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Als Huntington am nächsten Morgen in sein Büro kam, war er so ruhig wie immer; das Gesicht zeigte eine gesunde frische Farbe; der Anzug war wunderbar gebügelt; Hemd, Kragen und Manschetten von blendender Weiße. Niemand konnte bei seinem Anblick vermuten, daß er die ganze Nacht durchwacht und dabei ohne Unterbrechung schwere ägyptische Zigaretten geraucht hatte. Erst beim Morgengrauen war er mit sich und seinen Gedanken fertig geworden, hatte alle Fenster aufgerissen, ein kaltes Bad genommen und einige Tassen starken Kaffee getrunken. Einen Augenblick war er bei einer fast unbewußt geöffneten Schublade des Schreibtisches stehen geblieben und hatte seine feinnervigen Finger über eine kleine zierliche Spritze streifen lassen. Dann schob er das Fach mit einem Ruck wieder zu.
Morphium? Huntington war seit Jahren ein geschworener Gegner dieses Rauschgiftes; wenigstens, soweit es seine Person betraf. Es gab eine Zeit – er erinnerte sich nicht gern daran –, als er gleich so vielen, denen das Beschaffen von Giften durch ihren Beruf erleichtert wurde, diesem Laster frönte Seine Abneigung datierte seit jener verhängnisvollen Nacht, als er in einer fremden Wohnung, mit fremden Juwelen in der Tasche, beinah der Polizei in die Hände lief – einzig und allein aus dem Grunde, weil er vergessen hatte, die Morphiumspritze mitzunehmen, und weil seine Geistes- und Körperkräfte plötzlich versagten.
Seitdem hatte Huntington es weit gebracht. Aus dem kleinen Juwelendieb von damals war der berühmte Detektiv und Mitinhaber der Privatdetektei »Clayvills & Huntington« geworden, ein vollendeter »Gentleman«, der keine anderen Gifte außer Nikotin und Coffein kannte. Zigaretten und Kaffee nahm er in Mengen zu sich, die jeden anderen Sterblichen schleunigst unter die Erde gebracht hätten, und diese beiden Ersatzmittel genügten ihm jetzt vollkommen, um seine erschlafften Nerven zu neuer Tätigkeit anzuregen.
In eleganter Haltung am Schreibtisch lehnend, öffnete und überflog er im Stehen die Morgenpost. Ab und zu beugte er sich vor und brachte am Rande eines Briefes eine kurze Bemerkung an. Die meisten Briefe warf er achtlos einem älteren, bebrillten Herrn auf den Tisch, und nur drei oder vier steckte er lässig in die Rocktasche; den letzten aber faltete er sorgsam zusammen und verwahrte ihn in seiner Aktenmappe.
Seine kalten Blicke streiften achtlos über die emsig arbeitenden Angestellten hinweg und blieben endlich an dem bebrillten Herrn haften, dem er einen Teil der Briefe übergeben hatte.
»Mr. Nissen«, sagte er in seiner knappen Art. »Ich habe mit Ihnen zu sprechen. Folgen Sie mir in mein Privatzimmer.«
Dienstbeflissen erhob sich jener. Er war hager – beinah dürr – und lang aufgeschossen. Seine Kleidung war schäbig, die Rockärmel ausgefranst, die Schuhe geflickt und die Absätze schief getreten. Wie ein leuchtender Stern stach von alledem seine farbige und keineswegs billige Krawatte ab.
Im anderen Zimmer angelangt, schloß Huntington sorgfältig die Tür und schob einen Riegel davor. Dann drehte er sich rasch um. Die Blicke, mit denen er seinen Angestellten musterte, waren kritisch und mißbilligend zugleich.
»Vorgestern nacht hat man dich in einem Lokal in Gesellschaft von kostspieligen Weibern gesehen«, sagte er streng. »Du hattest einen nach Maß gearbeiteten Smoking und Lackschuhe an. An deinen Fingern glitzerten drei große, echte Brillanten. Die Zeche betrug zweihundert Dollars, und du gabst der Bedienung dreißig Dollars Trinkgeld.«
Diese Worte schienen auf Mr. Nissen wie Keulenschläge zu wirken. Bei jedem neuen Satz senkte sich sein Kopf tiefer und tiefer, und seine Züge drückten Zerknirschung aus.
