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Als Doris nach Hause kam, war es schon ein Uhr nachts. Evelyns ruhige Atemzüge sagten ihr, daß die Schwester fest schlief, und Doris war froh darüber, denn es wäre ihr im Augenblick schwer gefallen, Fragen zu beantworten.
Hastig entkleidete sie sich und schloß die Augen. Sie hatte nur den einen Wunsch: schlafen. Es gab zwar vieles, über das sie gern nachgegrübelt hätte, aber sie mußte die kurzen Stunden zum Ausruhen ausnutzen. Um acht Uhr würde sie dann wieder frisch und munter ins Büro gehen und konnte Mr. Tschuppik noch rechtzeitig vor der ihm drohenden Gefahr warnen. Bei diesem Gedanken wurde sie ruhiger und schlief gleich darauf ein.
Ein durchdringender Schrei weckte sie auf. Erschrocken warf sie sich im Bett herum.
»Doris!« schrie Evelyn, zitternd vor Angst. »Doris! Irgend jemand ist hier eingedrungen!«
Ein kalter Luftzug streifte Doris' Stirn. Als sie nach dem Fenster blickte, merkte sie, daß es offen stand. Ihre Finger krallten sich in die Bettdecke fest. Wie gebannt starrte sie auf einen seltsamen Schatten an dem vom Mondschein hellbeleuchteten Fußboden. Unverkennbar war es der Schatten einer Hand, die einen Revolver umklammert hielt.
»Noch ein Laut, und ich schieße!« sagte im selben Augenblick eine grollende Männerstimme.
Evelyn stöhnte leise.
»Ruhig, Schwesterchen!« beschwichtigte Doris sie. Dann sprach sie ins Dunkel hinein: »Was wollen Sie von uns? Es gibt hier wahrhaftig nichts zu holen.«
Eine Zeitlang war es still im Raume. Der Eindringling schien zu überlegen.
»Ich will von Ihnen nichts anderes«, sagte er endlich, »als daß Sie sich ganz ruhig verhalten, bis ich meiner Wege gegangen bin. Wollen Sie mir das versprechen?«
»Ja«, erwiderte Doris sofort. »Sie können unbehelligt wieder gehen.«
»Sollten Sie dennoch versuchen, die Nachbarn zu alarmieren, so gebe ich sofort Feuer«, warnte der Mann im Dunkeln. Dann sahen die Mädchen eine Männergestalt mit katzenartiger Geschmeidigkeit auf den Fenstersims springen. In geduckter Haltung, mit vorgestrecktem Revolver, wandte sich der Fremde noch einmal um.
Doris schlug das Herz bis zum Hals hinauf. Würde er doch noch schießen? Aber nein, das war undenkbar. Er mußte wissen, daß ein Schuß unfehlbar alle Hausbewohner auf die Beine bringen würde.
Sie hatte recht. Die geduckte Gestalt am Fenster drehte sich schnell um. Ein Sprung, bei dessen Anblick Doris beinah aufgeschrien hätte, – und der Mann hing mit der einen Hand an der Feuerleiter. In der nächsten Sekunde war von ihm nichts mehr zu sehen.
Minutenlang wagte keines von den Mädchen sich zu rühren. Endlich gab Doris sich einen Ruck; sie stand auf, tastete sich zum Schalter und drehte das Licht an.
In Evelyns Gesicht zuckte es krampfhaft.
»Was war das, Doris?« fragte sie mit den Tränen kämpfend. »Was wollte der Mann bei uns?«
»Das werden wir gleich haben«, antwortete die Schwester sachlich. Sie warf ihren Morgenrock über und begann das Zimmer einer eingehenden Prüfung zu unterziehen.
Alles schien unverändert. Die Schmuckschatulle im Schrank, mit den bescheidenen Ringen und Perlen, war unversehrt; die Kassette mit den Ersparnissen wies ihren vollen Inhalt auf. Kein Schloß war erbrochen, kein Gegenstand von seinem Platz gerückt.
