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Fünftes Kapitel.
In den Bergen


Zu derselben Zeit stand fern von Ivy-Lodge, auf der anderen Seite des Meeres, das England und Norwegen trennt, Frida am Fenster ihres Stübchens und schaute mit gefalteten Händen hinaus in die ernste abendliche Schönheit des Hardanger Fjords. Droben auf den schneeigen Firnen des Folgefonn lag noch der letzte Nachklang der Abendglut; über die ganze Landschaft war eine träumerische Dämmerung ausgebreitet, die nach wenig Stunden schon vom ersten Morgenschein abgelöst werden sollte. »Ist es nicht Untreue gegen die traute Heimat und meine fernen Lieben, daß ich mich hier so wohl und glücklich fühle?« flüsterte das Mädchen vor sich hin. »Ich dachte, ich würde vor Heimweh vergehen – und die Fremde ist mir in kurzem so lieb geworden, als hätte ich sie immer gekannt! Vergebt mir, ihr teuern Eltern, und du, meine geliebte Ilse! Die zärtliche Liebe und Sehnsucht wird dadurch nicht berührt; Du aber habe Dank, lieber himmlischer Vater, daß Du Dein schwaches, hilfloses Kind so liebliche Wege führst!«

Ja, es war schön in Norwegen, die Natur so großartig, und die Menschen so gut, so gottesfürchtig und rechtschaffen, daß Frida manchmal meinte, im Paradiese könnte es nicht viel besser gewesen sein. Jedermann hatte sie lieb, Onkel Nils und Sigrid, Mutter Brita und ihre Söhne, die alte Signe und der Propst Fahlström – alle bewiesen ihr jede erdenkliche Freundlichkeit; am schönsten aber war es doch, wenn sie in Ulvik einkehrte, wo Ingeborg sie wie eine alte Freundin empfing, und deren Mutter, die immer noch schöne Frau Lundholm, sie in ihrer einfachen Würde so zärtlich begrüßte, als wäre sie ihr eigenes Kind. »Was finden sie nur an mir?«, dachte sie manchmal in aufrichtiger Bescheidenheit. »Ich habe doch gar nichts Glänzendes und Bestechendes an mir und bin mein Lebtag ein unbedeutendes kleines Ding gewesen. Ja, wenn es Ilse wäre!« Sie weinte bittere Tränen, als sie deren Brief erhielt; wie war es möglich, daß man in England ihre Ilse nicht zu schätzen wußte, daß man diese bildhübsche, kluge und liebenswürdige Schwester nicht auf Händen trug? In Fridas sanftem Herzen stieg eine große Bitterkeit gegen das gesamte Volk von England auf, das eines so ausgezeichneten Gastes offenbar gar nicht wert war.

Eine herzliche Freundschaft verband Frida mit Arved Lundholm, zu dem sie ein ganz besonderes Zutrauen gefaßt hatte. Das Bewußtsein, daß er so gut wie verlobt wäre, gab ihr ihm gegenüber von Anfang an eine heitere Unbefangenheit, die ihr sonst gegen fremde Herren gar nicht eigen war; sie betrachtete ihn wie einen älteren Bruder und ließ sich allerlei kleine Ritterdienste gern von ihm gefallen. Er hatte ihr angeboten, sie im Norwegischen zu unterrichten, und sie hatte mit Freuden zugestimmt; unterstützt von einem guten Sprachtalent, betrieb sie dieses Studium mit wahrem Feuereifer und setzte ihren Lehrmeister durch ihre schnellen Fortschritte in Erstaunen. Sie machte sich auch kein Gewissen daraus, ihn dadurch zu sehr häufigen Besuchen in Krokengaard zu veranlassen; wußte sie doch, daß er immer gern käme, um Sigrid zu sehen. Diese war freilich viel zu stolz und gemessen in ihrem Benehmen, als daß sie eine besondere Freude darüber verraten hätte; sie behandelte ihren künftigen Bräutigam nicht um ein Haar anders als ihre älteren Freunde, den Propst Fahlström oder den Bezirksarzt Doktor Magnus Alsen, der sich scherzweise ihren treuen Verehrer nannte, obgleich er nicht viel jünger war als ihr Großvater.

»Was fehlt dir, Onkel Nils?« fragte Frida eines Tages besorgt, als der alte Herr ungewöhnlich still erschien.

»Nichts, kleine Törin; bilde dir keine Dummheiten ein.« Aber trotz der unwirschen Abweisung konnte es Herr Holmböe doch nicht lange verhehlen, daß er sich ernstlich unwohl fühle, und da er gar nicht daran gewöhnt war, so ließ er sich sehr dadurch verstimmen. Er hatte sich vorgenommen, am folgenden Tage auf die Säter zu steigen, aber trotz heftigen Widerstrebens mußte er einsehen, daß ihm in diesem Augenblick der klare Kopf und der feste Tritt, die dazu gehören, nicht zu Gebote ständen. Länger aufschieben ließ sich der Gang auch nicht, denn er hielt ihn für eine Pflicht gegen die beiden Mädchen, die oben in der Bergeinsamkeit ihres schweren Amtes walteten; deshalb beschloß er, Sigrid an seiner Stelle zu schicken. Frida wäre gern bei ihm zurückgeblieben, aber er lachte sie aus: »Bin, gottlob, noch nicht so hilflos, daß ich deiner Pflege bedürfte, Kleine,« meinte er, »kannst in Gottes Namen mitgehen und dir das Leben da oben ansehen. Lars begleitet euch, hat also keine Gefahr. Werde mich mit der alten Signe ganz gut einrichten; wette, wenn ihr herunterkommt, ist der alte Bär wieder wohlauf.«

»Es ist doch ein guter alter Bär, wenn er auch einmal tüchtig brummt,« sagte Frida, indem sie sich an seinen Arm hängte und mit seiner Hand spielte.

