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X. Die Börse.

Die Seele Hamburgs ist die Börse, das lebendig pulsirende Herz der Welthandelsstadt. Hier trifft Alles wie in einem Brennpunkt zusammen, was an geistiger Kraft, an Intelligenz, kaufmännischer Erfahrung, Thatkraft und Macht vorhanden und darauf gerichtet ist, in der Wahrnehmung der eigenen Interessen auch die Handelsgrösse Hamburgs und die Wohlfahrt des Gemeinwesens zu fördern. Es ist stets echt hanseatische Art gewesen, neben dem Blicke auf die eigenen Angelegenheiten auch ein offenes Auge für das Allgemeine, das grosse Ganze, den Staat, zu haben.

In Hamburg fängt der Mensch erst beim Börsenbesucher an. Der Kaufmann, Bankier, Rheder und Makler, jeder der mitzählen will, muss täglich zur Börse, und von der Börse bleibt nur fort, wer seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen kann: »Er ist nicht an der Börse« besagt kurz und bündig, dass »er« sich in Zahlungsschwierigkeiten befindet; nur derjenige »Ehrbare Kaufmann«, der seinen Zahlungsverbindlichkeiten prompt nachkommt, darf hier erscheinen.

Hier sitzen oder stehen sie, die grossen Kaffee-, Zucker- und Getreidehändler, die Sprit- und Tabakhändler, Schiffer, Ewerführer, Fabrikanten und Grossindustriellen (auch die Rechtsanwälte erscheinen an der Börse), die Makler, Assecuradeure u. s. w., und zwar sind sie nicht nur in Branchen gruppirt, sondern auch so vertheilt, dass die näher aufeinander angewiesenen Gruppen auch räumlich nahe stehen. Hier sitzen die grossen Rheder und Leiter der Dampfschifffahrtsgesellschaften – jeder von ihnen hat eine Handelsflotte auf den Weltmeeren schwimmen. Ein kurzes Kopfnicken, eine Bemerkung von wenigen Worten, eine Notiz in das Taschenbuch des Maklers – und ein Unternehmen von Hunderttausenden, oft Millionen Mark ist abgeschlossen, ein Monate umfassendes Risiko ist eingegangen. Hier ist die grosse Centrale, von der die Leitung der gewaltigen Schifffahrt Hamburgs ausgeht. Was in den wenigen Börsenstunden geplant, abgemacht und abgeschlossen wird, verwirklicht sich in den unzähligen Häfen der ganzen Erde, wenn die Kapitäne ihre Befehle erhalten und darnach ihre Reisen antreten. So ist die Börse das rastlos denkende Gehirn des Hamburgischen Welthandels, Alles greift hier in einander, indem sich aus den unzähligen kleineren und grösseren Interessenkreisen und Specialzweigen die imposante Einheit des Welthandels aufbaut.

Das Hauptgebäude der Börse im Stile der italienischen Renaissance wurde in den Jahren 1836-1841 aufgeführt und blieb 1842 bei dem grossen Brande durch todesmuthige Anstrengungen einiger beherzter Bürger von dem ringsum züngelnden Flammenmeer verschont. Seitdem ist das Gebäude fast um das Dreifache vergrössert worden und bietet jetzt 3400 Quadratmeter Fläche für den immensen Börsenverkehr, der sich in 3 Sälen abwickelt, dem Waarensaal, der Fondsbörse und der Kornbörse. Die Säle stehen durch offene Arkaden mit einander in Zusammenhang.

Durch mosaikartige Zeichnung des Fussbodens und Nummerirung der Säulen ist der Börsenraum so eingetheilt, dass jeder regelmässige Börsenbesucher, jede grössere Firma einen bestimmten festen Stand oder Sitz angewiesen erhält, wo sich während der Börsenzeit ständig ein Vertreter des Hauses aufhält. Wer Bescheid weiss, findet jeden Einzelnen aus dieser Menschenmenge sofort heraus, der minder Geübte bedient sich des Börsenadressbuchs. Auf diese Art werden in Hamburg die meisten Geschäfte ausserordentlich rasch und bequem erledigt.

