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21

Kapitän Hearn hatte die eigentümliche Fähigkeit, gewisse Ereignisse vorauszuahnen. Es war nicht nur einmal, sondern wiederholt vorgekommen, daß er bei der Verfolgung eines Verbrechers nichts weiter getan, als an irgendeinem Ort – es mußte durchaus nicht immer der Tatort sein – auf das Erscheinen des Täters gewartet hatte. So sicher rechnete er mit dem Eintreten dieses Ereignisses.

Auf Befragen erklärte Hearn gern jedem, der ihm zuhören wollte, daß diese Fähigkeit nichts anderes als das Ergebnis einer Rechenaufgabe sei, genau wie zum Beispiel der Urteilsspruch des Richters: wie dieser sein »schuldig« oder »nicht schuldig« auf Grund gewisser feststehender Tatsachen spreche, so ließen sich an Hand ebensolcher Tatsachen bestimmte Ereignisse vorausahnen.

Es kam dem kleinen Polizeibeamten infolge seiner sonderbaren Fähigkeit durchaus nicht unerwartet, als ihn Huntington schon zwei Tage nach ihrer nächtlichen Unterhaltung am Telephon begrüßte und ihm kurz mitteilte, daß eine ganze Reihe von Leuten, darunter einige von Manhattans Verwandten, auf den Dampfer »Isabella« gelockt und dort gewaltsam festgehalten worden seien. Hearn wunderte sich nur über die plumpe Art der Falle; denn daß es sich um eine solche handelte, davon war er fest überzeugt. Sollte Huntington wirklich so einfältig sein zu glauben, er, Hearn, würde sich etwa mit zwei Mann Begleitung auf die Isabella begeben, um dort einer Übermacht von kräftigen Matrosen wehrlos ausgeliefert zu sein?

Der Kapitän handelte. Alles klappte vorzüglich. Es stellte sich heraus, daß die Isabella etwa fünfzehn Minuten nach Huntingtons Anruf in See gestochen war. Funksprüche und Telegramme, die ihr nachgesandt wurden, blieben einfach unberücksichtigt. Die Hafenpolizei, durch Hearns wunderbares Dokument zu besonderem Eifer angespornt, hatte schon zwei Stunden später einen Schnelldampfer mit fünfzig Mann Besatzung ausgerüstet, und die Jagd nach der Isabella begann.

Hearn stand am Geländer und starrte sinnend ins zischende, mit weißem Schaum bedeckte Wasser. Alles klappte, dachte er. Binnen einigen knappen Stunden würden sie die Isabella eingeholt haben. Das weitere war kinderleicht und denkbar einfach. Und doch wurde der Kapitän ein unangenehmes Empfinden nicht los. Gerade dieses glatte Abwickeln erschien ihm verdächtig. Seine Gedanken schwankten hin und her. Und als der Schnelldampfer sechs Stunden später die Isabella eingeholt hatte, und Hearn in einem mit zwanzig Mann besetzten Boot hinüberruderte, war er zur Überzeugung gekommen, daß alles sich genau so abspielte, wie Huntington es wünschte. Die Unmöglichkeit, den Zweck der ganzen Sache herauszufinden, machte den kleinen Mann beinahe krank.

Auf der Isabella herrschte ein heilloses Durcheinander. Zwischen geschäftig hin und her eilenden Matrosen und neugierig herumlungernden rußgeschwärzten Heizern sah man eine Anzahl elegant gekleideter Passagiere, und gerade diese gebärdeten sich am auffallendsten: Hearn wurde wie ein Held gefeiert und konnte sich nur mit Mühe der stürmischen Dankesbezeugungen erwehren.

Zwei Menschen fielen durch ihre Ruhe auf: Der Schiffskapitän, der mit herabbaumelnden Beinen auf einer Kiste saß und von dem Reinigen seiner Pfeife vollauf in Anspruch genommen zu sein schien, und ihm gegenüber, in nachlässiger Haltung am Geländer lehnend – der Detektiv Huntington. Gleichmütig beobachtete er die aufgeregten Menschen, und in seine Blicke trat erst dann ein Schimmer von Teilnahme, als er den kleinen Polizeibeamten auf sich zusteuern sah.

