Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am nächsten Tag, um ein Uhr mittags, glich die Wohnung Mrs. Isatschiks einem Bienenstock: Es war ein dauerndes Kommen und Gehen. Mrs. Isatschik, am Anfang verärgert, dann sprachlos vor Wut, sah mit steigendem Entsetzen, daß die Kunde von dem bevorstehenden Anruf des augenblicklichen Besitzers der Millionen auf irgendeine unerklärliche Weise zur Kenntnis ihrer Verwandten gelangt war. Wubbels, Doris und auch Huntington waren anwesend; außerdem eine Reihe von jüngeren Kriminalbeamten.
Es war ein aufgeregtes Völkchen, das scheltend und streitend sämtliche Räume der Wohnung füllte. Mrs. Isatschik konnte nur selten ein Wort der erregten Unterhaltung aufschnappen, da jedes Gespräch bei ihrem Nahen sofort verstummte. Das war nicht besonders höflich, doch kümmerte sich heute niemand um Höflichkeit, da es ja um ein Millionenvermögen ging.
Aus dem wenigen, das Mrs. Isatschik verstand, konnte sie entnehmen, daß nach allgemeiner Ansicht mit der Auslieferung des Geldes an sie und ihren Sohn die Aussichten auf das Vermögen für alle übrigen Familienmitglieder auf Null zusammenschrumpften. Dieser Umstand erfüllte sie mit Freude und Genugtuung. Im Geiste sah sie bereits die enttäuschten Gesichter der lieben Verwandten, wenn jene eine Stunde später kleinlaut abziehen würden.
Der einzige von allen, der auf ihre ausdrückliche Bitte erschienen war, zeigte auch die größte Ruhe: Huntington. Er stand inmitten einer größeren Gruppe und entwickelte unter ehrfurchtsvollem Schweigen der Zuhörer seine Ansichten über den merkwürdigen Fall. Er war auch der einzige, der beim Herannahen der Hausfrau unbekümmert, ohne die Stimme zu dämpfen, weitersprach.
»Ich halte es für unwahrscheinlich«, erklärte er gerade gelassen, »für sehr unwahrscheinlich sogar, daß der Mann heute überhaupt anruft. Den ganzen Umständen nach ist doch als ziemlich sicher anzunehmen, daß wir diesen Mann unter den Verwandten und Erben Manhattans zu suchen haben. Als solcher wird er aber erstens gleich uns wissen, daß ihm bei seinem Anruf sofortige Verhaftung droht – unter dem Verdacht, der Mörder Manhattans zu sein; zweitens wäre schon allein seine Abwesenheit verdächtig. Sie sehen, es sind tatsächlich fast alle beteiligten Personen hier –«
»Leroy fehlt!« warf Wubbels dazwischen.
»Leroy?« Huntington hob die Schultern. »Nun ja … wir wollen es uns jedenfalls merken. Miß Evelyn fehlt auch, was aber nicht von Bedeutung ist, da wir es ja mit einem Mann zu tun haben.«
»Es kann auch eine Frau sein«, widersprach Wubbels.
»Es kann sich natürlich auch um eine verstellte weibliche Stimme handeln«, nickte der Detektiv. »Besonders am Telephon ist dies durchaus denkbar. – Übrigens fehlt auch Mr. Snyder!«
»Er muß verreist sein«, meinte Wubbels. »Ich suche ihn schon seit einigen Tagen überall vergebens.«
»Jetzt ist die Uhr eine Minute vor zwei!« rief Wilbur mit erhobener Stimme durchs ganze Zimmer.
Sogleich verstummte jedes Gespräch. Nur im Flüsterton sprachen einige besonders Redselige weiter. Es war, als fürchteten sie, durch allzu lautes Sprechen das Geräusch der Telephonklingel zu übertönen.
Doris überkam ein beklommenes Gefühl. Im letzten Augenblick hatte ihr Wilbur verraten, was heute geschehen sollte. Huntington, durch Mrs. Isatschik über den erwarteten Anruf unterrichtet, hatte Maßregeln getroffen, die für den Mann mit den Millionen verhängnisvoll werden konnten. Es war ein zweiter Telephonapparat angebracht worden, durch den Huntington mitgeteilt werden sollte, von wo aus der Anruf erfolgte. Es fragte sich nun, wie lange das Telephonamt zu dieser Feststellung brauchen würde. Es waren Vorkehrungen getroffen worden, die eine fast sofortige Feststellung ermöglichten, sofern der Anruf in nicht allzugroßer Entfernung erfolgte. Wußte der Mann mit den Millionen darüber Bescheid, so würde er eine entsprechend weit von hier gelegene Fernsprechzelle wählen. Aber – – – das war es ja eben – Leroy allein ahnte nichts von der Verschwörung … und er allein, außer ihr selbst, wußte, wo sich die Millionen Manhattans befanden … Doris fühlte sich elend bei der Vorstellung, daß man ihn vielleicht schon in zehn Minuten verhaftet hierherbringen würde. Was sollte sie tun? Wenn er der »Mann mit den Millionen« war, kam jede Warnung zu spät. Jeden Augenblick konnte ja der Anruf kommen! …
Huntington brannte sich eine Zigarette an und nahm am Fenster Aufstellung. Ein prüfender Blick in den Hof überzeugte ihn davon, daß gemäß seinen Anordnungen die Wachtmannschaft schon, eines Zeichens harrend, im großen Polizeiwagen Platz genommen hatte. Es war das erstemal, daß Huntington mit der Polizei zusammenarbeitete.
Die Uhr zeigte fünf Minuten nach zwei.