Wer rechtzeitig, d. h. vor 1½ Uhr zur Börse kommt, hat überall freien Zutritt. Um 1½ Uhr werden nach vorhergehendem Läuten der Börsenglocken die unteren, eigentlichen Börsensäle geschlossen, und nur gegen Erlegung des Sperrgeldes von 30 Pfg. werden dann noch Besucher zugelassen. Diese Massregel soll die Pünktlichkeit des Börsenbesuchs fördern; das Interesse der Allgemeinheit erfordert es, dass während der kurzen Börsenzeit Alle und Jeder auch Allen und Jedem erreichbar ist. Der Zutritt zu den oberen Gallerien ist jederzeit frei. In allen Restaurationen in viertelstündigem Umkreise von der Börse ertönen je nach der Entfernung von derselben rechtzeitig Klingeln oder andere Signale, um die Frühstücksgäste an den Aufbruch und Beginn der Börse zu erinnern. Um diese Zeit kommt Leben und Bewegung in die sonst ruhige Umgebung des Börsengebäudes, und es macht einen ganz eigenartigen Eindruck, dieses hastige Zufluthen von ca. 7000 Männern innerhalb einer Frist von wenigen Minuten nach der Börse zu beobachten.

Wer als Fremder einen richtigen Eindruck von dem Verkehr an der Börse und der Art, wie er sich abwickelt, gewinnen will, der muss sich gegen 1¼ Uhr auf die Gallerie begeben und von dort beobachten, wie sich die Börsenräume rasch füllen, bis die sich fortwährend bewegende Menge versammelt ist. Trotzdem die Unterhaltung und das einzelne Gespräch leise oder höchstens halblaut geführt wird, so klingt doch das Sprachgewirr der vieltausendköpfigen Menge wie fernes Rauschen und Wogen der Brandung nach oben herauf.

Die officielle Börsenzeit ist von 1¼–2¼ Uhr, vor 3 Uhr aber leeren sich die weiten Räume nur unmerklich. Nur an Sonn- und Feiertagen und patriotischen Festtagen »ist keine Börse«.

Wenn auch der klare Verstand, der nüchterne Geschäftstrieb und Erwerbssinn an der Börse dominiren und das rastlose Leben und Treiben beherrschen, welches die tausend und abertausend Fäden des Welthandels gleichsam unsichtbar leitet, so steht andrerseits wieder unwiderleglich fest, dass der traditionelle Wohlthätigkeitssinn an der Hamburger Börse erheblich öfter in Anspruch genommen wird, als der jeder andern Gemeinschaft, und dass endlich auch keine hervorragende Erscheinung des öffentlichen Lebens, kein wichtiges Ereigniss der vaterländischen Politik und kein grosser Moment echt patriotischen Empfindens vorübergeht, ohne an der Hamburger Börse in einer begeisterten oder sonstwie öffentlichen Kundgebung ein lebhaftes Echo zu finden. Es ist stets echt hanseatische Art gewesen, neben dem Blick auf das eigene Geschäft auch ein offenes Auge und Ohr zu haben für das Allgemeine, das Grosse und Ganze, nicht nur des eigenen kleinen Staatswesens, sondern viel mehr noch des weiteren grossen Vaterlandes, und wenn man in neuerer Zeit in weiten Kreisen nur zu gern mit allerlei Anklagen gegen die Börse bei der Hand ist und dieselbe sogar den »Giftbaum« des Handels und Verkehrs genannt hat, so darf getrost entgegnet werden, dass dieses Vorurtheil nicht auf Grund der Kenntniss der »Versammlung Eines Ehrbaren Kaufmannes« in Hamburg gewonnen ist.


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