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In der Stille, die jetzt eintrat, hallten die Worte nach, als wären sie geschrien worden.
Der Besucher war unwillkürlich einen Schritt zurückgewichen.
»Beweise!« keuchte er. »Das kann jeder behaupten –«
»Still!« herrschte ihn Tschuppik an. »Soll ich dir vielleicht erzählen, wie Wilkins dich aus dem Bagno holen ließ; soll ich die Staaten nennen, die nach dir fahnden?«
In den Zügen des Mannes malte sich Schrecken und Angst.
»Nicht nötig!« rief er hastig. »Ich bin jetzt überzeugt. Verlangen Sie von mir, was Sie wollen –«
Tschuppik wandte sich, ohne weiter auf des anderen Worte zu achten, Doris zu.
»Und Sie? Wollen Sie mir den bestimmten Wunsch jetzt noch erfüllen, oder ziehen Sie es vor, zur Polizei zu laufen?«
Doris erholte sich langsam von ihrer Verblüffung.
»Wenn Sie Evelyn retten, tue ich für Sie alles, nur kein Verbrechen.«
»Zum Verbrechenbegehen habe ich genug andere Leute«, sagte Tschuppik spöttisch. Er stand am Fenster und blickte auf die Straße. »Dort drüben steht mein Tod«, fuhr er ruhig fort, – »Kapitän Hearn! Zum erstenmal ist mir ein Plan mißglückt. Ich hatte Huntington an ihn verraten und rechnete damit, daß dieser den Kleinen glatt niederschießen würde. Es geschah nicht. Auf der Rückfahrt sollte der Wagen Hearns bei einer steilen Steigung abgehängt werden, damit er zurückrolle und bei der nächsten Biegung an den Felsen zerschelle. Zwei meiner Leute wurden beim Versuch, diesen Plan auszuführen, erschossen, und der Wagen kam unversehrt an. Jetzt ist die Gefahr riesengroß. Hearn braucht nur noch einen Fingerabdruck von mir – da, er macht Anstalten, das Haus zu betreten! Bevor er den Abdruck hat, müssen wir draußen sein.«
Tschuppik winkte den beiden, ihm zu folgen.
»Schnell und möglichst unbefangen!«
Sie traten auf die Straße. Tschuppiks Wagen hielt in der Nähe, und der Chauffeur fuhr sogleich vor. Als sie einstiegen, stand Hearn dicht neben dem Wagen und zog tief seinen Hut, aber der Millionär beachtete den Gruß nicht.
Wehmütig starrte Hearn dem davonfahrenden Auto nach.
»Der Verkehr der amerikanischen Millionäre wird immer wahlloser«, wandte er sich traurig an den neben ihm stehenden Portier. »Haben Sie den Mann gesehen, den Mr. Tschuppik mitnahm? Sie kennen sich doch ein wenig aus in Herrengarderobe, – war der Anzug nicht etwas sehr altmodisch?« Der kleine Polizeibeamte schüttelte bekümmert den Kopf. »Und eine Blume im Knopfloch hatte er auch nicht …«
*
Noch nie im Leben hatte Doris eine so tolle Autofahrt mitgemacht. Noch im Stadtinnern war der Chauffeur entlassen worden, und jetzt saß der Strolch am Steuer, dem irgendwelche Vorschriften über zulässige Höchstgeschwindigkeit unbekannt zu sein schienen. Der Wagen fegte um die Kurven herum, schoß wie eine Rakete durch kleine Dörfer und flog längs den staubigen Landstraßen weiter – schneller, immer schneller …
Doris fieberte vor Erregung. Tausenderlei Fragen drängten sich ihr auf, aber sie wagte keine an den neben ihr im Wageninnern sitzenden Tschuppik zu richten. Seine Züge waren gespannt, und in den Augen lag ein harter, entschlossener Ausdruck. Würde er tatsächlich Evelyn finden und befreien? Was würde er dafür von ihr, Doris, verlangen? Es wurde ihr plötzlich klar, daß es sich dabei um etwas sehr Wichtiges handeln mußte, da Tschuppik in seiner jetzt so gefährlichen Lage sonst bestimmt nicht kostbare Zeit vergeudet hätte, um ein ihm unbekanntes Mädchen zu retten.
Der Wagen hielt. Der Strolch war mit einem Satz draußen.
»Schnell!« drängte er und rannte so schnell die Treppe eines zweistöckigen Hauses hinauf, daß die beiden anderen ihm kaum folgen konnten.
Als Doris im obersten Stockwerk anlangte, sah sie eine Tür offen und den Strolch mit zwei anderen Männern verhandeln, deren Kleider genau so zerlumpt waren wie die seinen. Sie hörte den Namen »Wilkins« und bemerkte, wie in den Gesichtern der beiden plötzlich Angst stand.
»Kommen Sie!« rief ihr Führer. Es ging durch zwei schmale Zimmer, in denen es nach Kleister und Gummi roch; eine dritte Tür wurde aufgestoßen, – und Doris sah sich Evelyn gegenüber.
