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Wie mit einem Zauberschlag verstummte jedes Gespräch. Prüfend ruhte das Auge Hearns auf Huntington. Der Detektiv wich dem Blicke aus, beherrschte seine Mienen aber in bewundernswerter Weise.
»Wer ist es?« ertönte mitten in die lastende Stille die feine Stimme des Polizeibeamten.
Mrs. Isatschik stand keuchend neben der regungslos verharrenden Gruppe. Ihr knochiger Finger streckte sich vor und deutete auf Huntington – – – doch nein, sie winkte ihm nur, beiseite zu treten; gleich darauf schlossen sich ihre Finger wie die Krallen eines Raubvogels um einen der Westenknöpfe de Woods.
»Das ist er!« ächzte sie. »Das ist er! Wilbur wird es beweisen!«
De Wood wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Tiefe Blässe bedeckte sein Gesicht.
»Glauben Sie ihr nicht«, murmelte er mit erstickter Stimme. »Es ist nicht wahr. Beweise? Wie kann man eine Lüge beweisen?«
»Wir werden ja sehen«, sagte Hearn ausweichend. Er wollte nicht merken lassen, daß er von der Unschuld des Verdächtigten vollkommen überzeugt war. »Mr. Isatschik«, wandte er sich an Wilbur, »wollen Sie sich bitte dazu äußern?«
»Ja, selbstverständlich«, erwiderte jener unsicher. »Wir, das heißt, meine Mutter und ich gingen auf dem Schiff auf und ab, als ihr plötzlich der Gedanke kam –«
»Du hattest diesen Gedanken, Wilbur«, berichtigte die Mutter. »Er ist wirklich zu bescheiden«, fügte sie, an alle gewandt, erläuternd hinzu.
»Ich?« Wilbur dachte einen Augenblick nach. »Nun, als uns der Gedanke kam«, erklärte er endlich, von dieser Fassung sichtlich befriedigt, »in Mr. de Woods Kabine Umschau zu halten. Wir fanden dort Beweise seiner Schuld … zum Beispiel ein blutbeflecktes Taschentuch –«
»Das hat nicht viel zu bedeuten«, warf Hearn ein.
»So? Nun, wir fanden dort auch einen an Manhattan adressierten Brief mit dem Datum des Mordtages –«
»In diesem Brief«, fiel ihm Mrs. Isatschik ins Wort, »teilt de Wood dem armen Verblichenen mit, daß er ihn um halb elf Uhr sprechen müsse, und bittet ihn, die Dienerschaft wegzuschicken und ihm selbst die Tür zu öffnen.«
»Das ist schon wichtiger. Fanden Sie noch mehr?«
»Nein«, sagte Mrs. Isatschik verdrossen. »Da kam dieser Tölpel von einem Matrosen dazu und wollte uns festnehmen.«
»Dann eilt die Sache!« rief Hearn plötzlich lebhaft. »Wie leicht könnte jemand inzwischen weitere Beweise beseitigen.«
Alles setzte sich in Bewegung. Hearns Mienen waren feierlich. Er nahm die Untersuchung in de Woods Kabine sehr genau vor, obwohl er von den gefundenen Beweisen nicht viel hielt. Ein blutiges Taschentuch und ein Brief, der nachträglich gefälscht worden sein konnte – nein, das genügte nicht, um seine Überzeugung von der Schuld Huntingtons ins Wanken zu bringen.
»Ist das Ihr Taschentuch? Haben Sie diesen Brief geschrieben?« wandte er sich, beim Suchen kurz aufblickend, an de Wood.
Jener hatte sich gefaßt.
»Nein«, erklärte er ruhig. »Weder das eine, noch das andere.«
Hearn kramte in einem Koffer.