»Du erfährst aber auch alles«, murmelte er verlegen und lächelte etwas betreten.
Huntington hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und ging mit starken Schritten im Zimmer auf und ab.
»Damit nicht genug«, fuhr er fort, und in seiner Stimme klang es wie Verachtung, »hast du auf der Straße einen Polizeibeamten eine ›buntkarierte Nachteule‹ genannt –«
Mr. Nissen hob kampfbereit den Kopf.
»Gleich darauf habe ich mich bei ihm entschuldigt«, widersprach er eifrig, »und ihm dabei eine Zehndollarnote in die Hand gedrückt. Er schien ganz zufrieden, und ich glaube, er hätte sich zu diesem Kurs gern noch einige Male Nachteule nennen lassen. Sollte der Halunke mich dennoch bei der Polizei angezeigt haben?«
»Bei der Polizei nicht, wohl aber bei mir«, sagte Huntington finster. »Vergiß nicht, daß ich es war, Phil, der dich aus dem Dreck herausgeholt hat«, fügte er drohend hinzu. »Vor zwei Jahren klettertest du noch auf den Dächern herum und wagtest fast jede Nacht Leben und Freiheit. Ich habe dich zu meiner rechten Hand gemacht, denn du bist ein gescheiter und heller Kopf; aber Bedingung war und bleibt: entsprechend bescheidenes Auftreten. Ein Unternehmen, dessen Buchhalter durch Ausschweifungen auffällt, erregt Verdacht. Noch ein solcher Fall, und du kannst dich wieder als Fassadenkletterer betätigen. Verstanden?«
Mr. Nissen nickte schuldbewußt.
»Ich werde es bestimmt nicht wieder tun, Gerd. Verlaß dich darauf.« Er machte einen Schritt nach der Tür zu. »Sonst noch etwas?«
Huntington winkte ihn mit einer Kopfbewegung wieder heran.
»Gefahr im Anzuge«, sagte er leise. »Vermutlich wird es im Laufe der nächsten Wochen etwas stürmisch zugehen. Sei also auf der Hut!«
»Das bin ich immer«, erwiderte Nissen selbstbewußt. »Und schließlich – gefährlich waren unsere Unternehmungen schon immer. Du mußt dich etwas deutlicher ausdrücken –: was für 'ne Art von Gefahr droht uns?«
»Hearn weiß über mich Bescheid«, war die kurze Antwort.
Nissen machte ein erschrockenes Gesicht. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, als ob er sich dadurch vor der Gefahr schützen wollte, in das Verderben mit hineingerissen zu werden, das dem anderen drohte.
»Was?« platzte er heraus. »Der abgefeimte Spürhund weiß Bescheid, und du läufst hier herum, als wenn nichts geschehen wäre? Warum fliehst du nicht, und warum hat er dich nicht gleich eingelocht?« Der hagere Mann fuchtelte aufgeregt mit beiden Armen in der Luft herum; sein Gesicht war gerötet, und die Augen zwinkerten nervös.
»Reg' dich nicht unnütz auf«, beschwichtigte ihn Huntington, der sich durch Nissens Gebaren nicht im geringsten beeinflussen ließ. »Die Sachlage ist ernst, aber nicht verzweifelt. Ich habe dem Kleinen nämlich eine harte Nuß zum Knacken gegeben. Solange er Mr. Wilkins nicht entdeckt hat, bin ich einigermaßen sicher.«
»Wieso?« fragte Nissen ratlos. »Ich verstehe die Zusammenhänge nicht …«
Huntington beugte sich leicht vor, und als er mit gedämpfter Stimme weitersprach, leuchteten seine Augen im geheimen Triumph.