»Schmeichelkatze!« erwiderte der alte Herr, aber er war nicht böse, denn er fuhr liebkosend über ihre Wange und drückte die zierliche Gestalt einen Augenblick fest an sich. »Nun geh und richte dich verständig für die Wanderung ein; kannst mit einem Schleppkleide und feinen Frisuren dran natürlich nicht über die Berge auf die Säter steigen.«

Früh am andern Morgen brachen die beiden Mädchen auf; Sigrid hatte sich wieder in die ländliche Tracht gekleidet, die sie aus ihrer dalekarlischen Heimat mitgebracht hatte, und auch Frida bewogen, einen kurzen Rock und derbe Nägelschuhe anzulegen. Ein großer grober Strohhut und ein tüchtiger Bergstock vervollständigten die Ausrüstung. Lars hatte eins der kleinen kräftigen Bergpferde mit mancherlei Vorräten beladen, mit Lebensmitteln und Sachen für die Säterinnen; er sollte Butter und Käse von oben mitbringen, denn man hatte nur eine einzige Kuh unten behalten, um den Haushalt mit frischer Milch zu versehen. Milch ist im Sommer in dieser Gegend ein seltener Luxus, den sich nur die Reicheren erlauben; auf den Bauerhöfen ist monatelang keine zu finden, da man alles Vieh auf die Säter schickt und sich mit der saueren Milch begnügt, die in Tonnen von oben herabgebracht wird, dem aber, der daran nicht gewöhnt ist, wenig schmackhaft erscheint.

Die Luft war kühl und frisch, und der Beginn der Wanderung entzückend schön; Frida, die sich inzwischen schon im Steigen geübt hatte, war voll guten Mutes und in heiterster Stimmung. »Wie hoch die Sonne schon steht!« sagte sie, »und es ist doch kaum vier Uhr. Bei uns ist sie eben erst aufgegangen, aber hier im Norden gönnt sie sich wenig Rast. Es muß sehr seltsam sein, wenn sie gar nicht vom Himmel verschwindet. Hast du die nächtliche Sonne schon gesehen, Sigrid?«

»Einmal sah ich sie,« erwiderte ihre Gefährtin. »Ich begleitete meinen Vater auf einer Reise nach Haparanda; dort stiegen wir auf einen Berg und sahen sie ein wenig über dem Horizonte stehen; unsere Uhr zeigte gerade Mitternacht. Es war ein wunderbarer Anblick, den ich nie vergessen werde – war es doch die letzte Reise meines geliebten Vaters.«

»Arme Sigrid!« sagte Frida leise. »Wie schwer muß es sein, Vater und Mutter so früh zu verlieren!«

»Es ist schwer,« entgegnete die andere mit tiefem Ernst. »Hätte ich meinen Bruder nicht, ich wüßte nicht, wie ich es ertrüge.«

»Aber warum hat er dich verlassen und ist so weit fortgegangen? Das hätte er nicht tun sollen.«

»Er ist ein begeisterter Jünger der Wissenschaft, ihn zog der Forschertrieb unwiderstehlich nach fernen Ländern. Sollte ich seinem hohen Streben hinderlich sein? Das wäre nicht die rechte Liebe gewesen. So ließ ich ihn ziehen, ohne ihm zu sagen, wie schwer es mir wurde; er weiß mich beim Großvater gut versorgt, und wenn er heimkehrt, wird es doppelt schön sein. Ich denke bei Tag und Nacht daran.«

Frida warf einen überraschten Blick auf die hohe, königliche Gestalt mit den schönen, ruhigen Zügen, die sie oft an eine Statue erinnerten. Schlummerte hinter dieser marmorweißen Stirn ein lebhaftes Gefühl? gab es auch in dieser Brust Kämpfe und einen Zwiespalt der Empfindungen? Sigrid war ihr bisher erschienen wie ein stiller Bergsee, dessen glatten Spiegel keine Welle kräuselt, aber vielleicht barg die Tiefe eine Bewegung, die nur selten die Oberfläche berührte.

Der Weg führte durch dichten Wald immer höher bergan; weder Lars noch Sigrid schienen eine Schwierigkeit zu empfinden, und Frida strengte alle ihre Kräfte an, um nicht zurückzubleiben. Endlich lichtete sich der Wald, ein grüner Wiesenfleck, auf dem eine Fülle reizender Blumen blühte, lud zur Ruhe ein; man lagerte sich, aß von den mitgenommenen Vorräten und ließ den Pony frei umherlaufen und nach Belieben grasen. Sie waren schon so hoch gestiegen, daß der Fjord nur wie ein schmales, glänzendes Band, die kleinen Häuser und Höfe an den Abhängen wie zierlich geschnitztes Spielzeug erschienen, während seitwärts eine kahle Felswand zu bedeutender Höhe emporstieg. »Da müssen wir hinauf,« sagte Lars.