»Mrs. Isatschik«, sagte er gelassen. »Wenn Sie das alles etwa – hm – konstruiert hätten – man nennt das Irreführung der Behörden – dann gibt's dafür Gefängnis.«
»Ich – was? Konstruiert?!« Mrs. Isatschik schnappte nach Luft. »Was fällt Ihnen ein? Sie sind wohl schon etwas zu lange auf Ihrem Posten? Ich werde –«
Der Kapitän richtete sich langsam aus seiner geduckten Stellung auf. In der Hand hielt er einen kleinen Gegenstand, den die anderen aber nicht genau sehen konnten.
»Entschuldigen Sie bitte«, bat er unterwürfig, und es klang durchaus nicht nach Ironie. »Verzeihen Sie meine Übereilung.«
Dann drehte er sich rasch um und sagte scharf:
»Mr. de Wood, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes, als des Mordes an Manhattan dringend verdächtig.«
»Also doch!« De Woods Stimme war rauh.
»Jawohl – doch!« rief Hearn beinahe wütend. »Hier in Ihrem Koffer finde ich ein Beweisstück, nach dem ich schon wochenlang suche! Das Scheckheft Mr. Manhattans!«
»Ich verstehe nicht, wie es in meinen Koffer kommt. Und schließlich will das noch nichts sagen –«
»Es sagt sehr viel! Frühmorgens nach der Mordnacht, als das Verbrechen der Presse noch nicht bekannt war, wurde nämlich bei der National City Bank ein Scheck Manhattans über sechzigtausend Dollars vorgelegt und auch anstandslos bezahlt. Erst später stellte es sich heraus, daß die Unterschrift eine geschickte Fälschung war. Nur mit großer Mühe gelang es mir, das Bekanntwerden dieser Geschichte zu verhindern.«
»Erlauben Sie mal«, mischte sich Huntington ins Gespräch, »was hofften Sie denn dadurch zu erreichen? Es bestand doch nicht die geringste Aussicht darauf, daß der Mörder noch einen weiteren Scheck vorzeigen würde, nachdem das Verbrechen allgemein bekannt geworden war.«
»Doch, diese Aussicht bestand. Der Scheck mit der gefälschten Unterschrift trug die Nr. 12 964. Der letzte echte, bei der Bank vorgelegte hatte die Nr. 12 961. War die Fälschung des Schecks Nr. 64 nicht erkannt worden, so konnte der Mörder mit ziemlicher Sicherheit auf die Bezahlung der zwei Schecks mit den dazwischenliegenden Nummern rechnen.«
»Und wenn Sie zehnmal recht haben, so bin ich dennoch unschuldig!« schrie de Wood verzweifelt auf. »Ich wußte nichts von diesem Scheckheft, und ich kann es mir nicht erklären, wie es in meinen Koffer kam.«
Hearn zuckte die Achseln und gab zweien seiner Leute einen Wink, den Verhafteten abzuführen.
»Sagen Sie mal, Mr. Isatschik«, erkundigte er sich bei Wilbur. »Wie kamen Sie denn eigentlich auf den Gedanken, daß in de Woods Koffer derartige Dinge verborgen sein konnten?«
»Als ich mit meiner Mutter hier vorbeiging«, erklärte der junge Mann bereitwillig, »sahen wir nämlich –«
»Wir sahen eigentlich gar nichts«, unterbrach ihn die Mutter rasch. »Der Gedanke kam Wilbur wie eine Erleuchtung von oben –«
»Was sahen Sie?« fragte Hearn Wilbur, ohne sich um die Worte Mrs. Isatschiks zu kümmern.
»Nichts«, antwortete der Sohn mit einem scheuen Seitenblick auf die Mutter.
»Aber Sie sagten doch eben, Sie hätten etwas gesehen?« forschte der Kriminalbeamte hartnäckig.
»Quälen Sie Wilbur nicht mit Ihren neugierigen Fragen!« begehrte Mrs. Isatschik zornig auf. »Wir haben nichts gesehen! Nichts! Schluß!«
Hearn mußte sich zufrieden geben. Schließlich war es ja auch nicht so wichtig, dachte er. Mrs. Isatschik hatte keinerlei Grund, ihm etwas Wesentliches vorzuenthalten.