»Nun, Mr. Huntington«, rief Hearn erstaunt – er war wirklich erstaunt, denn keinesfalls hatte er erwartet, den Detektiv hier zu finden – »wie kommen denn Sie auf die Isabella?«

»Ich wollte ein Verbrechen verhindern«, erklärte Huntington ruhig. »Aber es ist mir nicht gelungen. Gut, daß Sie klüger als ich waren und mehr Leute mitbrachten!«

Der Polizeibeamte überlegte einen Augenblick, dann fragte er geradezu:

»Was ist denn hier eigentlich los?«

Sachlich, in knappen Worten schilderte Huntington den Gang der Ereignisse. Durch List und Tücke sei es »jemand« – er vermied es, auch nur einen Verdacht über die Person dieses »jemand« zu äußern – gelungen, verschiedene Leute auf die Isabella zu locken. Unter nichtigen Vorwänden seien sie so lange in ihren Kajüten gefangen gehalten worden, bis der Dampfer in See stach. Er selbst sei im letzten Augenblick vor der Abfahrt erschienen, doch alle seine Bemühungen wären vergeblich gewesen, – er sei genau so wie alle anderen behandelt worden.

»Danke«, sagte Hearn kurz. Dann trat er mit düsterer Miene zum Schiffskapitän.

»Sie haben sich der Freiheitsberaubung amerikanischer Bürger schuldig gemacht?[???Ausrufezeichen?]« erklärte er streng. »Außerdem werden Sie sich wegen Nichtbeachtung amtlicher Depeschen und Funksprüche zu verantworten haben.«

Der Schiffskapitän zuckte die Achseln.

»Die Apparate waren kaputt«, meinte er gleichmütig. »Und von Freiheitsberaubung ist mir nichts bekannt. Ich habe übrigens nur die Aufträge meines Reeders ausgeführt –«

»Die Isabella gehört doch den Brüdern Garrys?« warf Hearn ein.

»Nee«. Der Mann schüttelte langsam den Kopf. »Seit gestern gehört der Dampfer Mr. Charles de Wood.«

Mit einem raschen Seitenblick vergewisserte sich der Polizeibeamte, daß de Wood anwesend war und ein sehr verstörtes Wesen zur Schau trug. Blitzschnell wandte er sich um.

»Mr. de Wood, wie war das doch mit Ihnen? Wurden Sie auch eingesperrt, bis das Schiff flottgemacht war?«

»Ich … ich weiß es nicht«, war die etwas betretene Antwort. »Ich schlief gerade.«

»Dagegen läßt sich nichts sagen«, meinte Hearn sinnend. Seine Gedanken weilten ganz woanders. Er wußte schon genau, worum es sich hier handelte: eine Reihe von Leuten sollte durch List und Gewalt irgendwohin verschleppt werden. Die Sache war ungeschickt genug angepackt, und nur in einem Punkte war Anerkennenswertes geleistet worden – alle Opfer waren infolge unbefugten Aneignens eines fremden Briefes in die Falle gegangen, und es war den Tätern daher strafgesetzlich nicht leicht beizukommen. Das war alles einfach und klar. Aber was für eine Rolle spielte denn Huntington bei der ganzen Geschichte?

Nur mit Mühe zwang Hearn seine Gedanken in andere Bahnen.

»Es ist ganz fraglos –« begann er und schwieg plötzlich erstaunt.

Erst leise, dann immer lauter drangen Schreie und das Geräusch von trampelnden Füßen an sein Ohr. Verwundert wandten sich alle um. Da sahen sie Mrs. Isatschik mit zerzaustem Haar, den breitrandigen Hut gleich einem Siegesbanner wie irrsinnig hin und her schwenkend, auf sich zustürzen. Hinter ihr rannte – vergeblich bemüht, sie zu fassen – ein Matrose, und in gewisser Entfernung hinter diesem – Wilbur.

»Ich hab ihn! Ich hab ihn!« jauchzte Mrs. Isatschik schrill auf. »Wilbur hat den Mörder Manhattans entdeckt!«


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