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»So schreiben Sie doch!« sagte Tschuppik ungeduldig.
Doris blickte von ihrem Stenogrammheft auf, in dem sie seit beinahe fünf Minuten Blumen gemalt hatte.
»Bitte? Ich erwarte Ihr Diktat.«
»Ach so!« Der Generaldirektor strich sich mit der Hand über die Stirn. »Schreiben Sie an Sauls Brothers, London: ›Wir gelangten in den Besitz Ihres Schreibens vom …‹« Er schwieg wieder, stand auf und trat ans Fenster.
»Schreiben Sie lieber an das Polizeipräsidium, New York«, sagte er, ohne sich vom Fenster abzuwenden. »Schreiben Sie: ›Da ich Grund habe anzunehmen, daß der Urheber des Anschlags auf mein Leben jener berüchtigte Verbrecher Wilkins ist; da ich ferner befürchte, daß er es bei dem einmaligen Versuch nicht bewenden lassen wird, setze ich hiermit auf seine Festnahme oder auf seinen Kopf eine Belohnung von zwanzigtausend Dollars aus.‹ Haben Sie das? Ja? Ändern Sie: statt zwanzig – fünfzigtausend Dollars. Der Brief soll sofort durch Boten bestellt werden. Beeilen Sie sich!«
Doris verschloß den Umschlag und schritt zur Tür.
»Halt!« rief er. »Wohin rennen Sie?«
»Ich dachte, der Brief solle sofort –«
Tschuppik wandte sich langsam um. Seine Augen hatten einen eigentümlichen Glanz.
»Das hat doch keine Eile«, sagte er zerstreut. Dann fügte er unvermittelt hinzu: »Lieben Sie Operetten?«
Doris mußte sich zusammennehmen, um ihr Erstaunen über diese Frage nicht allzu deutlich zu zeigen.
»Ja, sehr«, antwortete sie ruhig.
»Ich auch.« Tschuppik lächelte plötzlich. »Es gibt so fabelhafte Operetten! Zum Beispiel – kennen Sie das? – ta ta tü – tralla – lalla –?« Er sang die Töne mit wohlklingender Stimme, aber so falsch, daß man den völligen Mangel an musikalischem Gehör sofort merkte.
Doris saß wie zu Stein erstarrt da. Ein schrecklicher Verdacht regte sich in ihr: War Tschuppik wahnsinnig geworden? Hatte der Anschlag auf sein Leben nachträglich so heftig auf ihn eingewirkt – – –
»Ta ta tü – tralla – lalla«, sang er noch einmal und – wenn möglich – noch falscher. »Nun, kennen Sie diese Melodie?« rief er ungehalten, da sie noch immer in ihrem Schweigen verharrte.
»Ja, ja … natürlich …« stotterte das Mädchen verwirrt. Was sollte sie auch sagen? Undenkbar, ihm auch nur anzudeuten, daß bei seinem Gesang von einer Melodie überhaupt nicht die Rede sein konnte.
»Jetzt singen mal Sie diese Melodie!« befahl der Generaldirektor, und seine Mienen waren so ernst wie bei der schwierigsten Verhandlung.
Doris schätzte mit ihren Blicken die Entfernung vom Stuhl bis zur Tür. Nein, Flucht war unmöglich; er würde sie mit ein – zwei Sätzen einholen, und dann – – – Sie öffnete den Mund, aber es gelang ihr nicht, auch nur einen Ton aus der trockenen Kehle zu pressen.
»Singen Sie!« rief er plötzlich wütend, und eine Zornesader schwoll an seiner Stirn.
»Man darf Wahnsinnigen nicht widersprechen«, schoß es Doris durch den Kopf. Mühsam zwang sie sich zur Ruhe. Dann sang sie. Noch nie im Leben hatte sie so schlecht gesungen.
Die zahlreichen Falten in Mr. Tschuppiks Gesicht glätteten sich.