Hierin irrte Hearn. Manhattans Millionen waren für Mrs. Isatschik ein durchaus hinreichender Grund. Diese Millionen, den Preis für die Entdeckung des Mörders, fürchtete sie sich entgehen zu lassen, wenn sie verriet, daß sie und Wilbur beobachtet hatten, wie Huntington aus der Kabine de Woods geschlichen kam. Sie war überzeugt davon, daß er dort nach Beweisen für die Schuld de Woods gesucht hatte, und fürchtete, daß er ebenfalls Ansprüche auf das Erbe stellen würde, sobald sie zugab, ihn zuerst in der Kabine gesehen zu haben.
*
Es war bereits später Abend, als die Isabella wieder im New Yorker Hafen einlief. De Wood wurde ins Untersuchungsgefängnis gebracht, alle anderen Passagiere, sowie auch die Mannschaft des Dampfers, genau verhört und dann freigelassen.
Irgendwo schlug eine Uhr eins, als Hearn sich endlich auf den Heimweg machte. Wie stets, wenn er keine Eile hatte, ging er zu Fuß, und als ihm an einer Straßenecke Huntington begegnete, wußte er sofort, daß jener ihm hier aufgelauert hatte.
Unwillkürlich senkte sich die Hand des Kapitäns in die Tasche. Die Berührung mit dem kühlen Lauf des Revolvers wirkte beruhigend auf ihn.
»Nun, Kapitän«, sagte Huntington mit leiser Ironie, »sind Sie immer noch davon überzeugt, daß ich der Mörder Manhattans bin?«
»Leider, leider«, bestätigte Hearn traurig. »Wenigstens haben Sie seinen – humm – Stellvertreter gemordet. Das steht fest.«
»Nanu? Und da verhaften Sie einen Unschuldigen?« Huntington schien verwundert. »Wenn man bedenkt, daß dadurch den Isatschiks das Erbe zufallen wird …«
»Das ist nicht so wichtig. Manhattan lebt ja und wird sein Geld bald zurückfordern, denke ich. Es ist gleichgültig, wem es inzwischen gehört –«
»Manhattan ist krank«, sagte Huntington lauernd. »Ich glaube, er stirbt bald.«
»Ich will es nicht hoffen … Ihre einzige Hoffnung – eine Stunde – Sie wissen schon – – –«
»Reden Sie kein Blech!« knurrte Huntington, dem diese Mahnung doch etwas Unruhe bereitete. »Sie werden Manhattan nie finden – weder lebendig, noch tot. Und Sie werden nie beweisen können, daß nicht er es war, der mit zerfressenem Gesicht in ›Manhattanhouse‹ still da lag.«
Hearn schien auf die Worte des Detektivs kaum zu achten. Nachdenklich starrte er vor sich hin.
»Es ist doch merkwürdig, was für Sachen bei reichen Leuten vorkommen«, meinte er unvermittelt. »Zum Beispiel – dieser Manhattan! Ich fand da bei ihm in der Wohnung eine zahnärztliche Rechnung. Können Sie sich das vorstellen –: er hat sich noch kurz vor seinem – hm – Tode zwei Plomben aus Platin einsetzen lassen.«
Huntington lächelte spöttisch und herablassend.
»Wenn er gewußt hätte, was ihm bevorsteht, – ich glaube, er hätte gewöhnliche Goldplomben gewählt«, sagte er ironisch.
»Schon möglich, schon möglich«, nickte Hearn. Dann fuhr er fort, und seine Stimme klang wehmütig: »Es gibt in New York Millionen von Menschen, die sich mit Amalgam und anderen billigen Plomben begnügen müssen. Wie selbstsüchtig von so einem reichen Manne, sich Plomben aus Platin machen zu lassen, wo andere sich nicht einmal goldene leisten können. Ich glaube, mein angeborenes Feingefühl würde mir so etwas nie gestatten –«
»Vermutlich würde Ihr Geldbeutel es nicht gestatten«, sagte Huntington grob. »Auf Wiedersehen! Suchen Sie sich für Ihre sozialpolitischen Ideen anderweitig Zuhörer.« Er wandte sich ab und wollte davongehen.
