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»Hier in der Gegend muß es sein«, sagte Lux tief aufatmend und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Alle standen still und warteten, bis der etwas zurückgebliebene Kapitän Hearn sie einholte. Im unklaren Schein der Laternen sah man ihn hastig heransteigen.
Er bot einen ergötzlichen Anblick. Seine kurzen Beine waren bis übers Knie mit blauen Wollstrümpfen bedeckt, die er mit je zwei großen Nadeln an der schwarzweißgestreiften Hose befestigt hatte. Eine ihm viel zu weite Windjacke umhüllte seine schmächtige Gestalt und war am Hals so hoch geschlossen, wie es die Ecken des Stehkragens gestatteten. Ein grünes Hütchen mit Gamsbart, das er vor etwa dreißig Jahren in Bayern erstanden hatte, ergänzte die Aufmachung.
»Was ist los?« fragte er etwas außer Atem.
»Mr. Hunter meint, hier irgendwo müßte es sein«, antwortete Wubbels.
»So, so …« Hearn wischte die Gläser seiner Brille mit den Fausthandschuhen klar. »War vor kurzem schon einmal hier in der Gegend. Berüchtigte Gegend … Besonders seit letzter Zeit. Hier verschwand Mr. Snyder. Und hier … Wie spät ist es jetzt, Mr. Isatschik?«
Wilbur war so gut verpackt, daß es einige Minuten dauerte, bis er die Uhr aus der Westentasche zog.
»Es ist kurz nach Mitternacht«, erklärte Huntington, bei dem ein Blick auf die Armbanduhr genügte.
»Ja, um diese Zeit geschieht es …« murmelte Hearn. »Hier geht es nämlich um: Geister, Gespenster und so … Übrigens erst, seit Mr. Snyder verschwand. Also möglicherweise sein Geist!«
»Alles Blech!« rief Wubbels unwillig. »Wie kann man nur heutzutage als gebildeter Mensch an solchen – – –« er schwieg betroffen.
Fünf langgezogene, seltsame Töne klangen durch die nächtliche Stille.
Niemand wagte, ein Wort zu sprechen.
Da! Wieder!
Die Streiflichter der Laternen ließen erkennen, daß alle gleichermaßen entsetzt waren. Doch nein, – Wilbur schien ganz ruhig zu sein.
»Ein Geist«, ächzte Lux.
»Das gibt es nicht!« zischte Wubbels.
»So kann nur ein Geist schreien«, stöhnte Mrs. Isatschik.
»Vielleicht hat er Hunger«, meinte Wilbur gleichmütig.
»Der Geist lebt nicht vom Brot, Wilbur«, belehrte ihn die Mutter, »sondern von der Wahrheit – – –«
Wieder fünf langgezogene, greuliche Töne.
»Die Wahrheit ist, daß das irgendein Schwindel ist!« rief Wubbels zornig.
Niemand widersprach. Angestrengt horchten alle.
Es vergingen drei Minuten, fünf, sechs – nichts war mehr zu hören.
Langsam wich der Bann von allen.
»Wollen wir den Geist suchen?« schlug Hearn vor, aber dieser Vorschlag wurde einstimmig abgelehnt.
»Gehen wir weiter!« entschied Huntington und wandte sich nach links.
Hearn folgte ihm sofort. Er war überzeugt, daß der Detektiv den Ort, den sie suchten, genau kannte, und rechnete mit aller Bestimmtheit damit, daß Huntington ihnen den richtigen Weg wies, da eine Irreführung das Durchsuchen der Hütte wohl hinausgeschoben, aber nicht verhindert hätte.
Schweigend stapften alle vorwärts. Nur Mrs. Isatschik ließ ab und zu einen schwachen Seufzer hören und erkundigte sich alle fünf Minuten nach dem Wohlbefinden Wilburs.
Plötzlich wuchs dicht vor ihnen aus der Dunkelheit ein schwarzes Gebäude.