»Unmöglich!« rief Frida ungläubig. »Da ist ja nicht Weg, nicht Steg zu erkennen, und das Ding sieht so glatt aus wie eine Mauer.«

»O, sieh nur genau hin, Jomfru,« lachte Lars; »es läuft ja ein ganz bequemer Pfad daran hinauf, den die Säterinnen oft mit schwerer Last auf dem Kopfe heruntersteigen; mein Pferdchen geht da so sicher wie in der Ebene. Du kannst auch reiten, wenn dir das Gehen zu beschwerlich ist.«

»Ich danke!« erwiderte sie schaudernd – diesen schwindelnden Weg, den sie nur mit Mühe entdecken konnte, auf dem Rücken eines Pferdes zurückzulegen, erschien ihr noch beängstigender, als auf eigenen Füßen zu klettern.

»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht,« tröstete Sigrid; sie ließ das Pferd als sicheren Pfadfinder vorangehen und nahm Frida zwischen sich und Lars in die Mitte. Die arme Kleine raffte allen ihren Mut zusammen, aber sie hatte nicht allzuviel davon; oft schlug ihr das Herz in tödlichem Schrecken, wenn bei einer scharfen Wendung ihr Blick seitwärts hinabirrte in die grausige Tiefe. Ein Augenblick des Schwindels, ein Fehltritt – wer konnte sie dann vor dem entsetzlichsten Sturz behüten? Sie bohrte ihre Augen fest in die Steine zu ihren Füßen und befahl sich im stillen in Gottes Hände; das gab ihr die Ruhe und Fassung zurück, deren man hier so nötig bedurfte.

Endlich war die Höhe erklommen; vor den Wanderern breitete sich eine weite, zerklüftete Hochebene aus, die teils mit niedrigem Birkengestrüpp, teils mit dichtem Moos bewachsen war; rieselnde Bäche liefen mit leisem Gemurmel zu Tal oder sammelten sich hie und da zu kleinen Wasserbecken an, die halb von reichem Pflanzenwuchs verdeckt waren. Hier stellte sich Lars an die Spitze des kleinen Zuges, denn nur ein Auge, das mit der Örtlichkeit ganz vertraut war, konnte diese Sümpfe vermeiden, die den Wanderer in Gefahr brachten, plötzlich bis an die Knie im schwärzlichen Wasser zu versinken. Die Sonne brannte wie glühendes Feuer, und Fridas Atem ging keuchend aus und ein; sie fühlte einen brennenden Durst und schleppte sich mühsam weiter. Lars, der sich im Fortschreiten häufig gebückt hatte, wandte sich zu ihr um. »Mut, Jomfru, Mut!« sagte er heiter und reichte ihr ein Sträußchen. »Da, nimm diese Moltebeeren, sie werden dich stärken.« Wirklich erwiesen sich die Früchte mit ihrer erfrischenden Säure als sehr erquicklich, und etwas gekräftigt setzte sie den beschwerlichen Weg fort, bis nach einer weiteren Stunde die Sennhütten vor ihnen auftauchten.

.

In den Bergen.

Es waren zwei Häuschen aus unbehauenen Steinen; ihre Rückseite lehnte sich an die Felsen, die hier wieder im Halbkreis zu den Wolken emporragten. Die Dächer waren mit Balken gedeckt und mit einer starken Schicht Erde beworfen, auf der das Gras üppig grünte; eine roh gezimmerte Tür verschloß den Eingang, und ein einziges, ziemlich hoch angebrachtes Fensterchen ließ das Licht hinein. Ringsumher herrschte die tiefste Einsamkeit; aus weiter Ferne drang zuweilen ein leiser Klang herüber, der von den Glocken der Leitkühe ausging; ein leichtes Rauchwölkchen, das über dem Schornstein des größeren Hauses schwebte, war das einzige Zeichen, daß Menschen in der Nähe sein mußten. Lars erhob seine Stimme zu einem jauchzenden Zuruf; alsbald tat sich die Tür auf, eine weibliche Gestalt erschien auf der Schwelle, spähte, mit der Hand über den Augen, hinaus und verschwand schnell wieder im Inneren. Als sich aber die Ankommenden näherten, kamen die beiden Säterinnen ihnen entgegen; sie hatten in aller Eile ihren Sonntagsstaat angelegt, dunkelblaue Röcke mit vorn offenen Leibchen, die einen mit Gold gestickten Brustlatz sehen ließen. Froh hießen sie die lieben Gäste willkommen. »Wie müde du aussiehst, Jomfru Frida!« sagte Karin mitleidig, »komm herein und ruhe dich aus, während wir euch das Frühstück bereiten.«

Sie führte das erschöpfte Mädchen in die Hütte, zog ihr die schweren Schuhe aus und machte es ihr so bequem wie möglich. Nun wurde schnell ein Mahl bereitet; eine Kiste wurde mit einem weißen Tuch bedeckt, um als Eßtisch zu dienen, Speckschnitte und Kartoffeln wurden gebraten, Kaffee gekocht, Butter, Käse und Fladbröd herbeigeholt, dazu ein großer Eimer voll süßer Milch, die mit einer mächtigen Schicht fetter Sahne bedeckt war. Während dieser Zurüstungen sah sich Frida in dem Raume um, in dem die höchste Ordnung und Sauberkeit herrschte, obgleich er zu sehr verschiedenen Zwecken dienen mußte. In einer Ecke war ein großer Herd errichtet, über dem ein blanker kupferner Kessel hing, während auf dem Gesims die nötigsten Küchengeräte aufgestellt waren; an den Wänden waren Gestelle angebracht, auf denen ganze Reihen gefüllter Milchgefäße standen. Die Mitte des Fußbodens nahm die einfache Lagerstätte ein, Holzstücke hielten das Heu zusammen, über dem weiße Schaffelle und selbstgesponnene wollene Decken ausgebreitet waren; im Hintergrunde hingen einige Kleidungsstücke über aufgespannten Stricken, und darunter war ein Haufen Wacholder- und Birkenreiser aufgeschichtet, die in dieser baumlosen Höhe sorgfältig gesammelt und mühsam herangeschleppt werden müssen, um das Feuer zu nähren. Als höchster Schmuck prangte unter dem Fenster ein kleiner Spiegel, und auf einem Vorsprung der unregelmäßigen Mauer lagen eine Bibel und einige andere Bücher, deren abgegriffene Deckel deutlich zeigten, daß sie fleißig benutzt wurden.