»Ich habe ihm weisgemacht, daß ich Mr. Wilkins kenne. Nun will er mich solange zappeln lassen, bis ich ihm Wilkins durch irgendeine Unvorsichtigkeit ans Messer liefere.«
Eine Weile starrte Nissen den Sprecher mit einem unsäglich dummen Ausdruck im Gesicht an. Dann huschte ein Schimmer des Verstehens über seine Züge, und gleich darauf begann sein schmächtiger Körper vor verhaltenem Lachen krampfhaft zu zucken.
»Ha ha ha!« brüllte er plötzlich auf und schlug sich mit der flachen Hand gegen sein emporgezogenes Bein. »Ha ha ha! Dieser Esel! Wo wir doch selbst – ha ha – schon seit einem Jahr vergeblich nach Mr. Wilkins fahnden! Das hast du wirklich fein gedreht!«
Huntington blickte ihn eine Weile stumm und vorwurfsvoll an.
»In Zukunft wirst du deine Freude gefälligst etwas geräuschloser äußern«, sagte er kühl. »Ich glaube ja nicht, daß wir unter unseren Leuten Spione haben, aber die Polizei glaubt es von sich auch nicht, und es ist doch der Fall. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Im übrigen«, ergänzte er, »sind wir zwar solange sicher, als Hearn das ihm aufgetischte Märchen nicht durchschaut oder bis er – was ich für ganz unwahrscheinlich halte – Mr. Wilkins selbst entdeckt; aber es droht noch eine andere, viel größere Gefahr.«
»Und die wäre?« fragte Nissen lachend, da er sich noch immer nicht beruhigen konnte.
»Mr. Wilkins hat wieder geschrieben«, sagte Huntington ernst. »Er ist sehr unzufrieden und droht uns mit Lösung der Geschäftsverbindung. Was das bedeutet, brauche ich dir wohl nicht erst zu erklären.«
Das schien wirklich nicht nötig. Nissens Gesicht war mit einem Schlage ernst geworden.
»Erzähle!« stieß er atemlos hervor.
Huntington kam sofort zur Sache.
»Es handelt sich um die Telegrammgeschichte«, sagte er stirnrunzelnd. »Wie du weißt, erhielten wir von Mr. Wilkins den Auftrag, das Ankommen zweier bestimmter Depeschen zu verhindern –«
»Gewiß«, unterbrach ihn sein Buchhalter. »Wir erledigten den Fall prompt, indem wir die beiden Austräger durch größere Summen bestachen und sie veranlaßten, ins Ausland zu verduften.«
Huntington nickte.
»Mord hatte hier wenig Zweck. Eine solche Lösung wäre gefährlich gewesen und hätte nur unnütz Staub aufgewirbelt. Nun zeigt es sich aber, das Mr. Wilkins damit nicht zufrieden ist. Der Fall Nr. 1, die Sache mit Tschuppiks Telegramm, ist ganz programmäßig vor sich gegangen, und Wilkins muß meiner Schätzung nach einen Gewinn von 300+000 Dollars eingeheimst haben. Der Fall Nr. 2 aber ging schief.«
»Wieso? Das Telegramm kam doch nicht an, – ich weiß es ganz genau.«
»Soweit wir die Verantwortung für den Gang der Ereignisse hatten, ging die Sache ja auch in Ordnung. Aber nun weiter! Ich beurteile die Angelegenheit so: Mr. Wilkins verhindert das Ankommen einer Depesche, wodurch ein bestimmtes Gelände in den Besitz eines Mannes übergegangen wäre, der es seinerseits nicht mehr weiterverkauft hätte. Wie es sich nachträglich herausstellte – was übrigens Wilkins zweifellos zuvor bekannt war –, befinden sich in tieferen Schichten dieses Geländes große Lagerstätten von Kupfererzen. Natürlich durfte weder Mr. Wilkins noch einer seiner Strohmänner sofort als Käufer hervortreten, da man ihn sonst verdächtigt hätte, das Ding mit den Telegrammen gedreht zu haben. Leider hielt es Wilkins, wie so oft, auch in diesem Falle nicht für nötig, mich näher einzuweihen, und daher passierte mir das Mißgeschick, daß ich die Geschichte – natürlich nur soweit sie allen bekannt werden durfte – dem Millionär Tschuppik erzählte. Der aber mutmaßte sogleich richtig. Niemand würde sich solche Umstände machen, um den Verkauf eines Geländes zu verhindern, wenn er nicht genau wüßte, daß es einen viel höheren Wert habe. Tschuppik kaufte es sofort. Dann ließ er es durch Sachverständige genau untersuchen, die Erzlager wurden gefunden, und Wilkins hatte das Nachsehen. Nun wettert und flucht er in seinem Schreiben und behauptet, wenn wir die Depeschenboten einfach getötet hätten, hätte man wohl ein großes Geschrei über die unsicheren Zustände erhoben, aber niemand hätte vermutet, daß der Mord wegen einer Depesche verübt worden sei, und kein Teufel wäre dann hinter den Zweck des Manövers gekommen.«
»Aber wir können doch nichts dafür«, fuhr Nissen auf. »Der Befehl lautete einfach: das Ankommen der Depeschen ist zu verhindern – und das haben wir besorgt.«
»Das meine ich auch, aber was nützt uns das?« Huntington strich sich ratlos mit der Hand über sein gepflegtes Haar. »Wenn Wilkins sich von uns trennt, sind wir erledigt.«
Nissen dachte eine Zeitlang nach.