»Ich weiß nicht«, mußte Doris nach viertelstündigem, eifrigem Suchen gestehen. »Es fehlt nichts, aber auch gar nichts. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder wagte der Einbrecher, nachdem er sich entdeckt sah, nichts mehr zu nehmen, oder aber …«
»Nun?«
»Eine andere Möglichkeit gibt es nicht«, sagte Doris etwas betreten, denn sie wollte ihre Schwester nicht noch mehr erschrecken. Die zweite Möglichkeit, daß der Eindringling einer von ihnen nach dem Leben getrachtet, erschien ihr allerdings viel wahrscheinlicher.
Evelyn gab sich mit der Erklärung zufrieden. Wortlos sah sie Doris zu, die mit großem Getöse einen Schrank vor das Fenster rückte und die Tür zum Eßzimmer sorgfältig verriegelte.
»So, Schwesterchen«, sagte Doris endlich schwer atmend. »Jetzt wollen wir uns wieder schlafen legen. Es ist bereits halb drei Uhr. Schau, es dämmert schon. Ich hätte nicht geglaubt, daß es bereits so früh hell wird.«
Es gelang ihr, die Schwester durch Gespräche über ihre Ferienpläne zu beruhigen. Die Antworten Evelyns wurden langsamer und langsamer und blieben schließlich ganz aus. Doris konnte diesmal nicht so schnell von ihren Gedanken loskommen; noch lange lag sie mit wachen Augen da und grübelte angestrengt nach. Als um sieben Uhr der Wecker klingelte, schien es ihr, als hätte sie nur eine knappe halbe Stunde geschlafen.
Müde und zerschlagen, mit blauen Rändern unter den Augen, erhob sie sich. Ihre Tätigkeit als Detektivin hatte nicht mit allzugroßen Erfolgen begonnen, das gestand sie sich ein. Alles was sie erreicht hatte, war, daß die Verbrecher nun nach ihr selbst Jagd machten.
Sie trank einige Tassen heißen schwarzen Kaffee und fühlte sich danach etwas wohler. Um halb acht Uhr drückte sie der noch schlafenden Schwester einen Kuß auf die Stirn und machte sich auf den Weg ins Büro.
Die Strecke bis zu Mr. Tschuppiks Geschäftsräumen war nicht lang, und Doris legte sie stets in etwa fünfundzwanzig Minuten zu Fuß zurück. Bei einer Wegkreuzung sah sie gewohnheitsmäßig nach der elektrischen Uhr. Zeigte diese dreiviertel acht, so kam sie in der Regel fünf Minuten vor acht im Büro an; war es dagegen später, so mußte sie sich etwas beeilen, um noch zurechtzukommen.
Doris zog die Brauen ärgerlich zusammen: Ihr allmorgendlicher Berater versagte heute. Die Uhr mußte stehengeblieben sein, denn die Zeiger standen auf dreiviertel neun. Mißmutig schritt sie weiter. Nun konnte sie erst nach fünf Minuten beim Laden des Juweliers Heine die richtige Zeit feststellen, und wenn es dann etwas spät war, würde es nicht mehr leicht sein, das Versäumte durch größere Eile wieder wettzumachen. Sie beschloß, für jeden Fall etwas rascher zu gehen.
Als sie beim Schaufenster des Juweliers haltmachte, glaubte sie ihren Augen nicht trauen zu dürfen. Sämtliche gehende Uhren im Fenster zeigten sechs Minuten vor neun.
Ein heißer Schreck durchfuhr sie. Wenn das stimmte, dann ging ja ihr eigener Wecker falsch. Sie kam um eine volle Stunde zu spät, und das würde ihr die Stellung kosten. Im nächsten Augenblick aber wandelte sich ihr Schreck in lähmendes Entsetzen. Ihr war eingefallen, was sie gestern gehört hatte: punkt neun Uhr sollte doch der Anschlag auf Mr. Tschuppiks Leben ausgeführt werden.
