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31

»Privatgespräche sind verboten«, sagte Heilmann sehr bestimmt, aber Doris achtete nicht auf seine Worte. Sie wandte ihm kurz entschlossen den Rücken und eilte in Mr. Tschuppiks Arbeitszimmer.

Der Generaldirektor sah bei ihrem Eintritt zerstreut auf.

»Nun, haben Sie etwas Neues erfahren?« fragte er, ohne sonderliche Teilnahme zu verraten.

Doris war vor seinem Schreibtisch stehengeblieben. Ihre Augen waren verweint, und das Gesicht bleich und verstört.

»Nein, nichts Neues«, sagte sie trostlos. »Ich habe nochmals bei der Polizei angerufen. Kapitän Hearn war nicht da, aber der Beamte sagte, wenn etwas Bestimmtes über Evelyns Verbleib entdeckt worden wäre, müßte es ihm bekannt sein. Also nichts … Ich weiß nicht mehr ein noch aus –«

»Ja, ja! Ich verstehe!« schnitt Tschuppik ungeduldig ab. »Natürlich, Sie machen sich Sorgen«, fuhr er nachdenklich fort. »Jeder Mensch hat Sorgen. Auch ich … Dieser Wilkins – er trachtet mir nach dem Leben. Hm … wir haben es schließlich mit demselben Feind zu tun … Die Geschichte muß irgendwie in Ordnung gebracht werden.« Plötzlich sah er rasch auf. »Ich will Ihnen helfen, Ihre Schwester zu finden. Sie haben mir ja mal das Leben gerettet. Ja, ich will Ihnen helfen; aber Sie müssen mir versprechen, auch mir dann bedingungslos einen Wunsch zu erfüllen.«

»Wenn Sie meine Schwester retten, will ich alles für Sie tun!« rief Doris erregt, und ihre Augen schimmerten hoffnungsvoll. »Alles, was Sie wollen!«

»Es ist nicht so schlimm. Es handelt sich nur um einen kleinen Gefallen. Also Sie versprechen es mir?«

Doris nickte.

»Ich tue was Sie wollen …«

Tschuppik winkte ab und griff nach dem Hörer des Fernsprechers. Etwa eine Viertelstunde lang führte er verschiedene Gespräche, von denen Doris fast nichts verstand. Nur soviel hatte sie schließlich begriffen, daß Tschuppik in zehn Minuten einen Mann erwartete, von dessen Hilfe er sich viel versprach.

»Wenn die Polizei schon nichts tun kann«, meinte Doris zweifelnd, »so wird ein einziger Privatmensch erst recht machtlos sein.«

»Warten Sie nur ab«, widersprach Tschuppik. »Der Dollar beherrscht die Welt. Die Polizei könnte viel mehr erreichen, wenn sie ihre Beamten etwas besser bezahlte. Übrigens, da fällt mir gerade ein – die Melodie war doch nicht aus der Operette ›Die Dollarprinzessin‹. Sie müssen sich geirrt haben.«

Doris starrte ihn an.

»Ich weiß nicht –« Sie brach ab und sprang auf. Von der Straße klangen wilde Schreie und wüstes Schimpfen. Auch Tschuppik war schnell aufgestanden und ans Fenster getreten.

Da sahen sie vor dem Haupteingang zu Tschuppiks Geschäftsräumen eine aufgeregte Menschenmenge und in deren Mitte den goldbetreßten Portier, der mit einem zerlumpten und übelaussehenden Strolch handgemein geworden war. Der Portier hatte den Vagabunden beim Kragen gepackt und schlug mit einem Knüppel auf ihn ein. Im nächsten Augenblick aber hatte sich das Bild vollkommen verändert.

Mit einem Ruck hatte sich der Strolch aus der Umklammerung befreit. Blitzschnell hob er das Bein und versetzte dem Portier einen Tritt in den Magen, daß der Mann klatschend mitten in eine Pfütze auf das Pflaster hinschlug. Unter Bravorufen eines Teiles der Zuschauer betrat der Vagabund die vom Portier verteidigte Festung – Mr. Tschuppiks Geschäftsräume.