»Wir haben zwei Aufgaben«, sagte er endlich entschlossen. »Hearn muß sofort und endgültig beseitigt werden, und dann – was Wilkins betrifft –«, seine Stimme senkte sich, »sind wir jetzt mehr denn je darauf angewiesen festzustellen, wer er ist. Gelingt uns das, so hat nicht mehr er uns, sondern wir haben ihn in der Hand.«
Huntington nickte zustimmend. »Das erscheint auch mir als die einzige Möglichkeit, mit einem blauen Auge davonzukommen.«
Nissen strahlte. Er setzte gerade zum Sprechen an, als er durch ein Klingelzeichen des Fernsprechers unterbrochen wurde.
Huntington trat ans Telephon: »Clayvills and Huntington. Bitte? Ja, ich bin selbst am Apparat …«
»Hier Wilkins«, meldete sich eine klare und feste Männerstimme. »Eine Aufgabe für Sie, Huntington: Morgen ab sieben Uhr abends überwachen Sie das Haus Snyders. Ich vermute allerdings, daß er von diesem Zeitpunkt an überhaupt nicht mehr gesehen werden wird; sollte er aber doch nach Hause kommen, so muß er in dem Augenblick, wo er die Wohnung betritt, erledigt werden. Haben Sie verstanden?«
»Ja«, antwortete Huntington verwirrt. »Nur der Name … Sagten Sie Snyder? Das ist aber doch Ihr Bevollmächtigter und einer Ihrer besten Leute!«
»Mr. Snyder war mein Bevollmächtigter und einer meiner besten Leute«, kam es vom anderen Ende der Leitung. »Morgen ab sieben Uhr abends ist er es nicht mehr. Sie haften mir dafür. Leben Sie wohl!«
Huntington hängte ein. Kaum aber hatte er den Hörer auf die Gabel gelegt, als er ihn auch gleich wieder hastig herunternahm. Seine Lippen umspielte ein böses Lächeln, und seine Augen blitzten haßerfüllt.
»Bitte, Amt«, sagte er mit eigentümlich zitternder Stimme. »Fräulein, stellen Sie schnellstens fest, von wo aus eben mit uns gesprochen wurde. Hundert Dollars Belohnung, wenn es Ihnen gelingt!«
Sekundenlang herrschte am anderen Ende der Leitung Schweigen.
»Huntington«, klang es plötzlich scharf und drohend zurück. »Es ist jetzt das viertemal, daß Sie zu erfahren suchen, von wo aus ich mit Ihnen spreche. Der nächste ähnliche Versuch wird auch Ihr letzter sein. Hängen Sie jetzt ein und richten Sie sich in Zukunft danach.«
Sogar der stets beherrschte Huntington verlor für einen Augenblick die Fassung und stand an allen Gliedern bebend da, die gespreizten Finger wie zur Abwehr gegen etwas Grauenhaftes nach dem Apparat gestreckt.