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8

In den Räumen des Krankenhauses herrschte bald darauf tiefe Stille. Alles schlief, und nur die Krankenschwestern versahen geräuschlos ihren anstrengenden Dienst. Sogar Mallet, der stille Mann im Nebenzimmer, lag in Kleidern auf einer Ottomane und schnarchte laut. Er hatte einer der jungen Pflegerinnen doch den Gefallen getan und mit ihr etwa zehn Minuten lang geplaudert, – allerdings nur, um sie zu dem Versprechen zu bewegen, ihn bei einer etwaigen Änderung im Befinden seiner Schutzbefohlenen unverzüglich zu wecken.

Die Uhr schlug gerade zehn, als ein Mann mit Autobrille und Staubmantel den Portier herausklingelte, sich als Hauptmann Murner vom New Yorker Kriminalamt auswies und den Leiter des Krankenhauses in äußerst wichtiger dienstlicher Angelegenheit sofort zu sprechen verlangte.

»Hier ist ein von Kapitän Hearn gezeichneter Befehl«, erklärte er dem verwunderten Arzt, »wonach eine Ihrer Patientinnen …« – er suchte nach dem Namen – »… Evelyn Elmhurst sofort nach New York zu schaffen ist. Mein Wagen …«

»Ich bedaure sehr«, unterbrach ihn der Arzt sogleich entschieden, »aber von einer Überführung dieser Kranken kann gar nicht die Rede sein.«

Der Kriminalbeamte schien eine ähnliche Antwort erwartet zu haben.

»Es muß sein!« sagte er bestimmt. »Wie mir Mr. Hearn andeutete, geht es um die Festnahme eines der gefährlichsten Verbrecher der Staaten, und daher …«

Wieder fiel ihm der Arzt ins Wort: »Selbst wenn Sie sämtliche gefährliche Verbrecher Amerikas festnehmen wollten, wird mich das doch nicht veranlassen, eine mir anvertraute Kranke dem sicheren Tode preiszugeben.«

Der andere zuckte die Achseln.

»Ich habe keine Zeit, viele Worte zu verlieren. Sie weigern sich also?«

»Ganz entschieden!«

»Gut. So werden wir Sie zwingen.« Der Kriminalbeamte nahm einen Revolver aus der Tasche und legte ihn mit nicht mißzuverstehender Miene vor sich auf den Tisch.

Der Arzt wurde bleich.

»Sir!« rief er erschrocken. »Sie wollen …«

Ein Klopfen unterbrach ihn. Der Portier trat ein.

»Soeben wurde eine dringende Depesche für Mr. Murner abgegeben«, erklärte er.

Der Abgesandte des Kriminalamtes griff hastig nach dem Telegramm, riß es auf und überflog den Inhalt.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er dann leise und verwahrte den Revolver wieder sorgsam in der Tasche. »Eben wurde der mir erteilte Befehl widerrufen.«

Ehe der verdutzte Arzt etwas darauf erwidern konnte, war der Kriminalbeamte zur Tür hinaus, und schon eine Minute später jagte sein staubbedecktes Auto über die Landstraße.

Der Arzt schüttelte verwundert den Kopf, machte sich im übrigen aber nicht viel Gedanken über den Vorfall. Erst als er am nächsten Morgen dem in aller Frühe eingetroffenen Kapitän Hearn darüber berichtete, und es sich herausstellte, daß jener weder einen Auftrag gegeben, die Kranke nach New York zu überführen, noch einen Hauptmann Murner überhaupt kannte, gewann die Angelegenheit in seinen Augen an Bedeutung.

Stirnrunzelnd folgte er dem kleinen Mann in Evelyns Zimmer, um der ersten Vernehmung der bereits erwachten Kranken beizuwohnen. An ihrem Bett saß mit strahlenden Augen ein junges Mädchen, das Hearn sogleich dem Anstaltsleiter vorstellte.

»Das ist Doris, die Schwester Ihrer Patientin. Wir haben uns vorhin im Bummelzug kennengelernt und sehr nett unterhalten.«

Die Kranke sah noch sehr leidend aus, beantwortete aber alle Fragen Hearns bestimmt und sicher, wenn auch nur mit matter Stimme. Am Fußende des Bettes stand Mallet, der vorzüglich geschlafen zu haben schien; er sah frisch und munter aus, hielt einen Stenogrammblock in der Hand und notierte emsig alles, was gesprochen wurde.