Hearn hielt ihn zurück.
»Aber Mr. Huntington!« rief er vorwurfsvoll. »Wie kann man nur so unhöflich sein! Na, wie Sie wünschen – ich will Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, obwohl das Gespräch über Platin doch eigentlich recht spannend ist.« Er nahm seinen Hut ab und betrachtete ihn eine Weile im Scheine der hellen Bogenlampen. »Diese vielen Flecken«, murmelte er mißbilligend und wischte ein paarmal mit dem Rockärmel über den Filz. »Sie sind nicht wegzubringen! Früher waren die Erzeugnisse dauerhafter. Ich trage diesen Hut erst acht Jahre, und wonach sieht er aus? Dagegen hätten Sie den Hut meines Vaters sehen sollen –«
»Ich habe wirklich keine Zeit«, unterbrach ihn der Detektiv wütend.
»Oh, entschuldigen Sie! Ich gehe ja schon …« Hearn setzte den Hut wieder auf. »Wovon sprachen wir doch gerade? Von Platin? Ja, stellen Sie sich mal vor, unser Gerichtschemiker Dr. Ellis sagte mir neulich, daß Platin eines der wenigen Metalle sei, auf das Trichloressigsäure nicht zersetzend wirke. Was sagen Sie dazu?«
Huntington, schon im Gehen begriffen, drehte sich langsam um.
»Sie meinen, da man im Munde des in ›Manhattanhouse‹ Ermordeten keine Platinzähne gefunden hat, ließe sich dadurch beweisen, daß es nicht Manhattan sei?« fragte er leise.
»Aber das ist ja großartig! Daran habe ich noch gar nicht gedacht!« rief der Kapitän erfreut und rieb sich vergnügt die Hände.
»Lassen Sie doch das Komödienspiel«, knurrte Huntington. Das nervöse Zucken in seinem Gesicht verriet, wie schwer es ihm fiel, seine gewohnte Selbstbeherrschung zu wahren. Seine Hand zitterte merklich, als er ein Zigarettenetui aus der Tasche zog.
»Rauchen Sie?« fragte er und hielt es dem Kapitän hin.
Hearn hüstelte.
»Ja, leider. Ich rauche aber nur Zigarren«. Er kramte in seinen Taschen und entnahm einer abgegriffenen Ledertasche eine schwarze Brasil.
Huntington gab ihm mit einem ironischen Lächeln Feuer.
»Sie fürchten wohl, ich würde Ihnen eine vergiftete Zigarette anbieten?« meinte er spöttisch.
»Vielleicht. Wer kann es wissen? Auch das soll ja vorkommen.« Hearn gähnte. »Gute Nacht, Mr. Huntington! Sie entschuldigen schon, aber ich bin müde und muß heute noch ein bißchen arbeiten.« Mit diesen Worten schloß er die Haustür auf.
Huntington stand da, als wollte er noch etwas sagen. Er schien es sich jedoch anders überlegt zu haben und ging mit kurzem Gruß eilig davon.
Hearn schritt langsam, mit dünner Stimme ein Liedchen summend, die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Als er das Vorzimmer betrat und Licht machte, fiel sein erster Blick auf ein kleines Seidenäffchen, das in der Ecke auf dem Teppich saß und schlaftrunken mit den Äuglein zwinkerte.
Der Kriminalbeamte legte seine Zigarre vorsichtig auf den Kaminsims und hockte sich neben dem Tierchen nieder.