Bald saß die kleine Gesellschaft um den Tisch und ließ sich die einfachen Speisen wohlschmecken; Frida glaubte nie schönere Milch und Butter genossen zu haben. Ein heiteres Geplauder begleitete das Mahl; Karin und Ambjör hatten viel zu fragen, denn seit sie vor mehreren Wochen hier heraufgezogen waren, hatten sie kaum ein menschliches Wesen gesehen. Frida war froh, schon einiges von der Unterhaltung zu verstehen und gelegentlich daran teilnehmen zu können; Karin aber schlug voll Erstaunen die Hände zusammen, als sie die heimischen Laute aus dem Munde der Fremden vernahm. Doch allzulange durften die Säterinnen nicht ruhen; ihr Tagewerk erforderte ihre ganze Kraft und Hingebung. Sie führten Sigrid in die zweite Hütte, wo die Tonnen voll saurer Milch, die Vorräte von Butter und Käse aufbewahrt wurden, um ihr die Erträge ihrer Arbeit zu zeigen, und wiesen auf den Heuschober, der sich auf einem umfriedeten Platz erhob. Sigrid konnte überall loben und anerkennen, denn die Mädchen waren offenbar sehr fleißig gewesen und hatten keine Mühe gescheut. Das Ansammeln des Heues ist eine sehr wichtige Aufgabe für die Säterinnen; es wird sorgfältig aufbewahrt und im Herbst von Menschen und Pferden ins Tal getragen, denn es bildet den einzigen Wintervorrat für das Vieh, das sich oft recht kümmerlich behelfen muß und in manchen Gegenden sogar mit getrockneten Fischen gefüttert wird.

»Wo sind denn eure Kühe?« fragte Frida. »Man sieht ja gar nichts von ihnen oder von einem Stall.«

»Einen Stall haben sie nicht,« belehrte sie Karin; »am Tage gehen sie auf die Weideplätze, die in den Bergen liegen, abends kommen sie zurück, werden hier gemolken und lagern sich nachts um die Hütte.«

»Fürchtet ihr euch denn gar nicht so ganz allein hier oben?« forschte Frida mit einem leisen Schauer weiter.

»Fürchten?« lachten die Mädchen. »Vor wem denn? Die Bären hausen noch höher hinauf und kommen im Sommer selten herunter, und läßt sich einmal ein Wolf oder Vielfraß hier blicken, so ist er durch Schreien und Lärmen bald vertrieben.«

»Aber ihr seid so weit von allen Wohnungen entfernt! Wenn euch hier etwas zustieße, wenn ein böser Mensch euch überfiele!«

»Die gibt es hier nicht,« meinte Karin kopfschüttelnd. »Übrigens sind wir hier dem Herrgott ganz nahe,« fügte sie leiser hinzu, »glaubst du, Er würde uns nicht zu beschützen wissen? Wir vertrauen ihm fest und beten fleißig zu Ihm.«

Frida war tief ergriffen von den Eindrücken, die sich ihr hier oben darboten. Ja, es gehörte ein starkes Vertrauen zu Gott und Menschen dazu, um in dieser Einöde mutig auszuharren, und ein gutes Teil anspruchsloser Pflichttreue, um die unendliche Einförmigkeit dieses Lebens heiter zu ertragen. Arbeit gab es freilich von früh bis spät; sie mußte ohne Aufsicht, ohne Ermunterung mit immer gleicher Sorgfalt ausgeführt werden, weil sich jede Nachlässigkeit bitter gestraft hätte. Auch der Sonntag bringt weiter keine Abwechselung, als daß die täglichen Geschäfte auf das Notwendigste beschränkt werden; trotzdem legen die Säterinnen immer reine Wäsche und ihre besten Kleider an; am Vormittag lesen sie in ihren geistlichen Büchern und singen fromme Lieder, am Nachmittag nehmen sie eine Stickerei zur Hand, worin sie sehr geschickt sind. Alle paar Wochen kommt wohl einmal ein Besuch herauf, der stets mit Jubel empfangen wird; Brüder, Freunde und Freundinnen stellen sich ein, aber auf die kurzen Stunden fröhlichen Beisammenseins folgen lange Tage und Wochen tiefster Einsamkeit.

