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Keiner von Manhattans Verwandten gab die Hoffnung auf, den Mörder zu entdecken und dadurch in den Besitz eines Millionenvermögens zu gelangen. Jeder hatte dabei sein besonderes Verfahren, und die Polizeibeamten konnten ein Lied davon singen, wieviel unnütze Arbeit ihnen in letzter Zeit das Überprüfen gänzlich unbegründeter Anzeigen verursacht hatte.
Auch Rolf Wubbels hatte sein besonderes Verfahren. Seit seinem Zusammentreffen mit Kapitän Hearn hatte es insofern eine nicht unwesentliche Änderung erfahren, als jetzt in seinen Plänen der Polizei keinerlei Rolle zugedacht war. Der Eindruck, den er von ihr gewonnen, war nicht besonders vorteilhaft gewesen.
Als Wubbels in Mrs. Isatschiks altertümlich ausgestattetem Wohnzimmer der Hausherrin gegenübersaß, fragte sich diese, worüber sie sich mehr wundern sollte – über den unvermuteten Besuch oder über die liebenswürdige Art und Weise, in der Wubbels plötzlich zu sprechen und sich zu geben wußte. Sie verhielt sich abwartend, aber der Gast schien das nicht zu bemerken. Wenn sie ihn mit einer allzu knappen Antwort bedachte, wandte er sich einfach an den in einer Zeitung blätternden Wilbur, obwohl er wissen mußte, daß dessen Entgegnung unter Umständen noch einsilbiger sein würde.
Endlich, nach einer für alle Beteiligten qualvollen halben Stunde, kam Wubbels zur Sache.
»Sehen Sie, Mrs. Isatschik«, sagte er bedächtig und machte sich dabei an seiner Zigarre zu schaffen. »Sehen Sie, Mrs. Isatschik, wir alle machen uns doch eigentlich ganz unnötigerweise Konkurrenz.«
»Wieso?« fragte sie spitz und von oben herab.
»Wieso? Nun, ich glaube, daß wir alle zusammen genug wissen, um den Mörder Manhattans festnehmen zu können. Dagegen reicht das Wissen jedes einzelnen von uns zu diesem Zweck nicht aus und wird, wie ich vermute, auch niemals ausreichen. Somit geht uns das Vermögen Manhattans verloren und wandert an die verfl… pardon, – blödsinnigen Siechenheime.«
»Was wollen Sie damit sagen?« Gespannt blickte sie bei dieser Frage in das Gesicht ihres Gegenübers.
Wubbels warf sich in die Brust.
»Ich will damit sagen, daß wir uns verbünden sollten, um mit vereinten Kräften den Mörder zu fassen und dann das Erbe unter uns aufzuteilen!«
»Ein sehr vernünftiger Gedanke«, warf Wilbur ein.
»Still, Wilbur!« herrschte ihn die Mutter an. »Das kann nicht dein Ernst sein. – Sir!« wandte sie sich hoheitsvoll an Wubbels. »Ihr Vorschlag ist für uns unannehmbar. Wilbur ist dem Verbrecher schon auf der Spur. Noch ein, zwei, höchstens drei Tage, und Wilbur hat ihn verhaftet. Ja, so ist es«, fuhr sie beim Anblick von Wubbels' spöttischem Lächeln hitzig fort: »Wilbur ist ein kluger Kopf. Im übrigen ist Ihr Vorschlag nur ein Beweis dafür, daß Sie die Aussichtslosigkeit Ihrer eigenen Bemühungen endlich eingesehen haben und nun von der Weisheit gescheiterer Menschen profitieren wollen.«
»Sie täuschen sich«, sagte Wubbels kalt. Er zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr einen Umschlag, den er mit der Aufschrift nach unten auf den Tisch legte. »Hier habe ich eine entscheidende Nachricht!« rief er und ließ die Faust auf den blauen Briefumschlag niedersausen. »Dieser Brief gibt den Mörder Manhattans in unsere Hand!«
»So?« fragte Mrs. Isatschik etwas verblüfft, doch hatte sie sich gleich wieder gefaßt. »Na gut! Aber warum wollen Sie denn dann nicht das Vermögen Manhattans allein einheimsen? Na? Sie wollen uns doch nicht etwa weismachen, daß Sie uns aus Großmut an dem Fang teilnehmen lassen wollen?«
»Nein, in der Tat nicht«, antwortete Wubbels unsicher. Er stand auf und begann langsam im Zimmer auf und ab zu gehen. »Hm … nun, ich habe jedenfalls meine guten Gründe, so zu handeln, und Sie –«
Er brach ab und horchte auf. Im Gang war Getrampel hörbar, und gleich darauf wurde die Tür heftig aufgestoßen. In sichtlicher Aufregung stürzte Mr. de Wood herein.
»Wubbels!« brüllte er, ohne die Anwesenheit der anderen zu beachten. »Kommen Sie schnell!«
»Was ist denn los?« fragte Wubbels erstaunt.