»Sehr gut, sehr gut«, murmelte er, sichtlich befriedigt. »Aber es ist doch nicht ganz das richtige … Jetzt noch mal, mit mir zusammen!«
»Ta ta tü –« klang es im Duett.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der Prokurist Heilmann trat ein.
»Miß Elmhurst wird –« begann er. Dann schwieg er. Sein Mund blieb offen, und die Akten, die er unterm Arm hielt, fielen zu Boden.
Die Augen Mr. Tschuppiks funkelten drohend.
»Sie sind entlassen! Auf der Stelle machen Sie, daß Sie aus meinem Hause kommen! Unverschämtheit! Ohne zu klopfen –«
»Ich habe geklopft«, verteidigte sich Heilmann verzweifelt.
»So?« Ebenso rasch, wie er aufgeflammt, war der Zorn Mr. Tschuppiks auch wieder verraucht. »Was wollen Sie denn?«
»Miß Elmhurst wird am Telephon verlangt. Ich habe gesagt, daß Privatgespräche bei uns nicht –«
»Stellen Sie hierher um«, ordnete der Generaldirektor an, »und verschwinden Sie. Aber ein bißchen schnell!«
Heilmann raffte die Akten vom Boden auf und hastete davon.
»Sprechen Sie!« sagte Tschuppik barsch und deutete auf den Tischapparat.
»Hier Doris Elmhurst«, rief das Mädchen in die Sprechmuschel. »Wer? Du, Evelyn? Wie, du hast ein Telegramm bekommen? Du mußt sofort nach Boston? Aber Liebling, das geht doch nicht … Wie? Was? Du hast Eile, ich verstehe schon … Ich soll Frank Bescheid sagen? Wie kommst du auf ihn? Hallo? Hallo! Hörst du noch?« Ein sekundenlanges Zögern, dann hängte Doris den Hörer ein.
»Ich begreife das nicht«, sagte sie. »Wirklich seltsam …«
»Ist da etwas nicht in Ordnung?« fragte Tschuppik. »Wenn Sie wollen, können Sie für heute frei haben –«
»Zu liebenswürdig, Herr Generaldirektor!«
»Schon gut. Gehen Sie nur. Vergessen Sie den Brief an das Polizeipräsidium nicht. Halt!« rief er, als sie schon an der Tür war. »Aus welcher Operette stammt doch die herrliche Melodie?«
»Ich glaube …« Doris überlegte. Es war ganz gleich – diese »Melodie« konnte aus jeder Operette sein. »Ich glaube, aus der ›Dollarprinzessin‹«, sagte sie schnell und schloß die Tür hinter sich.
Mr. Tschuppik rief sie nicht zurück.
*
Es war zwei Stunden später, als Frank Leroy in Doris' Wohnung stand und stumm die aufgerissenen Schubladen, erbrochenen Schränke und die in wüstem Durcheinander im Raum herumliegenden Papiere betrachtete.
»Erzählen Sie!« wandte er sich endlich an Doris, die den Fall durchaus nicht ernst zu nehmen schien und mit offensichtlicher Sorglosigkeit auf ihrem Stuhl hin und her wippte.
Sie berichtete in knappen Worten von Evelyns Anruf.
»Als ich nach Hause kam und die Tür aufschloß«, fügte sie hinzu, »stürzte ein Mann aus der Wohnung an mir vorbei auf die Straße. Verfolgung war zwecklos. Bis ich nach unten kam, wäre er längst im Menschengewirr verschwunden gewesen. Ich sah die hier angerichtete Verwüstung und wollte sofort die Polizei benachrichtigen, aber da fiel mir die Bitte Evelyns ein, Sie zu rufen. Ich verstehe den Zweck dieser Bitte zwar nicht, aber –«
Frank Leroy runzelte nachdenklich die Stirn.
»Hatten Sie Evelyn erzählt, daß ich den Mörder kenne? Haben Sie ihn ihr genannt?«
Doris errötete leicht.