»Doris!«
»Schwesterchen!«
Die Mädchen fielen sich in die Arme, doch schon legte sich der Strolch ins Mittel.
»Wir haben keine Zeit! Feiert eure Begrüßung im Wagen! Schnell! Rührt euch!«
Ehe sie sich's versahen, saßen sie schon im Wagen nebeneinander – Tschuppik hatte neben dem Führersitz Platz genommen – und im Blitztempo ging es weiter.
Doris stellte Fragen. Mit fliegendem Atem berichtete Evelyn:
»Wer mich gefangen hielt? Huntington. Nein, ich wurde nicht mißhandelt. Warum er mich festhielt? Weil er erst das Geld Manhattans aus unserer Wohnung holen wollte. Ja, ich hatte es dort versteckt. In der Nacht, als Manhattans Testament eröffnet wurde – erinnerst du dich, ich war noch krank, und du erlaubtest mir nicht mitzugehen – schlich ich heimlich doch ins Manhattanhouse. Ich stand während der Verlesung des Testamentes im Vorzimmer hinter einer Tür verborgen und lauschte. Zweimal mußte ich mich rasch hinter den Mänteln verstecken, weil Huntington ins Vorzimmer kam und nach seiner Mappe sah. Aus Neugierde schaute ich nach: darin waren Aktien und eine Menge Geld. Ich vermutete gleich, daß irgend etwas nicht stimmte, da Huntington so geheimnisvoll damit tat. Kurz entschlossen packte ich die Mappe, fuhr nach Hause und versteckte alles. Huntington hat lange Zeit gebraucht, bis er dahinter kam, wer ihm so übel mitgespielt –«
»Hier steigt Miß Evelyn aus!« rief Tschuppik plötzlich.
Erstaunt blickten die Mädchen um sich. Jetzt erst wurden sie gewahr, daß sie sich schon im Stadtinneren befanden.
Evelyn leistete der Aufforderung Tschuppiks Folge.
»Und du? Und du, Doris?« fragte sie verwirrt.
Doris überlegte. Sie brauchte nur schnell aus dem Wagen zu springen – dort, an der Ecke standen zwei Polizisten – und alle Schrecken waren vorüber. Doch nein, sie hatte ihr Wort gegeben, und sie würde es auch halten. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie antwortete:
»Ich habe noch etwas Wichtiges vor, aber ich werde bald zu Hause sein.«
Der Wagenschlag fiel zu, der Motor sprang an. Nun war es zu spät. Es gab kein Zurück mehr. Was würde kommen?
Doris lehnte sich erschöpft in die Ecke des Wagens und schloß die Augen.
Sie hätte nicht zu sagen vermocht, ob Minuten oder Stunden verstrichen waren, als das Auto wieder hielt.
»Wir kommen nicht weiter. Wir müssen zu Fuß gehen!« rief der Wagenlenker.
Doris sah verwundert auf. Pechschwarze Finsternis, nur unterbrochen von den Scheinwerfern des Wagens, umhüllte alles. Sie merkte aber, daß sie sich nicht mehr auf der flachen Landstraße, sondern im Gebirge befanden.
Alle waren ausgestiegen. Das Auto wurde hinter Bäumen verborgen und die Scheinwerfer abgestellt. Nur noch Tschuppiks schwache Taschenlampe zeichnete einen lichten Kreis am Boden.
»Vorwärts!«
Nun begann die Wanderung. Über Rasen und über Steine, dann über spiegelglatten, mit Fichtennadeln bedeckten Boden – weiter und weiter, höher und höher hinauf.
Viertelstunde um Viertelstunde verrann. Immer mühsamer wurde der Aufstieg, immer schwerer für Doris das Gehen.
»Wo sind wir?« stöhnte sie.
»Im Endorgebirge«, war Tschuppiks knappe Antwort. »Vorwärts!«
Doris wankte weiter. In ihren Schläfen hämmerte das Blut, die Füße brannten, und die Kehle war wie ausgetrocknet.
Plötzlich stolperte sie über eine Wurzel und stürzte. Der Arm des Strolches fing sie auf, riß sie hoch.
»Ich kann nicht mehr!« schrie Doris verzweifelt auf. Zwei starke Arme packten sie.
»Keine Sorge Wilkins, ich trage sie«, sagte eine tiefe Stimme, und Doris atmete erleichtert auf, denn mit ihrer Kraft war es zu Ende.
Weiter ging es. Rasch und immer rascher.
Noch eine Viertelstunde verrann und noch eine –
»Hier sind wir!« rief Tschuppik plötzlich, und Doris stand gleich darauf wieder auf den Füßen.
Eine entsetzliche Angst schnürte ihr die Kehle zu. Jetzt! Jetzt! Was würde jetzt kommen?
Der Lichtstrahl der Laterne streifte ihr bleiches Gesicht. Tschuppik stand dicht neben ihr.
»Die Melodie!« keuchte er. »Singen Sie jetzt die Melodie!«