»Schnell! Der Kapitän will noch heute abend …«
Wie von einer Natter gebissen, fuhr Wubbels herum.
»Still!« zischte er zornbebend.
»Ich meinte nur …« De Wood suchte nach Worten. »Ich … ich …«
»Los!« rief Wubbels energisch. Er nahm den Hut vom Stuhl und hastete zur Tür. Plötzlich wandte er sich um: »Sie werden es bereuen, Mrs. Isatschik«, sagte er wütend. »Jetzt machen wir die Sache ganz allein! Leben Sie wohl!«
Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen, als Wilbur hastig aufsprang.
»Er hat seinen Brief vergessen!« rief er und griff nach dem Umschlag. »Ich will ihm nachlaufen!«
Gleich einer ängstlichen Henne flatterte Mrs. Isatschik auf ihren Sohn zu.
»Du bist toll!« krächzte sie empört. »Hier!« sie riß ein Blatt aus dem Umschlag und gab Wilbur das leere Kuvert. »Hier! Trage ihm das nach! Schnell! Den Brief brauchen wir selbst.«
»Das ist Betrug, dear mother!« protestierte Wilbur schwach.
Mrs. Isatschik warf ihrem Sohn flammende Blicke zu.
»Was deine Mutter tut, ist kein Betrug, auch wenn es so aussieht. Ich stehle den Brief nicht – ich annektiere ihn! Verstehst du nun?«
»Yes, dear mother, du annektierst ihn«, antwortete Wilbur ergeben.
»Nun lauf und sei gescheit!« ordnete Mrs. Isatschik mit fester Stimme an.
Wilbur rannte, als gelte es sein Leben. Er erreichte Wubbels, als jener gerade in seinen Wagen stieg. Beim Überreichen des Briefumschlags war Wilbur feuerrot im Gesicht. Es konnte sowohl auf die Anstrengung beim Laufen, als auch auf Gewissensbisse zurückzuführen sein. Er kämpfte mit dem Entschluß, Wubbels von der »Annexion« seines Briefes Mitteilung zu machen; doch die Furcht vor der Mutter siegte, und er unterließ die Mitteilung.
Dieser Entschluß Wilburs war von großer Tragweite. Hätte er gemäß seinem Charakter ehrlich gehandelt, so wären ihm und seiner Mutter viele Unannehmlichkeiten und Gefahren erspart geblieben.
Mrs. Isatschik saß hochaufgerichtet am Kaffeetisch, blickte durch ihr Lorgnon auf ein mit Schreibmaschinenzeilen bedecktes Papier und empfing ihren Sohn mit Freude und Wohlwollen.
»Du bist ein Genie, Wilbur. Ich bin stolz auf dich!« erklärte sie feierlich.
Wilbur seufzte. Er fand im Augenblick durchaus nichts Geniales an sich.
»Weißt du, was in dem Brief steht?« rief die Mutter triumphierend.
»Nein!« sagte er gedankenlos.
»So wisse es denn!« fuhr sie hochtrabend fort. »Hier steht: ›Mr. Rolf Wubbels, New York. Wir können Ihnen mitteilen, daß ein Mann, auf den Ihre Beschreibung genau paßt, sich am 27. Juni auf dem Frachtdampfer Isabella nach Carácas einschiffte. Sein Gepäck bestand aus einer eisenbeschlagenen Kiste, die laut Aussage zweier Matrosen einen eigentümlichen Geruch verbreitete. Die Isabella liegt augenblicklich im New Yorker Hafen, dürfte aber vermutlich in den nächsten Tagen wieder in See stechen. Wir hoffen, Ihre Anfrage nunmehr befriedigend beantwortet zu haben und sehen Ihrer geschätzten Überweisung von weiteren 250.– Dollars entgegen. Ihr ergebener Morton, Auskunftei.‹«
»Was bedeutet das?« rief Wilbur erstaunt.
»Das bedeutet«, sagte Mrs. Isatschik mit Nachdruck, »daß wir heute abend mit demselben Schiff wie Wubbels und de Wood abreisen. Wohin, weiß ich noch nicht. Wir haben Eile, Wilbur. Trink eine Tasse heißen Kaffee, – er wird dir gut tun.«
»Danke«, antwortete der Sohn trübselig. »Mir ist der Appetit vergangen, dear mother.«
*
Es war am Abend desselben Tages, als sich Mrs. Isatschik und Wilbur in einem einfachen Fischerboot zu dem etwa einen Kilometer vom Hafen entfernt ankernden Frachtdampfer »Isabella« hinüberrudern ließen. Nachdem Mrs. Isatschik sich überzeugt hatte, daß alle ihre Versuche, die beiden Ruderer in ein Gespräch zu verwickeln, fehlschlugen, holte sie aus einem mitgenommenen, kleinen Koffer ein Opernglas hervor und begann damit den dunklen Horizont abzusuchen. Außer den schwachen Lichtern der Isabella war nichts zu sehen.