»Was ist denn los, Sambi?« erkundigte er sich besorgt und streichelte über das weiche Fell. »Warum bist du nicht im warmen Zimmer? Ach so, weil die Tür geschlossen ist! Da kannst du nicht wieder 'rein … Wie böse doch die Menschen sind, Sambi, nicht wahr? Wenn schon ein Einbrecher kommt und die Sachen deines Herrchens untersucht – der liebe Gott allein weiß, was sie bei mir suchen –, so sollte er beim Weggehen doch daran denken, daß Sambi lieber im Wohnzimmer in seinem warmen Bettchen schläft als hier draußen in der Zugluft. Außerdem ist diese Rücksichtslosigkeit auch töricht. Sehr töricht, Sambi! Ich glaube, der Einbrecher würde dich nicht hier draußen gelassen haben, wenn er gewußt hätte, daß ich dadurch sofort von seinem Besuch Wind bekomme.«
Leise seufzend erhob er sich.
»Bleib hier, Sambi«, warnte er, als das Äffchen ihm zur Wohnzimmertür folgen wollte. »Zuweilen hinterlassen böse Einbrecher Selbstschüsse, die losgehen, wenn man die Tür öffnet. Wie leicht könnte dich solch ein Schuß verwunden oder gar töten.«
Hearn nahm einen Schirm aus dem Ständer und drückte damit vorsichtig auf die Türklinke, wobei er sich nach Möglichkeit seitlich hielt. Die Tür ging knarrend auf, aber nichts Außergewöhnliches geschah. Der Kriminalbeamte knipste seine Taschenlaterne an und leuchtete sorgfältig den neben der Tür angebrachten Lichtschalter ab.
»Auch hier ist alles in bester Ordnung«, murmelte er beinah enttäuscht und brannte das elektrische Licht an.
Er blieb an der Türschwelle stehen und blickte prüfend um sich. Alles im Zimmer war in der ursprünglichen Ordnung; nicht das geringste ließ auf einen Einbruch schließen.
»Hm … ein außerordentlich ernster Fall«, brummte Hearn kopfschüttelnd. Er bückte sich und hob den zu seinen Füßen herumspringenden Affen auf den Arm. »Sambi, Sambi, ich glaube, es ist eine gefährliche Geschichte, in die wir da hineingeraten sind.« Er stand still und dachte nach. Plötzlich löschte er das Licht wieder aus und trat schnell ans Fenster. Auf der Straße, in einem Torbogen, erblickte er eine nur undeutlich sichtbare dunkle Männergestalt.
»Siehst du, Sambi«, plauderte Hearn weiter, aber seine Stimme klang jetzt besorgt, »siehst du, da steht er. Er wartet darauf, daß uns etwas geschieht. Aber was denn nur, Sambi? Hast du eine Ahnung? Hm … ich auch nicht. Fatal, äußerst fatal!«
Der Mann im Torbogen lugte behutsam hervor. Er hatte einen langen Mantel an, und sein Kopf war mit einer Sportmütze bedeckt. Alles war dunkel an ihm, nur die Hose schimmerte hell. Hearn erinnerte sich, daß Huntington heute im Tennisdreß war.
Plötzlich warf er sich mit einem Ruck zurück. Im nächsten Augenblick hatte er wieder Licht gemacht.
»Hörst du, Sambi?« rief er erschrocken. »Irgendwo zischt es!«
Jetzt entwickelte Hearn eine fieberhafte Tätigkeit. Wie ein Irrsinniger rannte er im Zimmer herum, riß Schubladen, Kredenzen und Schranktüren auf und kroch auf allen vieren unter Tische, Sessel und Sofas. Ab und zu unterbrach er sein Suchen für einen Augenblick und horchte angestrengt. Da war es wieder –: eine leises, kaum hörbares Zischen.
Hearns schmale Wangen waren gerötet, sein bester schwarzer Anzug staubig und schmutzig. Immer aufgeregter und eifriger wurde das Suchen. Sein Atem ging pfeifend, und auf der Stirn perlte Schweiß.