Zehn, zwanzig Buchhalter, Lageristen und Lehrlinge warfen sich ihm entgegen, aber er achtete kaum darauf. Nur seine Fäuste arbeiteten, automatisch nach rechts und nach links Schläge austeilend. Die Angestellten stoben auseinander, und nur die Beherztesten hefteten sich an seine Fersen.

Ungehindert gelangte der Strolch in den ersten Stock und schritt rüstig, als wenn er hier zu Hause wäre, auf Mr. Tschuppiks Arbeitszimmer zu. Alle Angestellten hielten sich jetzt in gewisser, rücksichtsvoller Entfernung, und die Mädchen waren hinter Schränken und Büchergestellen verschwunden.

»Halt!« kreischte plötzlich Heilmann auf und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor des Generaldirektors Tür. »Nur über meine Leiche geht's da hinein!« Die Stimme klang schrill, und seine Knie zitterten.

Der Strolch fegte ihn mit der linken Hand weg, als wenn Heilmann ein Federball wäre. Dann riß er die Tür auf und trat ein.

»Sie haben mich bestellt. Was wünschen Sie?« fragte er mit tiefer Stimme und warf sich so wuchtig in einen Sessel, daß er in allen Fugen krachte.

Tschuppik ging rasch zur Tür und riegelte sie sorgfältig ab.

»Ihr Eintritt hat mir gefallen«, sagte er zufrieden. »Ich hätte dafür sorgen müssen, daß der Portier –«

»Keine unnützen Worte!« unterbrach ihn der sonderbare Besucher. »Meine Zeit kostet Geld. In jeder Minute verliere ich zehn Dollars, die ich irgendwo verdienen könnte.«

Tschuppik lachte laut auf.

»Ausgezeichnet!« rief er ironisch. »Ich verliere pro Minute tausend Dollars!«

»Das ist Ihre Sache«, knurrte der Besucher grob. »Los! Raus mit der Sprache! Was wollen Sie von mir?« Er beugte sich vor, griff mit der schmutzstarrenden Pranke in Tschuppiks volle Zigarrenschachtel, biß einer Havanna die Spitze ab und spuckte sie auf den Teppich.

»Nehmen Sie die ganze Kiste!« schrie der Generaldirektor wütend. »Ich kann die Zigarren jetzt nicht mehr brauchen!«

Der Mann schob die Zigarrenkiste ohne weiteres unter den Arm und brannte seine Havanna an.

»Nu aber dalli!« rief er mürrisch.

Tschuppik schien einzusehen, daß er am besten fuhr, wenn er dem Mann zu Willen war.

»Ich brauche zunächst eine Auskunft«, begann er vorsichtig. »Ein Mädchen namens Evelyn Elmhurst ist seit fünf Tagen verschwunden. Wir haben keine Ahnung –«

»Ich weiß, wo sie ist«, sagte der Strolch ruhig. »Die Auskunft kostet fünftausend Dollars.«

»Sie sind wohl verrückt geworden? Für eine solche Auskunft zahlt man hundert Dollars und keinen Cent mehr!«

Der Strolch sprang auf.

»Servus!« rief er barsch. »Wir haben uns nichts mehr zu sagen.« Er wandte sich zur Tür.

»Warten Sie doch! So warten Sie doch!«

»Zahlen Sie den Preis?«

»Ich zahle«, knurrte Tschuppik wütend. »Also, wo ist das Mädchen?«

Der Besucher wies stumm auf das neben Tschuppik liegende Scheckheft. Erst als der Scheck ausgefüllt war, nahm er wieder seinen Platz ein.