»Das muß es sein!« rief Lux erleichtert. »Schnell hinein!«
»Vorsicht!« mahnte Hearn. »Es könnte lebensgefährlich sein.«
»Stimmt!« sagte Huntington. »Es ist so still hier … Es könnte eine Falle sein. Ich gehe voraus.«
»Nein, nein!« widersprach Wubbels eifrig. »Ich gehe voraus. Ich bin stärker als Sie!«
»Hier entscheidet nicht die Stärke, sondern die Gewandtheit und Klugheit«, rief Mrs. Isatschik schrill. »Wilbur und kein anderer geht voraus!«
»Ladies and gentlemen«, mischte sich jetzt Hearn ein. »Bevor wir die Hütte betreten, möchte ich eins bemerken: Sollte – was immerhin möglich ist – jetzt der Mörder Manhattans gefaßt werden, so wird sein Erbe vermutlich unter allen erbberechtigten Teilnehmern dieser Expedition aufgeteilt werden. Es ist also in dieser Hinsicht vollkommen gleichgültig, wer als erster die Hütte betritt und dadurch sein Leben aufs Spiel setzt.«
»Sooo …« machte Mrs. Isatschik. Wubbels brummte etwas Unverständliches.
»Nicht, daß ich dächte«, fuhr Hearn unbekümmert fort, »Ihr soeben bezeugter Mut könnte durch Rücksichten pekuniärer Art … Oh, durchaus nicht! Also, wer von den Herren will es als erster wagen?«
Niemand antwortete.
»Ich sehe«, sagte Hearn mit einem leisen Lächeln, »keiner will dem andern die Freude rauben, als erster den Mörder von Angesicht zu Angesicht zu erblicken. Sehr edel! Also, Mr. Huntington, Sie und ich gehen jetzt zusammen hinein. Die übrigen warten hier.«
»Sie? Sie wollen mitgehen?« fragte Huntington und maß mit geringschätzigem Blick die schmächtige Gestalt des kleinen Kapitäns.
»Ich habe einen Browning bei mir«, antwortete Hearn bescheiden und schielte liebevoll auf den blitzenden kleinen Gegenstand in seiner Rechten. »Es ist mir noch nie etwas Ernsthaftes zugestoßen, wenn ich diese Waffe in der Hand hielt.«
»Wie Sie meinen! Mir kann es ja recht sein«, entgegnete der Detektiv gleichmütig. »Also vorwärts!«
»Halt!« sagte Hearn leise. »Sie haben ja Ihren Revolver noch in der Tasche stecken! Oh! Das war ein grober Schnitzer!«
»Sie haben Recht!« Huntington zog die Waffe aus der Tasche.
»Eine Dreyse-Pistole haben Sie!« rief Hearn erstaunt. »Wie unpraktisch! Schauen Sie mal meine zierliche, kleine Waffe an –«
»Ich denke, wir haben jetzt kaum Zeit, Vorlesungen über Waffenkunde anzuhören«, knurrte Huntington wütend. »Ich gehe hinein! Sie können es ja damit halten, wie Sie wollen.«
»Nichts für ungut! Ich meinte ja nur … Natürlich gehe ich mit!« rief Hearn etwas hastig. Gleich darauf waren beide in der Hütte verschwunden.
Die Draußenstehenden vernahmen das Kreischen einer Tür und leise Tritte. Dann wurde es still.
Es waren aber noch nicht zwei Minuten vergangen, als plötzlich ein heiserer Schrei erscholl, und unmittelbar darauf Schüsse knatterten. Eins, zwei – – drei, vier, fünf – – –
»Los!« brüllte Wubbels, der sich als erster gefaßt hatte. Gefolgt von den übrigen, stürmte er vorwärts.
Die Tür war wieder verschlossen, aber das morsche Holz hielt Wubbels' wuchtigem Anprall nicht stand. Splitter flogen umher. Mit kräftigen Fußtritten vollendete Wubbels das Vernichtungswerk.
Nun standen alle im Innern der Hütte, und die zitternden Lichter der Laternen sprangen hier und dorthin, kletterten an den Wänden entlang, blieben schließlich an zwei seltsamen Gestalten haften.
In der Ecke kauerte leise stöhnend Hearn. Er hielt beide Hände an seinem Hals und schnitt ununterbrochen die fürchterlichsten Grimassen. Ihm gegenüber an der Wand lag regungslos der Detektiv Huntington. Aus einer klaffenden Kopfwunde sickerte Blut. Vor dem ziemlich hoch angebrachten Fenster stand ein Stuhl; die Scheiben des Fensters waren zertrümmert.
Wubbels kümmerte sich keinen Augenblick um die beiden Verwundeten. Wie rasend lief er zum Fenster.