Das Seidenäffchen sprang indessen lustig im Zimmer herum und schien am Tun seines Herrn lebhaften Anteil zu nehmen. Jetzt war es eifrig bemüht, eine leere Zigarrenkiste in den Ofen zu verstauen, was ihm jedoch durchaus nicht gelingen wollte.
Durch das Klappen der Ofentür aufmerksam geworden, blickte Hearn auf. Er stutzte. Blitzartig durchzuckte ihn ein Gedanke: der Nachahmungstrieb der Affen! Sicherlich tat das Tierchen nichts anderes, als was es vor kurzem beim Einbrecher beobachtet hatte.
Mit einem Satz war Hearn beim Ofen. Sekundenlang starrte er in das Ofenloch, dann rannte er plötzlich zum Telephon. Die Verbindung mit Dr. Ellis, dem Gerichtschemiker, war schnell hergestellt.
»Dr. Ellis am Apparat?« rief der Kapitän aufgeregt. »Hier ist Hearn. Kommen Sie schnell! Bei mir im Ofen steckt eine Art Geschoß, mit einem Ventil daran. Das Ding zischt unaufhörlich. Vielleicht Gas? Hat aber keine Farbe! Auch keinen Geruch. Ich nehme an –«
Da unterbrach ihn aber auch schon die Befehlsstimme des Doktors: »Drehen Sie sofort das Ventil zu! Alle Fenster auf! Verlassen Sie gleich den Raum! Ich bin in einigen Minuten bei Ihnen.«
Hearn warf den Hörer hastig auf die Gabel, rannte zum Ofen und drehte das Ventil des »Geschosses« zu; dann riß er sämtliche Fenster auf, packte sein Äffchen und lief ins Vorzimmer. Nun war er wieder ruhig. Er nahm seine noch immer glimmende Zigarre vom Kaminsims, setzte sich behaglich an das offene Fenster und wartete auf die Ankunft des Gerichtschemikers.
Nach etwa zehn Minuten klingelte es.
»Herein!« rief der Kapitän heiter und paffte in kurzen Zügen.
Dr. Ellis hatte die Tür noch nicht hinter sich geschlossen, als er schon losbrüllte: »Sie sind wohl verrückt! Werfen Sie Ihre Zigarre gefälligst zum Fenster 'raus!«
»Warum?« fragte Hearn harmlos und betrachtete liebevoll seinen Glimmstengel.
Der Doktor sprang auf ihn zu, riß ihm die Zigarre aus der Hand und beförderte sie hinaus.
»Ich habe keine Lust, mit Ihnen und Ihrer Bude in die Luft zu gehen!« rief er zornig. Dann fügte er etwas ruhiger hinzu: »Sie scheinen nicht zu wissen, daß viele Gase nicht nur giftig wirken, sondern auch die wenig löbliche Eigenschaft haben, ziemlich heftig zu explodieren, wenn man in ihrer Nähe mit Feuer herumspielt.«
Der Kapitän schnitt eine bedauernde Grimasse hinter seiner Zigarre her.
»Kostet zehn Cents«, stellte er fest.
»Der Teufel soll sie weiterrauchen!« brummte der Chemiker wütend. – »So, nun wollen wir uns mal die Geschichte näher besehen. Hoffentlich haben Sie genügend gelüftet?«
Hearn nickte. Dann führte er Mr. Ellis in das Wohnzimmer und wies wortlos nach dem Ofenloch. Im Nu hatte der Doktor einen länglichen, schwarzen, ziemlich schweren Gegenstand aus der Öffnung hervorgezerrt. Ein sekundenlanges Zögern; dann hastete er damit ins Vorzimmer zurück und warf die Tür hinter sich zu. Eine Weile hantierte er schweigend daran herum. Als er aufblickte, waren seine Mienen sehr ernst.