Nach einigen Stunden der Ruhe fühlte sich Frida in der reinen Höhenluft so erfrischt, daß sie ganz bereit war, mit Sigrid und Karin zum Weideplatz der Herde hinaufzusteigen, während Lars bei Ambjör zurückblieb, um ihr beim Buttern und dem Reinigen der Gefäße behilflich zu sein. Immer lauter wurde das Glockengeläut, das den Mädchen den Weg anzeigte; weit zerstreut weideten Kühe und Schafe, aber beim Ton des langen Hornes, das Karin an der Seite trug, kamen sie angetrabt, drängten sich um sie und leckten ihr das Salz aus der Hand, das sie ihnen darbot. Sigrid betrachtete mit kundigem Blick die Tiere und sprach verständig mit der Säterin darüber. »Wo hast du das nur so schnell gelernt?« fragte Frida erstaunt. »Du lebst doch erst seit zwei Jahren bei Onkel Nils.«

»Ich kenne das alles von Kindheit auf,« erwiderte die andere, »mein Vater besaß selbst einen Fäbod, wie wir es in Schweden nennen, und ich bin oft tagelang mit ihm und der Mutter dort gewesen. So hoch sind freilich die Berge in Dalekarlien nicht wie hier, aber das Leben und die Arbeit sind dieselben.«

»Ihr werdet gut tun, bis morgen bei uns zu bleiben,« sagte Karin, die inzwischen aufmerksam den Himmel betrachtet hatte; »wir bekommen ein Unwetter. Noch ist der Himmel über uns blau, aber seht ihr die Wolken dort im Süden, die so schnell heraufkommen? Die bedeuten Sturm. Ich muß die Herde herunterbringen, ehe sie der Wind faßt.«

Sie setzte aufs neue ihr Horn an den Mund und ließ laute, klagende Töne daraus erschallen; die Tiere hoben lauschend die Köpfe und schienen erstaunt, aber sie gehorchten sogleich dem wohlbekannten Ruf und folgten der Säterin bis zur Sennhütte, wo sie sich niederlegten. Es dauerte nicht lange, bis sich Karins Prophezeiung erfüllte; heulende Windstöße fegten über die Hochebene, die Sonne verfinsterte sich, und bald stürzte ein heftiger Regen herab, der die ganze Gegend in einen undurchdringlichen Schleier hüllte.

Mit gerunzelter Stirn schaute Sigrid in das Toben der Elemente hinaus; wider ihren Willen zurückgehalten zu werden, das fiel ihrem stolzen, tatkräftigen Sinne schwer. Nach einigen Stunden ließ das Unwetter nach, Wind und Regen hörten auf, aber der Himmel blieb grau und düster. »Wir können heute doch noch zurückkehren,« sagte sie zu den Geschwistern; »wir haben noch fünf Stunden hellen Tag, und so viel brauchen wir nicht einmal zum Abstieg. Ich würde ungern das Haus länger allein lassen, als es dringend nötig ist.«

»Nimm dich in acht, Jomfru,« sagte Lars bedächtig; »der Weg ist glatt und schlüpfrig, und im Tal wird es neblig sein.«

»So bleibe du hier oben, Lars, und komme mit den Vorräten erst morgen herunter; ohne Last kommen wir beide ohnehin schneller vorwärts.«

»O Sigrid!« stammelte Frida erschrocken, »wir beide – ohne Begleitung – ist das nicht sehr gewagt?«

»Bleibe du auch hier, wenn du Furcht hast, und komme mit Lars herab,« erwiderte die Gefährtin ruhig, »ich habe keine Sorge, allein zu gehen.«

Frida starrte in das Herdfeuer; sie dachte mit herzklopfender Angst an den schwindelnden Weg, und doch kam es ihr ungetreu und feige vor, Sigrid zu verlassen; ein paar Sekunden kämpfte sie mit ihrer kleinmütigen Furchtsamkeit, mit dem leidenschaftlichen Wunsche, hier in Sicherheit zu bleiben, bis das Wetter besser würde; dann wandte sie sich entschlossen um. »Ich komme mit dir, Sigrid,« sagte sie fest; »wir beide gehören zusammen.«

Die Geschwister begleiteten die beiden jungen Mädchen eine Strecke weit; Lars führte sie sicher über die sumpfige Hochebene bis an den steilen Felsenpfad. »Gott geleite euch,« sagte er. »Sei nicht ängstlich, Jomfru Frida; für einen langsamen, festen Tritt hat es keine Gefahr. Hier oben wird es bald wieder klar sein; hoffentlich findet ihr unten keinen Nebel.«

Frida richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Pfad zu ihren Füßen; sie sah weder rechts noch links und suchte jeden anderen Gedanken zu verbannen; auch fand sie, da die Sonne nicht mehr brannte und ihre Kraft frischer war, den Weg nicht so schlimm, als er ihrer geängsteten Phantasie vorschwebte. Noch ein einziger Felsenvorsprung war zu umgehen, dann war die Wiese erreicht, auf der sie morgens gerastet hatten, und die größte Schwierigkeit überwunden. Sigrid, die einige Schritte vor ihr herging, verschwand um die scharfe Biegung des Weges, und vorsichtig folgte sie ihr; da tauchte schon der Wald vor ihren Blicken auf, aber er war in Nebel gehüllt, wie es Lars vorausgesagt hatte, auch aus der Wiese stiegen wallende Dunstwolken auf. War Sigrid schon dort? hatten die dichten Schleier sie völlig eingehüllt? Wie Frida auch ihre Augen anstrengte, so konnte sie doch nichts mehr von der Freundin entdecken, und das Herz schien ihr plötzlich stillzustehen in dem Gefühl gänzlicher Verlassenheit. »Sigrid! Sigrid!« rief sie in zitterndem Schrecken, »warte doch, nimm mich mit! o laß mich nicht so ganz allein!« Ihre Stimme schien in der dicken Luft zu ersticken, und beflügelten Schrittes wollte sie vorwärts eilen, als ein Geräusch wie von rollenden Steinen sie plötzlich zurückhielt. »Sigrid!« rief sie nochmals, und es war ihr, als ob gerade unter ihr ein leises Ächzen zu hören sei. »Um Gottes willen, wo bist du? o sprich doch nur ein Wort!« jammerte Frida, indem ihr heiße Tränen aus den Augen stürzten.