Wilbur saß, in warme Decken gehüllt, seiner Mutter gegenüber und starrte teilnahmslos vor sich hin.
Eine geraume Weile verging in allgemeinem Schweigen. Die Stille wurde nur von regelmäßigen, kräftigen Ruderschlägen unterbrochen.
Mrs. Isatschik rückte unruhig auf ihrem Platz hin und her.
»Nicht einmal der Mond scheint heute«, meinte sie kopfschüttelnd.
»Und die Sonne auch nicht«, ergänzte Wilbur traurig.
Mrs. Isatschik seufzte.
»Ein einziger Stern ist zu sehen«, fuhr sie mißbilligend fort. »Dort, tief unten! Es kann übrigens auch ein Planet sein; vermutlich der Mars oder die Venus.«
Die beiden Ruderer kicherten.
»Es ist der Leuchtturm«, erklärte der eine trocken.
»So?« sagte sie spitz und hüllte sich in beleidigtes Schweigen.
Wilbur zog die Decken fester an sich.
»Wir hätten uns auf dieses Unternehmen nicht einlassen sollen«, murmelte er fröstelnd. »Ich glaube, es kann recht gefährlich werden.«
»Du liebtest schon immer das Ungewöhnliche, das Abenteuer, Wilbur«, belehrte ihn die Mutter. »Als kleiner Junge hast du einmal unsere Angorakatze in den Brunnen geworfen, um sie schwimmen zu lehren.«
»Ich erinnere mich«, versetzte Wilbur gedankenvoll. »Vater arbeitete mit drei anderen Männern einige Stunden daran, das arme Tier wieder herauszuholen; dann aber hat er mich zehn Minuten lang verdroschen.«
»Er verstand dich nicht, Wilbur«, antwortete die Mutter ernst. »Ah, da sind wir ja schon!«
Das Boot war bei der Isabella angelangt. Eine Strickleiter wurde herabgeworfen, und einer der Ruderer kletterte mit dem Gepäck und den Decken voraus; ihm folgte Wilbur, und endlich, ächzend und prustend, Mrs. Isatschik.
Am Deck erwartete sie der Kapitän.
Mrs. Isatschik rückte ihren schief sitzenden Hut wieder zurecht: »Unglaublich!«krächzte sie empört. »Haben Sie denn keine anständige Leiter?«
Der Kapitän grinste.
»Ich werde demnächst eine Marmortreppe legen lassen«, sagte er ironisch und klopfte gemächlich seine klobige Pfeife aus. »Oder ist Ihnen vielleicht ein Lift angenehmer?«
»Unterlassen Sie gefälligst Ihre dämlichen Bemerkungen!« fuhr sie ihn wütend an. »Also hier sind fünfhundert Dollars. Das genügt vollkommen.«
Der Kapitän schüttelte den Kopf.
»Es genügt nicht, Madam. Ich erklärte Ihnen schon vor zwei Stunden am Telephon, daß ich niemals Passagiere mit mir nehme; wenn ich es aber mal ausnahmsweise doch tue, so nur für anständiges Geld. Dreihundert Dollars pro Kopf, und nicht weniger!«
»Gut!« Mrs. Isatschik war ernstlich erzürnt. »Ich bezahle nachher.«
»Sofort, bitte!« erklärte der Kapitän sehr bestimmt.
»Was fällt Ihnen ein?« krähte Mrs. Isatschik. »Ich –«
»Ich denke, du zahlst jetzt«, sagte Wilbur gleichmütig.
»Meinst du?« Die Mutter riß ihr Handtäschchen auf, holte ein Päckchen Dollarscheine heraus und zählte sie dem Kapitän in die Hand. »So, und jetzt führen Sie uns in unsere Kabinen. Sie sind doch erster Klasse, nicht wahr?«
»Wir haben nur eine Klasse.« – Der Kapitän schritt voraus. Der Weg führte über traniges Segeltuch, zwischen teergeschwärzten Kisten und Fässern hindurch, und dann eine enge und steile Treppe hinab.
Die beiden Passagiere befanden sich jetzt in einem schmalen, von einem kleinen Öllämpchen notdürftig erhellten Raum, in dem es nach ranzigem Fett und verdorbenen Fischen roch. Ein schmieriger, halbzerfallener Tisch stand in der Ecke, daneben zwei Kisten mit hervorstehenden Nägeln. Zwei in der Luft schwebende zerrissene Hängematten ergänzten die Ausstattung.
»Was soll das?!« schrie Mrs. Isatschik, bleich vor Entrüstung.
»Das ist Ihre Kabine!« sagte der Kapitän ruhig.
Ein Matrose stapfte herein und warf das Gepäck achtlos in eine Ecke. Ehe Mrs. Isatschik Zeit zu einem neuen Wutausbruch fand, war er – und mit ihm der Kapitän – verschwunden.