Als Evelyn mit ihrer Erzählung zu Ende war, herrschte eine Zeitlang Schweigen.

»Unbegreiflich!« platzte der Arzt heraus. »Unbegreiflich! Was wollen die Kerle von einem armen Mädchen, das in Boston studiert und nach New York fährt, um ihre ebenfalls unbemittelte Schwester zu besuchen!«

»Ganz richtig«, nickte Hearn. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen: das war gerade der Punkt, bei dem meine Nachforschungen einsetzen mußten.«

Doris horchte auf.

»Haben Sie etwas entdeckt? Sollte es wirklich Wilkins sein, der meine Schwester verfolgt? Und warum wurde dann eigentlich der Fahrkartenkontrolleur ermordet?« fragte sie eifrig. Man merkte, daß sie fleißig die Zeitungen gelesen hatte.

»Ganz zweifellos ist Wilkins der Mann, der Ihre Schwester verfolgt«, bestätigte der Kriminalbeamte. »Und warum der Kontrolleur ermordet wurde? Das ist nicht schwer zu erklären: Er wird sich beim Betreten des Abteils erinnert haben, daß er darin eine Dame gesehen hatte, wird die beiden Verbrecher befragt und seine Neugier und sein gutes Gedächtnis mit dem Leben bezahlt haben. Übrigens«, fuhr er lebhaft fort, »ist es mir gestern abend gelungen, den Grund festzustellen, warum Wilkins Ihre Schwester in seine Gewalt bekommen wollte.«

»Was ist der Grund?« Doris sah gespannt zu ihm hinüber.

»Sie haben doch einen Onkel, Frederick Manhattan?« antwortete Hearn mit einer Gegenfrage. Als Doris stumm nickte, fügte er langsam, jedes Wort betonend, hinzu: »Dieser Frederick Manhattan hatte nämlich zur Universalerbin seines sich auf Millionen beziffernden Vermögens Ihre Schwester Evelyn eingesetzt.«

Überraschung malte sich in den Zügen beider Mädchen.

»Evelyn seine Erbin? Ich soll ihn beerben?« riefen sie wie aus einem Mund.

»Augenblick, Augenblick …« mischte sich der Arzt ins Gespräch. »Ihre Worte, Mr. Hearn, erklären ja vieles, unter anderem auch den gestrigen Versuch, meine Patientin von hier zu entführen. Aber warum dann das plötzliche Aufgeben dieses Planes? Hm … Ich kann mir das nicht anders erklären, als daß das Telegramm ganz unverfänglichen Inhalts war, und der Kerl seinen Plan nur aufgab, weil er merkte, daß er mit mir nicht fertig werden konnte …«

Hearn machte eine abwehrende Handbewegung.

»Der Beauftragte Wilkins' wäre mit Ihnen ganz bestimmt fertig geworden«, sagte er entschieden. »Nein, das erklärt sich viel einfacher: Mr. Manhattan hat nämlich sein Testament inzwischen geändert. Das hat Wilkins zweifellos gleich mir feststellen können und demzufolge jedes Interesse an Ihrer Patientin verloren.«

»Und wer … wer ist der neu eingesetzte Erbe?« erkundigte sich Doris fiebernd.

Hearn hob die Schultern.

»Das festzustellen, ist mir leider nicht möglich, denn die Notare haben bekanntlich ihr Berufsgeheimnis. Auch von dem jetzt ungültigen Testament konnte ich nur Kenntnis erlangen, weil es zu den allgemeinen, erledigten Akten gelegt wurde, an die ein bestochener Schreiber leicht herankommen kann.«

»Ich möchte nicht dieser Erbe sein«, sagte der Arzt nach kurzem Schweigen. »Soviel ich beurteilen kann, hat jener Wilkins dennoch eine Möglichkeit, das Testament einzusehen, und dem Erben drohen jedenfalls große Gefahren.«

Der Kapitän lächelte.

»Es ist gar nicht so sicher, daß es Wilkins auch diesmal gelingen wird, den Inhalt des Testaments zu erfahren. Hm … Natürlich droht dem Erben Gefahr …« Nachdenklich kaute er an seiner Oberlippe, dann fügte er ernst hinzu: »Die größte Gefahr aber droht Mr. Manhattan selbst.«


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