»Ich hatte Ihnen versprochen, darüber zu schweigen. Aber meiner Schwester –«
»Danke«, unterbrach er sie. »Dann liegt der Fall sehr ernst. Als Evelyn mit Ihnen per Telephon sprach, stand jedenfalls einer der Banditen mit einem Revolver neben ihr. Sie wagte nichts anderes zu sagen, als was ihr befohlen wurde. Nur den Auftrag, mich zu rufen, gab sie Ihnen von sich aus, und gleich darauf wurde das Gespräch gewaltsam unterbrochen.«
Doris sah belustigt auf.
»Fabelhaft! Ihre Theorien sind glänzend! Ihre Phantasie läßt nichts zu wünschen übrig! In der Praxis aber –«
»Ich sehe, Sie haben es gründlich aufgegeben, Detektivin zu spielen«, sagte er zufrieden. »Hier ist es aber notwendig. Passen Sie auf: Evelyn wird entführt. Damit Sie sich keine Sorgen machen und den Leuten nicht nachspüren lassen, zwingt man Ihre Schwester, Ihnen eine harmlose Erklärung für ihr Verschwinden zu geben. Dann suchen die Verbrecher hier, – werden durch Sie gestört, haben also vermutlich vergebens gesucht –«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Alles bloße Mutmaßungen!« widersprach sie und fuhr im Brustton der Überzeugung fort: »Evelyn wurde nicht entführt. Warum sollte man das tun? Sie ist doch nicht Manhattans Erbin! Na also!«
Leroy ging einige Male durchs Zimmer. Plötzlich blieb er vor ihr stehen.
»Seien Sie aufrichtig, Doris«, sagte er eindringlich, ohne zu bemerken, daß er sie beim Vornamen rief. »Sie und Ihre Schwester müssen irgend etwas – vielleicht ein Dokument – haben, das die Verbrecher bei Evelyn zu finden hofften und deshalb in der Wohnung suchten …«
»Nein«, entgegnete Doris mit Bestimmtheit. »Ich würde es Ihnen sagen, wenn es so wäre.«
»Dann – warten Sie mal – nun, es bleibt wirklich nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß Evelyn ohne Ihr Wissen –«
»Meine Schwester hatte niemals Geheimnisse vor mir«, fiel ihm Doris ins Wort.
Leroy zuckte die Achseln.
»Es ist unwahrscheinlich, gewiß. Aber … es ist die einzig denkbare Erklärung.« Einen Augenblick überlegte er, dann sagte er ruhig: »Würden Sie vielleicht gestatten, daß ich bei Ihnen ein bißchen Haussuchung halte?«
Das Mädchen war dunkelrot geworden.
»Bitte!« antwortete sie frostig. »Mir scheint, Sie haben jetzt zur Abwechslung mal uns in Verdacht, mit dem Mörder gemeinsame Sache zu machen. Gehen Sie in Ihren kühnen Schlußfolgerungen nicht doch etwas zu weit?«
Der junge Mann sah sie eine Weile vorwurfsvoll an. Am liebsten hätte er jetzt auf die Durchsuchung der Räume verzichtet. Aber die Vernunft siegte. Er war überzeugt, daß der Einbrecher hier nach etwas ganz Bestimmtem gesucht, und zwar vergeblich gesucht hatte. Folglich mußte es zu finden sein.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machte er sich an die Arbeit. Er rückte alle Möbelstücke in die Mitte des Zimmers, klopfte sie Zoll für Zoll ab und durchstach die Polster mit einer Stricknadel. Dann prüfte er ebenso sorgfältig die Wände, besichtigte den Ofen und rutschte endlich, mit einer Lupe bewaffnet, eifrig suchend auf dem Fußboden umher.
Doris saß zigarettenrauchend in einem Sessel, den Leroy auf den Speisetisch gestellt hatte, und beobachtete sein Tun mit einem spöttischen Lächeln.
»Es ist sehr unterhaltend, Sie arbeiten zu sehen«, spottete sie. »Man könnte als Überschrift dieses Schauspiels wählen: Wie Hänschen sich die Tätigkeit eines Detektivs vorstellt!«
Leroy ließ sich durch diese boshaften Bemerkungen nicht stören.