Mrs. Isatschiks Gesichtsfarbe war fahl. Ihre Hände zitterten nervös. Aller Augen hingen wie gebannt am Zeiger der Wanduhr. Sechs Minuten, sieben, acht! – Das Schweigen war drückend, die Spannung unerträglich.
Zehn Minuten nach zwei …
Wubbels hielt es nicht länger aus.
»Er denkt nicht einmal daran anzurufen, Madam!« rief er triumphierend und lachte etwas krampfhaft auf. Sein Lachen brach jäh mit einem häßlichen Laut ab. Die Telephonklingel hatte ein kurzes, zaghaftes Zeichen gegeben, um gleich darauf zu einem langanhaltenden, schrillen Läuten anzusetzen.
Wie elektrisiert waren alle aufgesprungen. Jetzt brach die nur mühsam zurückgedämmte Erregung durch.
»Um Gotteswillen!« jammerte Mrs. Isatschik. »Ich werde nichts hören können. Oh! So lassen Sie doch! Menschenskind, so lassen Sie mich doch!« Wütend schlug sie mit ihren knochigen Händen auf die feste Faust Huntingtons ein, die mit stählernem Griff den Telephonhörer umklammert und auf die Gabel herabgedrückt hielt.
»Rrr–ruhe!« rief er gebieterisch. »Wer nicht sofort ruhig ist, den lasse ich auf die Wache bringen!«
Das wirkte. Augenblicklich trat Stille ein.
Huntington gab den Hörer frei und bemächtigte sich des anderen. Gleichzeitig machte er den Polizisten im Hof ein Zeichen.
»Hier Familie Isatschik, New York«, erklärte die Hausfrau am Apparat, und ihre Stimme schwankte vor Aufregung.
»Well, Madam, haben Sie es sich nun überlegt?« ließ sich dasselbe Organ, wie gestern, vernehmen. »Sind Sie mit meinem Vorschlag einverstanden?«
Mrs. Isatschik versuchte, gemäß den Anweisungen des Detektivs zu handeln. Sie bot ein Achtel und erklärte sich nach einiger Zeit sogar zur Zahlung eines Viertels bereit. Der andere jedoch beharrte auf seiner Forderung: die Hälfte oder Verzicht!
Huntington stand mit undurchdringlicher Miene am Fenster, hielt den Hörer seines Apparates fest ans Ohr gepreßt und wartete.
Plötzlich glomm es triumphierend in seinen grauen Augen auf. Hurtig lief er zur Tür, drehte sich hier aber nochmals um.
»Zwei Minuten«, flüsterte er. »Mrs. Isatschik soll den Mann nur noch zwei Minuten lang am Apparat festhalten.« Mit diesen Worten stürzte er davon. Gleich darauf vernahm man das Geräusch des abfahrenden Polizeiwagens.
Wilbur schrieb die Worte »Den Mann zwei Minuten lang festhalten« auf einen Zettel und reichte ihn stumm der Mutter. Sie nickte krampfhaft zum Zeichen des Verständnisses.
Alle fieberten vor Spannung. Die Herren hatten ihre Taschenuhren in der Hand und verfolgten erregt das Vorrücken des Sekundenzeigers. Nur Doris zeigte keinerlei Teilnahme. Bleich und stumm lehnte sie an der Wand.
»Sehen Sie es doch ein, Sir«, flehte Mrs. Isatschik am Telephon. »Sehen Sie es doch ein –: wir können nicht so mit den Millionen um uns werfen.« Mit dem Ausdruck des Entsetzens preßte sie plötzlich die Hand auf die Sprechmuschel. »Er will nichts mehr wissen! Er macht Schluß!« stöhnte sie verzweifelt.
»Noch fünfundvierzig Sekunden!« zischte Wubbels. »Sagen Sie schnell etwas Geistreiches!«
»Was? Ja was denn nur?«
»Fragen Sie, ob er gut geschlafen hat«, riet Wubbels boshaft.
»Mein Gott! Mir fällt nichts ein. Er geht!« ächzte Mrs. Isatschik.
»Zwanzig Sekunden!« stellte Wubbels mitleidslos fest.
Mrs. Isatschik nahm die Hand wieder von der Sprechmuschel.
»Haben Sie … haben Sie …« stotterte sie. Dann platzte sie heraus: »… gut geschlafen?«
Wubbels schlug ein dröhnendes Gelächter an. Mrs. Isatschik stopfte verzweifelt ihr Taschentuch in die Sprechmuschel.
»So seien Sie doch still! Er kann es ja hören! Ha! Er fragt, was ich mit den letzten Worten eigentlich meine. Er ärgert sich … Er fährt fort zu fragen …«
»Fünf Sekunden!« Wubbels' Gesicht war knallrot vor Aufregung.
Mrs. Isatschik stieß plötzlich einen tiefen Seufzer aus. Sie ließ den Hörer fallen und sank, mehr tot als lebendig, auf ein Sofa.
»Jetzt haben sie ihn! Oh, jetzt haben sie ihn!« stammelte sie erlöst.
Wubbels sprang zum Apparat und riß den Hörer an sich.
»Hallo! Hallo!« schrie er.
»Hier Huntington!« antwortete die feste Stimme des Detektivs. »Wir haben ihn! Gerade noch im letzten Augenblick erwischt!«
»Wer? Wer ist es?«
»Das werden Sie gleich sehen! Eine Sensation!« frohlockte Huntington. »Ich bringe ihn mit. Sie werden staunen!«
Wubbels warf den Hörer wütend auf die Gabel.
»Er sagt es nicht. Diese verdammte Geheimniskrämerei der Detektive! Als wenn es etwas ausmachte …« Grollend versank er in einem tiefen Lehnsessel.