»Da ist er hinaus!« brüllte er auf. »Oh, Ihr Dummköpfe! Wenn ich nur mitgegangen wäre! Nun können wir den Kerl im Gebirge suchen!«
Hearn raffte sich als erster auf. Schwankend schritt er zu Huntington und kniete neben ihm nieder. Die Bücke, mit denen er den Detektiv streifte, waren voller Mitleid.
»Fein haben Sie das gemacht«, flüsterte er so leise, daß es die übrigen nicht hören konnten. »Es fehlte nicht viel, und Sie hätten meinen Hals zur Nudel geknetet. He he … Dann schnell 'ne kleine Beule an Ihrem Köpfchen fabriziert und sich prompt wie auf Befehl hingelegt. Jetzt noch so 'n bißchen Ohnmacht markiert, und alles ist in bester Ordnung! Was, mein Freundchen?«
Hearn machte sich am Hals des Liegenden zu schaffen. Er riß ihm Kragen und Krawatte herunter und kniff ihn dabei so heftig, wie er es vermochte.
»Liegen Sie ja ganz still«, wisperte er mit einem freundlichen Grinsen. »Ein Ohnmächtiger schreit nicht. Ein Ohnmächtiger hat überhaupt nicht viel zu sagen … Das ist nun schon mal so eingerichtet in der Welt …«
Er sah rasch auf.
»Ach, Mr. Isatschik«, bat er, »sehen Sie doch zu, ob Sie nicht irgendwo einen Kübel Wasser auftreiben können! Kaltes Wasser soll bei Ohnmächtigen oft Wunder wirken.«
Wilbur fand in der Ecke einen mit Wasser gefüllten Eimer. Der Kapitän nahm ihn in Empfang und hob ihn ächzend hoch. Vorsichtig schüttete er Huntington einige Tropfen ins Gesicht. Plötzlich glitten seine Hände am nassen Eimer aus. Er kreischte laut auf, und der ganze Inhalt des Eimers ergoß sich über Huntington.
»Ich Tölpel! Ich Tölpel!« jammerte Hearn zerknirscht. »Geht man so mit einem Ohnmächtigen um?! Ach, ach … Aber siehe da – er bewegt sich!«
Der Detektiv stand langsam auf. Sein Gesicht war entstellt vor Wut.
»Danke für Ihre Bemühungen«, sagte er gezwungen, mit einem sauren Lächeln auf den bleichen Lippen. Er schüttelte sich vor Kälte und Nässe. »Ich werde mich dafür erkenntlich zeigen, Kapitän!«
»Was ist denn eigentlich los?« brauste Wubbels ungeduldig auf.
»Was los ist?« Hearn kletterte auf den Stuhl und steckte den Kopf zum Fenster hinaus. Mit seiner Taschenlaterne leuchtete er draußen den Boden ab. »Dachte ich's mir doch!« sagte er, nachdem er wieder herabgeklettert war. »Der Kerl hier scheint uns aufgelauert zu haben. Mich hat er beinahe erwürgt. Als ich schoß, stieß er Huntington in die Ecke – nicht wahr, Mr. Huntington? – sprang zum Fenster hinaus und verschwand spurlos. So spurlos, daß draußen auf der feuchten Erde nicht einmal Fußtapfen zu sehen sind.«
Man überzeugte sich von der Wahrheit dieser Feststellung; die Verblüffung aller war groß, denn so eifrig man auch suchte, – im Umkreis von hundert Metern gab es keine anderen Spuren als die von den Teilnehmern der Expedition.
»Er muß einfach durch die Luft entkommen sein!« schrie Wubbels und fluchte lästerlich.
»Er wird von unserem Eintreffen vorher Wind bekommen und sich rechtzeitig ein Flugzeug bestellt haben«, meinte Hearn sanft.
Wubbels wurde bleich vor Entrüstung.
»Sie wollen sich wohl noch über uns lustig machen?« Drohend ballte er die Fäuste. »Sie selbst sind an allem schuld! Nur dank Ihres tölpelhaften Vorgehens gelang es dem Mann zu entkommen!«
Hearn blieb die Antwort schuldig. Er stand vor dem Tisch und betrachtete beim Schein einer flackernden Kerze einige Krüge und Gläser. In der Hand hielt er ein Papier mit verschiedenen Fingerabdrücken, und seine Blicke wanderten rasch zwischen dem Papier und Geschirr hin und her.
