Abreise bewegen sollte, ohne geradezu unhöflich zu sein; sie zitterte davor, daß Lady Jane zurückkehren und Fräulein Weller noch vorfinden könne.

»Was haben Sie nur heute, Ilse?« fragte Meta am nächsten Morgen, als die andere eine auffallende Unruhe zeigte und bald aus diesem, bald aus jenem Fenster sah, in der stillen Angst, daß der Wagen schon käme.

»Ich erwarte den Reitknecht mit den Postsachen,« erwiderte Ilse errötend, »vielleicht bringt er mir einen Brief aus der Heimat.« Aber die ersehnte Ledertasche enthielt keinen Brief an Fräulein Stein, sondern ganz unerwartet einen an Fräulein Weller, den Meta sehr mißtrauisch betrachtete und erst nach langem Zaudern erbrach. »Gutes wird er doch nicht enthalten,« meinte sie achselzuckend. Ilse vertiefte sich in die Zeitung, sah aber plötzlich ganz erschrocken auf, als ein Ton wie unterdrücktes Schluchzen ihr Ohr traf. Meta war in ihren Stuhl zurückgesunken und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt. »Um Gottes willen – was ist geschehen?« rief ihre Gefährtin angstvoll, »haben Sie eine Unglücksbotschaft erhalten?«

»O Ilse, Ilse,« stammelte die andere, »ich bin's nicht wert – der liebe Gott hat doch an mich gedacht – und ich bildete mir ein, Er fragte gar nicht nach mir und ließe mich ganz allein durch die Wüste wandern! Ilse, denken Sie nur, dies ist eine Anfrage, ob ich eine Stelle als Volksschullehrerin in der Nähe von Danzig übernehmen wolle – mit einem auskömmlichen Gehalt und einer Dienstwohnung – da kann ich meine Mutter zu mir nehmen – mein armes Mütterchen, das sich zeitlebens so geplagt hat, um uns alle mit Ehren durchzubringen – nun soll sie nichts weiter tun, als unseren kleinen Haushalt führen – und ich will sie so hoch halten und sie auf Händen tragen – o mein Gott, wie glücklich bin ich!«

Ilse war voller Teilnahme; zwar schien es ihr im ersten Augenblick, als wäre dies nur ein bescheidenes Los für ein Mädchen von Metas Kenntnissen, aber jener schien es völlig zu genügen, und für diese Stellung konnte sie freilich die Manieren der vornehmen Welt entbehren. Aber auf einmal umwölkte sich Metas strahlende Miene: »O mein Gott, ich vergaß,« seufzte sie tief, »woher soll ich das Reisegeld nehmen? Ich habe nur wenig Schillinge in meinem Besitz.«

»So müssen Sie es sich leihen,« tröstete Ilse, »irgendein guter Freund wird sich schon finden –«

»Ach Ilse, wenn man häßlich und unliebenswürdig ist, hat man wenig Freunde,« versetzte Meta traurig; »ich habe es nie verstanden, mir welche zu erwerben.«

In diesem Augenblick hörte man einen Wagen rollen; Ilse eilte in die Halle hinaus und konnte gleich darauf die beiden Damen begrüßen. »Finden wir Ihre anziehende Freundin noch vor, Darling?« fragte Maud schelmisch.

»Sie ist im Aufbruch begriffen, Miß Naseweis,« gab Ilse lächelnd zurück, »mäßigen Sie Ihren Schmerz – die Trennung ist unvermeidlich!« Dann bat sie um eine Unterredung mit Lady Jane, teilte ihr Metas Verhältnisse und ihre Verlegenheit mit und ersuchte sie, ihr so viel von ihrem Gehalt vorzustrecken, daß sie jener das Reisegeld leihen könne. Ohne ein Wort zu sagen, holte die Dame eine bedeutend größere Summe aus ihrem Schreibtisch und händigte sie Ilsen ein. »Geben Sie Miß Weller das Geld, als ob es von Ihnen käme, Miß Stein,« sagte sie ganz geschäftsmäßig, »und sagen Sie ihr, sie dürfe sich mit der Rückzahlung nicht beeilen; Sie hätten Zeit, sie abzuwarten.«

Tief gerührt küßte Ilse die gütigen Hände und brachte voller Freude Meta das Geld. Der traten helle Tränen in die Augen, und sie sagte bewegt: »O Gott, wie das wohl tut, wenn ein bißchen Glück und Sonnenschein ins Herz hineinfällt! Ach, nun will ich ganz, ganz anders werden, bescheidener, besser, freundlicher gegen alle Menschen. Sie ahnen es nicht, Ilse, wie unglücklich ich war, mir selbst zur Last, aber jetzt soll ein neues Leben anfangen. Ich habe doch manches in England gelernt, und so Gott will, sollen die Erfahrungen an mir nicht verloren sein!«


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