Doris' Blicke suchten die Umgebung ab: nirgends ein leerer Mietwagen. Ein Rennen auf Leben und Tod begann. Das Mädchen lief wie noch nie. Ungeachtet aller Verkehrshindernisse hastete sie durch die Reihen der Autos hindurch über die Straße. Sie wußte, es ging um Sekunden.
Die große Uhr vor Mr. Tschuppiks Geschäft zeigte drei Minuten vor neun, als Doris am verblüfften Portier vorbei durch die Tür hetzte. Das schadenfrohe Lächeln des Prokuristen Heilmann, mit dem er die verspätete Sekretärin empfing, verwandelte sich in ein unendlich dummes, als er sie mit flatterndem Haar, ohne anzuklopfen, in Mr. Tschuppiks Allerheiligstes rasen sah.
Der Allgewaltige hob bei ihrem Eintritt kaum den Kopf.
»Sie sind entlassen!« sagte er kühl. »Sparen Sie sich alle Beteuerungen Ihrer Unschuld. Zwecklos!«
Doris rang nach Atem.
»In Ihrem Schreibtisch steckt eine Höllenmaschine, die punkt neun Uhr explodiert!« schrie sie auf. Dann sank sie wie tot auf einen Sessel.
Mr. Tschuppik sagte kein Wort. Sein Gesicht schien nur um einen Schimmer blässer als sonst, als er seine Taschenuhr zu Rate zog, und sich sodann schnell, aber ohne Überhastung an das Öffnen der Schreibtischfächer machte.
Das junge Mädchen, das bereits, ein Stenogrammheft in der Hand, auf Doris' Platz saß, sprang kreischend auf und lief davon.
Mr. Tschuppik hatte eine kleine Kiste aus der untersten Lade hervorgeholt und bemühte sich, den Deckel aufzureißen.
»Vernagelt!« murmelte er grimmig. Es war sein erstes Wort. Dann zerrte er seine Taschenuhr hervor und drückte sie Doris in die Hand. »Sie lesen mir ab, wieviel Sekunden bis neun sind!« befahl er mit stoischer Ruhe.
»Fünfundsechzig Sekunden!« begann Doris sofort. »Sechzig … fünfundfünfzig Sekunden!« Außer ihren Worten, die sie mit hohler Stimme hervorstieß, war in der drückenden Stille nur ein leises Ticken von der Kiste her und der pfeifende Atem Tschuppiks hörbar.
Er arbeitete fieberhaft, bemüht, ein Brett der primitiven Kiste zu lockern. Vergebens. Seine Fingernägel brachen. Blut tropfte. Das Holz der Kiste färbte sich rötlich. Zum Herbeischaffen von Werkzeug war es zu spät.
»Vierzig Sekunden!« las Doris mit leicht zitternder Stimme vom Zifferblatt ab.
Tschuppik keuchte. Schweiß perlte an seiner Stirn.
»Dreißig Sekunden!« Doris' Stimme war tonlos.
»Laufen Sie!« brüllte Tschuppik plötzlich heiser auf. »Retten Sie sich, ehe es zu spät ist!«
»Fünfundzwanzig Sekunden!« sagte Doris ganz ruhig, denn sie hoffte jetzt auf nichts mehr. »Nehmen Sie dort das stählerne Lineal«, fügte sie hinzu, »vielleicht geht es damit.«
Ein Griff. Es gelang Tschuppik, das Lineal in eine Lücke des Deckels zu stoßen. Mit der ganzen Wucht seines Körpers stemmte er sich darauf. Ein Krachen. Holzsplitter flogen umher.
In der nächsten Sekunde hielt er ein merkwürdiges Gerät in der Hand. Er faßte nach einem Federmesser und schob es zwischen die Räder des Uhrwerks.
»Fünfzehn Sek– – –« begann Doris. Dann schwieg sie, denn das unheimliche Ticken der Uhr hatte aufgehört.