»Ich bin gefallen,« stöhnte es von unten her; »reiche mir deinen Stock herab, vielleicht kann ich mich hinaufziehen.«

Dem Schall folgend, fand Frida nach einigem Suchen die Stelle, an der die Gefährtin ausgeglitten und mit dem nachgebenden Geröll in eine tiefe Höhlung hinabgerutscht war, aber obgleich sich jene auf die Knie legte und ihren Stock mit krampfhafter Anstrengung festhielt, so gelang es ihr doch nicht, der Gefallenen aufzuhelfen. Nach vielen vergeblichen Bemühungen hörte sie Sigrid sagen: »Es geht nicht – es ist zu tief. Geh hinunter nach Bunserud, das ist am schnellsten erreicht – Thorkel soll mit einer Leiter und Stricken kommen – eile dich – an der alten Tanne schlägst du den Weg nach links ein – in einer Stunde kannst du den Gaard erreichen.«

»Ich gehe!« war die Antwort. »Gott helfe dir und mir.« Die ersten hundert Schritte durchflog das geängstete Mädchen, ohne an etwas anderes zu denken als an Sigrids schreckliche Lage; dann zwang das stürmisch pochende Herz und der fliegende Atem sie zu langsamerem Gange, und damit kehrte ihr auch das Bewußtsein namenloser Verlassenheit zurück. Im Walde herrschte eine unheimliche Dämmerung; aus dem Fjord stiegen, wie aus einem brodelnden Hexenkessel, die Nebel immer dichter auf; sie ballten sich zu spukhaften Gestalten zusammen und drangen von allen Seiten auf die einsame Wandrerin ein, die oft bebend zusammenfuhr. Manchmal war es ihr, als hielte sie einer fest; dann schrie sie laut auf vor Angst und Grauen, bis sie erkannte, daß es nur ein Strauch war, an dem ihr Kleid festhing. Sie preßte die Hände vor die Augen und suchte ihre Gedanken zu sammeln; sie rief sich alle tröstenden Sprüche und Liederverse ins Gedächtnis und sandte manches heiße Stoßgebet zum Himmel empor, sie zu schützen und zu geleiten. Arme kleine Frida! sie war nie eine Heldin gewesen und wegen ihrer Furchtsamkeit oft von den Brüdern geneckt worden; sie hatte ernstlich dagegen angekämpft und manchen Sieg errungen, aber hier, in dem dämmerigen, schweigenden Walde, fern von jeder menschlichen Nähe, da wäre auch wohl den beherzten Brüdern der Mut entsunken. Aber sie mußte ja der Verunglückten Rettung schaffen, also nur weiter auf dem beschwerlichen Wege, ob auch ihre Füße schmerzten und ihr Blut über den eingebildeten Schrecknissen erstarrte. Gottlob! da war die alte Tanne, nun konnte es nicht mehr weit sein. Ein Trost war es, daß Höfe und Häuser in Norwegen immer unverschlossen bleiben, und daß es nur selten Hunde gibt, die den Wanderer mit Gebell und gefletschten Zähnen bedrohen.

Es schien Frida eine Ewigkeit zu dauern, bis endlich die schattenhaften Umrisse von Gebäuden aus dem Nebelmeer auftauchten und der Gaard vor ihr lag. Aber war das wirklich Bunserud? Es sah alles viel zu stattlich aus für einen kleinen Bauernhof, auch zeigten sich Bäume in der Umgebung des Hauses, während der norwegische Bauer nie einen Garten anlegt. Großer Gott, hatte sie sich verirrt, und war sie zu Fremden geraten? Die bittere Täuschung raubte ihr den letzten Rest von Kraft; auf der Schwelle des Hauses sank sie tödlich erschöpft zusammen, schlug die Hände vor das Gesicht und brach in krampfhaftes Schluchzen aus.

Plötzlich wurde die Tür geöffnet, ein Mann trat heraus; er stieß gegen die kauernde Gestalt und wäre beinahe zu Fall gekommen. »Holla, wer ist da? was suchst du hier?« fragte er in ärgerlichem Tone, aber die Stimme rief Frida schnell ins Bewußtsein zurück. »Arved – Herr Lundholm – ich bin in Ulvik? Gott sei Dank! Eilen Sie – o eilen Sie, so schnell Sie können ...«

»Frida Stein? – Sind Sie es wirklich? was ist geschehen? wie kommen Sie hierher?« fragte der junge Mann in höchstem Erstaunen.

»Sigrid ist verunglückt – schnell, nehmen Sie Menschen und Leitern – ich führe Sie zu der Stelle – o nur schnell ...« Ihre Worte waren vor Schluchzen kaum verständlich.