»Eine sogenannte Bombe«, erklärte er. »Es ist dies ein ziemlich dickwandiges Stahlgefäß, das in der Regel hochkomprimiertes Gas enthält.« Er öffnete vorsichtig das Ventil, worauf wiederum ein leises Zischen hörbar wurde. Hastig drehte er das Ventil wieder zu. »Farb- und geruchlos«, meinte er. »Ich kann jetzt natürlich nicht feststellen, was für ein Gas es ist, aber eine genaue Untersuchung im Laboratorium wird … Halt! Nanu? Was ist denn das?«
Doktor Ellis bückte sich rasch und hob einen schmalen Papierstreifen auf.
»Zum Donnerwetter!« polterte er plötzlich los. »Solch eine Frechheit ist mir in meiner Praxis doch noch nicht begegnet! Der Verbrecher hat es nicht einmal für nötig gehalten, die Etikette mit der Fabrikmarke und der Bezeichnung des Gases von der Bombe zu entfernen. Sie werden diesmal ein leichtes Arbeiten haben, Kapitän!«
Hearn betrachtete mit schräg gehaltenem Kopf den kleinen Zettel.
»Können Sie mir Näheres über die Wirkung dieses Gases mitteilen?« erkundigte er sich nach einer Weile. »Es ist wohl sehr giftig?«
Dr. Ellis schüttelte den Kopf.
»Das bestimmt nicht. Es ist Methan, eine in dieser Beziehung relativ harmlose Verbindung. Es gibt jedenfalls eine große Anzahl von Gasen, die ganz erheblich giftiger wirken.«
Der Kapitän war betroffen.
»Dann verstehe ich nicht …« murmelte er bedrückt. »Ich dachte, es müßte eines der giftigsten Gase sein … Hm … Vielleicht wählte aber der Verbrecher gerade dieses wegen seiner Farb- und Geruchlosigkeit.«
»Sie haben mich, wie mir scheint, nicht ganz verstanden«, fiel ihm der Chemiker ins Wort. »Methan ist zwar verhältnismäßig ungiftig, um so gefährlicher aber in einer anderen Beziehung.«
»Explosiv?« fragte der andere leise.
Ellis nickte bedeutungsvoll.
»Sie werden doch sicherlich schon etwas von ›schlagenden Wettern‹ in Gruben und Bergwerken gehört haben, Kapitän? Nun, diese furchtbaren Explosionen, die oft Hunderte von Menschenleben vernichten, werden durch Entzündung eines Gemisches von Methangas und Luft verursacht. Sie können wirklich von Glück sagen, daß durch Ihre brennende Zigarre keine Explosion hervorgerufen worden ist. Scheinbar war aus der Bombe noch nicht genügend Gas ausgeströmt.«
Hearn verstand plötzlich.
»Ich hatte meine Zigarre hier im Vorzimmer gelassen«, sagte er zaghaft.
»So? Na!« Dr. Ellis überlegte. »Der Verbrecher hat vermutlich damit gerechnet, daß Sie entweder mit einer brennenden Zigarre das Zimmer betreten oder sich nachher am Schreibtisch eine anzünden würden. Sie hätten dann auf einem Pulverfaß gesessen.« Aus den Worten des Doktors sprach ein grimmiger Humor. »Unweigerlich wäre dann die Katastrophe eingetreten, und wir hätten Sie stückweise unter den Trümmern des Hauses hervorsuchen können.«
Hearn hatte sich langsam von seinem Schrecken erholt. Seine Antwort klang gefaßt.
»Ein grauenhafter Plan!« stellte er mit finsteren Mienen fest. »Und wenn man bedenkt, daß der Verbrecher mir selbst Feuer reichte … Na ja …«
Dr. Ellis wollte wissen, was der Kapitän mit diesen Worten meinte, doch antwortete jener unbestimmt und ausweichend. Hearn konnte sehr hartnäckig sein. Er war jetzt entschlossener denn je, Huntington nicht zu verraten und den Kampf mit ihm weiterzuführen.