»Seien Sie vorsichtig«, warnte er und suchte unbeirrt weiter. »Wenn Sie nicht aufpassen, können Sie von Ihrem hohen Thron leicht abstürzen!«
»Keine Sorge, Sir«, lachte sie. »Ich bin … Aber was machen Sie denn da?«
Der junge Mann hatte den Rock abgeworfen und bemühte sich, rot vor Anstrengung, mit einem Stemmeisen ein Brett des Fußbodens zu lockern.
»Sind Sie denn ganz verrückt geworden!« schalt Doris. »Mein schönes Zimmer derart zu …«
Mit einem Krach löste sich das Brett. Eine dichte Staubwolke wirbelte auf.
»Ah!« rief Leroy erfreut.
Im gleichen Augenblick klopfte es.
»Herein!« sagte Doris laut.
Die Tür öffnete sich, und herein trat Wilbur Isatschik. Er strahlte übers ganze Gesicht, wurde aber beim Anblick der im Zimmer herrschenden Unordnung und insbesondere des seltsamen, von Doris für sich auserwählten Platzes sofort feierlich und ernst.
»Was …« begann er verblüfft.
Er kam nicht weiter. Wie ein Wilder sprang Leroy plötzlich auf ihn zu und stieß ihn roh gegen die Brust, daß er über die Schwelle zurücktaumelte. Dann warf er die Tür zu und drehte den Schlüssel zweimal um.
»Wie können Sie es wagen, Sir?« schrie Doris empört auf. »Was soll Mr. Isatschik von uns denken?«
Leroy fuhr sich mit der Hand über sein in Unordnung geratenes Haar.
»Das ist mir sehr gleichgültig«, sagte er gelassen. »Es muß mir auch gleichgültig sein, Miß Elmhurst! Denn sehen Sie hierher!« Er deutete auf das Loch unter dem herausgerissenen Brett. »Was würde sich Mr. Isatschik wohl gedacht haben, wenn er das da gesehen hätte?«
Doris beugte sich vor. Kaum hatte sie einen Blick in den hohlen Raum geworfen, als ihr ein Schreckensschrei entfuhr. Sie machte eine so heftige Bewegung, daß sie das Gleichgewicht verlor und mit ihrem Sessel bedenklich ins Schwanken geriet.
Leroy packte schnell zu und hielt das zitternde Mädchen in den Armen.
»Um Gotteswillen, Frank, was ist das?« flüsterte sie atemlos und starrte, ohne die Blicke abwenden zu können, in die Öffnung des Bodens.
Da lagen in säuberlich geordneten Reihen ganze Stöße von Aktien, sowie amerikanische und englische Banknoten. Doris überlegte, daß dies ein Riesenvermögen wäre, wenn – – –
»Falschgeld?« fragte sie zaghaft, ohne ihren Gedanken bewußt zu Ende zu denken. Evelyn in Verbindung mit Falschmünzern?
Leroy schüttelte den Kopf. Er bückte sich und entnahm dem Stoß eine Zehnpfundnote und eine Aktie und betrachtete beides eine Weile sehr genau.
»Nein«, erklärte er dann entschieden. »Weder das Geld noch die Aktien sind gefälscht. Das Schlimmste an der Sache aber ist, daß es sich hier um ›Baltimore and Ohio shares‹ handelt. Ich habe sogar neulich die Seriennummer, die sich auf dieser Aktie hier befindet, in einer Zeitung veröffentlicht gesehen …«
»Also gestohlen?«
»Vielleicht auch das«, meinte er unbestimmt. »Aber in der Zeitung stand damals nichts davon. Nein, es war nur ein Bericht über Mr. Manhattans Kapitalanlage.«
»Was bedeutet denn das alles?« fragte Doris ängstlich.
»Es bedeutet«, sagte Leroy sehr ernst, »daß hier, zu unseren Füßen, das gesamte Vermögen Mr. Frederick Manhattans liegt.«