»Kommen Sie herein, Fräulein Frida,« sagte Arved sehr beunruhigt; als er fand, daß sie unfähig war, auf ihren Füßen zu stehen, hob er die zarte Gestalt mit starkem Arm empor und trug sie ins Zimmer, wo er sie sanft auf ein Sofa niederlegte. »Mutter, Ingeborg,« rief er mit schallender Stimme. Die Frauen erschienen sogleich und waren unendlich erschrocken, ihre kleine Freundin in so hilflosem Zustande zu sehen; mühsam bezwang Frida ihre Tränen und ihr Zittern so weit, um ihr Anliegen verständlich zu machen. Arved begriff sogleich, um was es sich handelte; als er hinauseilen wollte, um die nötigen Anordnungen zu treffen, sprang sie auf. »Ich muß mit – Sie finden die Stelle sonst nicht –«, aber ihr Kopf schwindelte, und wider Willen fiel sie wieder zurück.

»Sie bleiben hier in der Pflege der Meinen,« sagte Arved sehr bestimmt; »ich kenne den Platz, er ist nicht zu verfehlen.«

Als sich die Tür hinter ihm schloß, sank Frida in eine tiefe Ohnmacht, der ein langer, totenähnlicher Schlaf folgte; Leib und Seele hatten an diesem Tage zu übermäßige Anstrengungen durchgemacht. Endlich schlug sie die Augen auf und blickte erstaunt um sich; wo war sie nur? Sie hörte flüsternde Stimmen, und sich aufrichtend, gewahrte sie Doktor Magnus Alsen und Ingeborg, die sofort an ihre Seite eilte und sie mit liebevoller Sorge nach ihrem Befinden fragte. »Ich danke, es geht mir gut, nur sehr müde fühle ich mich. Ist es schon Zeit, aufzustehen?«

»Gott segne das Kind!« sagte der alte Arzt herzutretend. »Da hat es sechsunddreißig Stunden in einem Zuge geschlafen, ohne eine andere Unterbrechung, als daß es hin und wieder sein Schnäbelchen aufsperrte, um etwas Futter einzunehmen – und nun fragt es ganz unschuldig, ob es schon aufstehen solle! Ei, Kleine, du kannst dich auf dem nächsten Jahrmarkt als Siebenschläfer für Geld sehen lassen.«

»Was macht Sigrid?« fragte Frida hastig, als ihr die Erinnerung an das Erlebte allmählich wiederkehrte.

»O, um die mach dir keine Sorge! Das ist ein Kern- und Prachtmädel, wie es kein zweites gibt; sie hat zwar ein Dutzend Beulen und etliche Pflaster davongetragen und sieht aus wie ein Soldat, der aus dem Kriege kommt, aber sie geht trotzdem so stramm und aufrecht umher wie ein Sieger, und kein Wort der Klage ist über ihre Lippen gekommen. Wahrlich, wenn ich mich doch noch einmal entschließen sollte, zu heiraten, so dürfte keine andere als Sigrid Svendson meine Frau werden!«

»O Onkel Magnus,« rief Ingeborg ganz entrüstet, »glaubst du denn, das schönste und beste Mädchen am Hardanger Fjord werde einen solchen alten Graubart wie dich nehmen? Da haben wir doch wohl jüngere und hübschere Leute für sie.«

»Wie?« rief der alte Herr in komischem Zorn, »so ein unbefiedertes Kücken, das hinter den Ohren noch nicht trocken geworden ist, will dem ehrenwerten Bezirksarzt, dem seit vierzig Jahren groß und klein hierzulande Leben und Gesundheit verdankt, das Recht absprechen, sich eine Frau nach seinem Geschmack zu suchen? Aber im Grunde ist es doch nur der Neid, der aus dir spricht; du möchtest lieber selbst die Erwählte sein.«

»Fehlgeschossen, Onkelchen!« lachte Ingeborg triumphierend. »Wer schon mit sechs Jahren Erik Holmböes Braut war, der nimmt mit sechzehn sicher nicht mit so einem würdigen alten Großpapa vorlieb!«

»Schwatze nicht so ungewaschenes Zeug, du törichte Elster,« sagte zürnend der Arzt, »sondern hilf deiner Freundin aufstehen, damit ich sehe, ob noch etwas an ihr zu kurieren ist. Auf Wiedersehen, mein, kleines Fräulein!«

Während Ingeborg der anderen beim Ankleiden behilflich war, mußte sie ihr genau berichten, wie ihr Bruder Sigrid gefunden und aus ihrer Gefangenschaft befreit habe; sie tat es mit Begeisterung, denn es war ihr eine ebenso große Freude, Arveds Umsicht und Tatkraft wie Sigrids Heldenmut zu preisen. »Nun, wie geht's, wie steht's?« fragte Doktor Alsen, als die beiden Mädchen ins Wohnzimmer traten; »was soll dieser trübselige Blick? Ist noch irgend etwas in Unordnung?«

»Nein, Herr Doktor, es ist alles heil und gesund; mich bekümmert es nur, daß ich so ein armselig schwaches und feiges Geschöpf bin. Sigrid wird mich verachten,« sagte Frida niedergeschlagen.