»Das, was ich wissen wollte, weiß ich jetzt«, erklärte er plötzlich sehr bestimmt. »Manhattan war hier, einige andere Männer ebenfalls. Aber das ist nicht so wichtig. Wesentlicher ist die Feststellung, daß Wilkins nicht hier war. Ich hätte eigentlich erwartet …«
»Erlauben Sie mal«, unterbrach ihn Huntington, vor Frost zitternd. »Woher wollen Sie das wissen? Sie können doch keine Abdrücke von Wilkins haben! Soviel mir bekannt ist, fand die Polizei noch nie einen solchen.«
»Stimmt, stimmt«, nickte Hearn. »Und dennoch habe ich mir einen Abdruck von ihm verschafft. Sogar auf telegraphischem Wege. Ich erhielt ihn gerade, bevor wir die Expedition antraten. Hätte ich ihn eine halbe Stunde früher bekommen, so wüßte ich jetzt vermutlich, wer Wilkins in Wirklichkeit ist.«
»Woher denn nur? Ich verstehe nicht …«
»Woher?« Hearn lächelte. »Aus Winnipeg natürlich! Darauf hätten Sie eigentlich von selbst kommen müssen. Oder haben Sie die Geschichte schon vergessen, die uns Mr. Hunter erzählte? Die Polizei in Winnipeg ist sehr tüchtig. Ich sandte ein ausführliches Telegramm dorthin, und binnen wenigen Stunden hatten die Kriminalbeamten schon in den abgelegten Akten eines Fellhändlers eine Quittung mit Wilkins' Unterschrift und – Fingerabdruck gefunden.«
Jetzt erst schien Huntington den Ernst der Lage zu verstehen.
»Wie wollen Sie aber mit diesem Fingerabdruck Wilkins so schnell entdecken?« fragte er langsam. »Das wird noch einen Haufen Arbeit geben.«
»Ich glaube nicht«, gab Hearn leise zurück. »Ich habe nämlich zu Hause in meinem Schreibtisch elf Abdrücke von Leuten, die ich in Verdacht hatte, mit Wilkins identisch zu sein. Einer von diesen elf ist es bestimmt.«
Huntington schwieg nachdenklich.
Allgemein wurde jetzt zum Rückzug gerüstet. Wubbels und Mrs. Isatschik, schritten lebhaft streitend und schimpfend voran; in etwas ruhigerer Unterhaltung folgten Wilbur und Lux, und in einem Abstand von hundert Metern – Hearn und Huntington. Eine lange Strecke legten sie schweigend zurück, mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
»Es ist nur gut, daß es Revolver so verschiedener Konstruktion gibt«, sagte Hearn endlich sinnend.
»Wie meinen Sie das?« fragte Huntington zerstreut.
»Nun, Ihre Dreyse-Pistole zum Beispiel hat so merkwürdige Kugeln! Ich glaube, nachdem ich die Leutchen auf Ihre eigenartige Waffe aufmerksam gemacht, hätte es Ihren Kopf gekostet, wenn in meinem Leichnam solch eine komische Kugel gefunden worden wäre. Meinen Sie nicht auch?«
»Ich werde mir demnächst einen Browning anschaffen«, sagte der Detektiv finster.
»Tun Sie das! Tun Sie das!« nickte Hearn eifrig. »Aber vergessen Sie nicht, diesen Browning aus der Tasche zu nehmen, wenn Sie in einer dunklen Hütte einen Mörder festnehmen wollen. Das ist immer gut; sogar dann, wenn Sie genau wissen, daß in der Hütte auch mit den größten und stärksten Scheinwerfern kein Mörder zu finden sein wird. Die übrigen brauchen es doch nicht auch gleich zu erfahren! Zum Beispiel ich … als ich sah, daß Sie mit leeren Händen auf die Mörderjagd loszogen, wußte ich gleich, daß in der Hütte keine Seele sein würde. Die ganze Spannung des Augenblicks war weg. Ich mußte mich nur noch vor dem Mann in acht nehmen, der gleichzeitig mit mir hineinging. Das war recht einfach, zumal dieser Mann unter gar keinen Umständen auf mich schießen durfte.«
»Sie sind ein Satan!« sagte Huntington leise, aber seine Zähne knirschten vor Wut.
»Danke für die freundliche Aufklärung«, antwortete der Kapitän vergnügt. »Das habe ich wirklich noch nicht gewußt.«