»Evelyn Elmhurst«, erklärte er, »wurde von – – –« Plötzlich trat ein nachdenklicher Ausdruck in seine Augen. »Halt!« sagte er langsam und ließ die Faust auf den Tisch niedersausen. »Sie haben doch kürzlich eine Belohnung auf den Kopf Wilkins' ausgesetzt?«

»Ja. Warum –«

»Hat etwa Wilkins auch bei dem Raub dieses Mädchens die Hand im Spiel?«

»Schon möglich, aber warum –«

»Hier haben Sie Ihren Scheck wieder. Das Geschäft kommt für mich nicht in Betracht.« Der Strolch erhob sich zum Gehen.

»Wieso? Warum?« fragte Tschuppik erstaunt.

»Sehr einfach! Ich arbeite nicht gegen Wilkins. 'n Abend!«

»Halt! Ich biete zehntausend Dollars!«

»Nein!«

»Zwanzigtausend!«

»Nein!«

»Zum Kuckuck – fünfzigtausend!«

Der Strolch ging langsam auf Tschuppik zu und blieb, beide Hände auf den Schreibtisch gestützt, dicht vor ihm stehen.

»Es gibt keine Summe, die mich dazu verleiten würde, mir mutwillig Wilkins' Feindschaft zuzuziehen«, sagte er eindringlich.

Doris hatte schweigend der Auseinandersetzung beigewohnt. Sie sah, wie Tschuppik jetzt hoffnungslos die Achseln zuckte, und ihre Angst wuchs, der Fremde könnte gehen, ohne zu helfen.

»Es ist doch gar nicht sicher, daß Wilkins bei dem Raub beteiligt war!« schrie sie auf und blickte den zerlumpten Mann flehend an.

Jener sah sie an, als merke er jetzt erst, daß sich noch jemand im Zimmer befand. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nichts zu machen! Und wenn Sie die Augen noch so schön verdrehen!«

Das Telephon klingelte. Tschuppik griff nach dem Hörer.

»Ja? Wie? Was sagen Sie da? So … Berichten Sie genau! Ja … ja … verstehe … ja … weiter! … ja, ja … Schluß!« Er hängte ein und sah auf.

»Ich sprach eben mit dem Polizeipräsidium«, erklärte er laut. »Wichtige Neuigkeiten! Wilkins' Verhaftung nur noch eine Frage von Stunden! Fabelhaft!« Er lachte auf.

»Machen Sie keine Zicken! Mich betrügen Sie doch nicht!« rief der Strolch ärgerlich.

Tschuppik sah ihn mit forschenden Blicken an.

»Ja, ich brauche Sie …« sagte er, mehr zu sich selbst als an den Mann gewandt, und fügte plötzlich laut hinzu: »Sie werden jetzt – sofort – mit mir zusammen das Mädchen befreien. Es muß sein.«

»Nein, ich sagte schon –«

»Sparen Sie sich die Worte!« rief Tschuppik ungeduldig. »Es geht um Sekunden, mein Lieber!«

»Ich tue es nicht!«

»Sie müssen!«

Wie die Verkörperung des Kampfes zwischen Geist und Kraft standen sich die beiden Männer gegenüber. Tschuppiks Gesicht – straff, wie aus Stein gemeißelt, um die Mundwinkel ein harter Zug, und die Blicke flammend; ihm gegenüber der Strolch, um einen Kopf größer, klobig, massiv, ein Bild erdrückender, brutaler Körperkraft.

»Es gibt kein Mittel, meinen Entschluß zu ändern!« schrie der Zerlumpte laut und war mit einem Satz bei der Tür. Im Nu hatte er den Riegel beiseite geschoben – – –

»Halt!« sagte Tschuppik ganz langsam und ganz leise. »Es gibt doch ein Mittel. Kommen Sie her!«

Unwillkürlich gehorchte der andere dem Befehl.

»Es gibt ein Mittel«, wiederholte Tschuppik, als wenn er sich besinnen müsse.

»Los! So reden Sie doch!« grollte der Strolch.

Tschuppik winkte ihm mit der Hand, er solle schweigen. Dann sagte er ebenso leise wie vordem:

»Ich bin Wilkins!«


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