»Je nun, wenn ein anderer so zu mir gesprochen hätte,« erwiderte der alte Herr mit nachdrücklichem Ernst, »so würde ich ihn einen dummen Schwätzer und unverschämten Verleumder schelten; dir gegenüber muß ich mich aber wohl ein bißchen höflicher ausdrücken. Sigrid sprach mit der größten Anerkennung von der unerschrockenen Entschlossenheit, mit der du den schwierigen Auftrag ausgerichtet hättest; sie läßt dich grüßen und dir herzlich danken.«

»Unerschrocken!« wiederholte Frida, hoch errötend, »ach, ich habe mich so gefürchtet – es war entsetzlich im Walde, in dem gespenstischen Nebel!«

»Es hat nicht jeder das Zeug zu einer Walküre in sich,« bemerkte Arved mit Wärme, »aber die natürliche Furcht durch Pflicht und Liebe besiegen, das ist noch mehr wert, als keine zu empfinden.«

Frau Lundholm aber zog das junge Mädchen an sich und küßte sie zärtlich. »Es war ein schwerer Tag, mein geliebtes Kind,« sagte sie liebreich; »Gott sei gelobt, daß Er ihm ein glückliches Ende gab!«

Aus tiefstem Herzen stimmte Frida in dieses Dankgebet ein; sie fühlte es lebhaft, daß sie ohne Gottes Beistand nichts hätte ausrichten können, daß er selbst sie an der Hand geführt hatte. Die Lobsprüche, die sie empfing, machten sie demütig und bescheiden, und die vermehrte Liebe, die ihr alle bewiesen, nahm sie als ein unverdientes Geschenk mit dankbarer Freude an. Ein lieber Gedanke war es ihr, daß nach dem großen Dienste, den er ihr erwiesen hatte, Sigrids Herz fortan lebhafter für Arved Lundholm schlagen müsse, und ihr Freund dem Ziel seiner Wünsche näher gerückt sei.

Am folgenden Tage, einem Sonntag, fuhr Frida mit den Ulvikern zur Kirche. Von einem leichten Windhauch getrieben, glitt das Boot über die schimmernde Flut dahin, und mit Entzücken hingen ihre Blicke an dem köstlichen Bilde ringsumher. Feierlich erklang das Geläut der Glocken vom Kirchlein zu Grover, und von allen Richtungen her folgten die Umwohner dem frommen Ruf. Da kamen sie auf steilen Bergpfaden herab, manche zu Fuß, andere auf kleinen Pferden reitend oder in leichten zweiräderigen Karren fahrend; da durchfurchten zahllose Boote den grünen Fjord, besetzt mit schönen Mädchen in ihrer malerischen Tracht, mit dem Gebetbuch in den gefalteten Händen, während stattliche junge Männer mit sonnverbrannten Wangen und fröhlich leuchtenden Augen die Ruder führten; dort brachte ein Kahn ein altes Paar, umgeben von Kindern und Enkeln, die Frauen mit den großen weißen Hauben, die am Hardanger Fjord üblich sind, die Kinder strahlend von Gesundheit und Frohsinn. Gute Freunde begrüßten sich von Kahn zu Kahn mit herzlichem Zuruf, doch war jeder laute Ausbruch der Lust gedämpft durch ein Gefühl der Andacht und Ehrfurcht.

»Wie lieblich ist solch ein Sonntagmorgen – ein Vorschmack des Himmels!« sagte Frida mit sanftem Lächeln. »Alle Menschen sind so fromm und feierlich gestimmt, und die ganze Natur feiert mit!«

»Ja, Gott sei Dank! es ist noch ein guter Kern echter Gottesfurcht in unserem Volke,« erwiderte Frau Lundholm; »unsere Landleute können sich keinen Festtag ohne Kirchenbesuch denken. Da kann man es ihnen wohl gönnen, wenn sie nach der schweren Arbeit der Woche am Sonntagnachmittag Erholung in heiterem Beisammensein suchen und bei Spiel und Tanz von Herzen fröhlich sind. Wenn nur die leidige Flasche nicht eine so große Rolle dabei spielte!«

»Vergiß nicht, Mutter,« fiel Arved ein, »daß die letzten Jahrzehnte eine große Besserung auf diesem Gebiete gebracht und die eingreifenden Maßregeln der Regierung, die Veranstaltungen wohldenkender Menschenfreunde dem Laster der Trunkenheit wirksam gesteuert haben.«

»Du hast recht, mein Sohn; wir wollen es dankbar anerkennen, daß manches geschehen ist, und Gott bitten, auch ferner Seinen Segen auf dieses Werk zu legen.«

Vor der Kirche trafen sie Herrn Holmböe, der schon ungeduldig auf sie gewartet hatte, Frida mit besonderer Wärme begrüßte und ein wenig auf Sigrids Eigensinn schalt, der alles Unheil angerichtet habe. »Nehme dich natürlich gleich mit mir nach Hause, du kleiner Ausreißer,« sagte er; »werde dich fortan nicht mehr aus den Augen lassen. Gott sei gelobt, daß du keinen Schaden genommen hast, Kleine; sehe doch, daß man mit solchem anvertrauten Kleinod viel sorgsamer umgehen muß.«

Das Wiedersehen zwischen den beiden Mädchen war sehr herzlich; Sigrid legte ihre natürliche Zurückhaltung immer mehr ab und zeigte sich aufgeschlossener und vertraulicher als bisher. Sogar wenn Frida anfing, von Arved Lundholm zu sprechen und seine Verdienste zu preisen, schien sie nicht ungern zuzuhören, sondern nickte zustimmend. So diente der ganze Vorfall dazu, die Bande zwischen Frida und ihren neuen Freunden noch fester zu schlingen und ihr den Aufenthalt in Norwegen immer lieber und heimischer zu machen.


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