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Iwan Gontscharow: Oblomow
Die Gesetze des physischen Lebens sind fast immer die gleichen wie die der Literatur. Wenn wir einem Dinge ganz nahe stehen, von ihm geradezu beherrscht sind und es nicht von einem erhöhten übersichtlichem Standpunkte übersehen, so pflegen wir es nicht zu bemerken. Wir schauen nicht darüber hinweg, aber wir gewöhnen uns dermaßen daran, daß einer, der es uns begreiflich macht, denselben Eindruck in uns hervorruft, wie ein Entdecker, der fernliegende bisher unsichtbare Dinge an uns herangebracht. In der Literatur sind das jene ganz einfachen und natürlichen Gesetze, die unser Schicksal vorwärts- oder zurückbewegen, ohne daß wir ihrer bewußt würden, und deren Wirkungen wir dann gewöhnlich äußerlichen und geringfügigen Ereignissen zuschreiben, die nichts anderes sind als Folgeerscheinungen.
Stendhal hat das Unterirdische und Geheime dieser Gefühlsprozesse einmal in einem sehr feinen Beispiel klargelegt, als er von der Liebe sprach. Die Plötzlichkeit ihres Entstehens verglich er mit jenem eigenartigen Prozeß, der in den Salinen vor sich geht, wenn man einen Gegenstand, z. B. einen Ast, mit vielen Blüten und Blättern, ins salzgesättigte Wasser legt und mit einem Male Kristalle an ihm bemerkt, die nicht augenfällig gewachsen sind, sondern plötzlich nach einer gewissen Spanne Zeit aufschossen. Damit wollte er darlegen, daß keine großen Geschehnisse notwendig seien, sondern daß ein geringstes Minimum, das sich einem bestimmten aufgehäuften Quantum hinzufügt, sofort eine tiefgreifende Veränderung hervorrufen kann.
Die These, die dem mir vorliegenden Roman – ich will von Iwan Gontscharow's Oblomow sprechen, von dem jetzt die erste vollständige Übersetzung im Wiener Verlag erschienen ist – zu Grunde liegt, hat viele, vielleicht sogar die meisten Romanciers der letzten Jahrzehnte beschäftigt. Es handelt sich um einen Menschen, der untergeht, verflacht, versandet und stirbt. Dafür haben die anderen Dichter eine Fülle von Motiven gefunden, richtige und unrichtige, langsam wirkende und plötzliche, aber stets waren es bestimmte tragische Komplikationen und jäh eintretende Ereignisse, welche die Kraft des Menschen zerknickten und untergruben. Alle menschlichen Leidenschaften boten das Material zu diesen psychischen Vernichtungskatastrophen, und so entfernte und komplizierte Triebkräfte wurden verwertet, daß die Möglichkeit fernzuliegen schien, hier noch einen neuen Typ zu finden.
Das ist nun Gontscharow mit seinem Buche gelungen, und sein Oblomow ist wohl nicht nur der einfachste Fall, sondern auch der verbreitetste für dieses moralische und allgemein menschliche Versumpfen. Sein Held ist träge – das ist alles. Er verschläft den halben Tag, geht nicht mehr aus, bricht jeden Verkehr ab und verliert nach und nach jedes Interesse an der Außenwelt. Die Faulheit ist die Katastrophe seines Lebens; es kommen keine Ereignisse, die ihn zerbrechen und ermatten, im Gegenteil, nur die Kleinigkeiten sind es, die ihm schwierigfallen und ihn schwächen. Einen Brief zu schreiben bedeutet für ihn eine Tat, um welche man lange Tage ängstlich herumgeht, um sie schließlich zu vergessen; das furchtbarste Geschehnis, das seine Seele zerwühlt, ist der Gedanke an das unausweichliche Verlassen der alten Wohnung, um eine neue zu suchen.
So ist seine Faulheit; damit ist aber noch nicht der vollständige Typus Oblomows gegeben. Noch immer ist ein weiter Spielraum zwischen Gut und Böse dem Dichter anheimgestellt. Ein paar verdunkelnde Striche – und er ist ein Tier, das zwecklos vegetiert, frißt und trinkt und sich nicht einmal vermehrt, weil es dazu zu träge ist. Und ein paar vertiefende Motivationen – und Oblomow wäre ein seltsamer Philosoph, ein Stoiker, der in der »αταραξια« des Weisen lebt, fernab vom neidischen und gierigen Menschengezücht, das er verachtet. Aber Oblomow ist keines von beiden: er ist im Grunde seiner Seele ein Dichter. In seinen wachen Träumen ist er der tätigste aller Menschen, ein Heros der Weltgeschichte, der Welten zertrümmert und neue erstehen läßt; aber er träumt und träumt und vergißt zu leben, er glaubt zu handeln und liegt untätig, eingehüllt in seinen alten Schlafrock, auf dem weichen Sofa in dem dumpfen Zimmer, dessen Fenster verschmiert sind und in ihrer Vernachlässigung für das Licht fast undurchdringlich. Denn wie ein ansteckendes Gift hat sich die Trägheit vom Gebieter auf den Diener Sachar übertragen, an dem Oblomow diese Eigenschaft selbstverständlich verachtet. Und ihn macht er auch natürlicherweise verantwortlich für alle die kleinen Peinlichkeiten und Unannehmlichkeiten, die seiner eigenen Faulheit entwachsen. An sich selbst will er nie denken; manchmal aber kommt das Bewußtsein doch zur Geltung und stellt sich drohend vor ihn. »Entsetzen erfaßte ihn, als in seiner Seele plötzlich eine lebendige klare Vorstellung von dem Schicksal und der Bestimmung des Menschen entstand, als er zwischen dieser Bestimmung und seinem eigenen Leben eine flüchtige Parallele zog, und als in seinem Kopfe verschiedene Lebensfragen eine nach der andern erwachten und furchtsam im Durcheinander aufwirbelten wie Vögel, die ein plötzlicher Sonnenstrahl in der schlummernden Ruine erweckt hat. Sein Mangel an geistiger Regsamkeit, das geringe Wachstum seiner sittlichen Kräfte und die Schwere, die ihm in allem hinderlich war, kränkte ihn und stimmte ihn traurig; an ihm fraß der Neid, daß andere so voll und ganz leben, während auf den schmalen, armseligen Pfad seiner Existenz ein schwerer Stein geworfen zu sein schien. In seiner schüchternen Seele erstand das qualvolle Bewußtsein, daß viele Saiten seiner Natur gar nicht geweckt worden waren, daß einige nur sehr leise berührt wurden und keine einzige ganz ausgeklungen war. Und dabei fühlte er schmerzlich, daß in ihm wie in einem Grab etwas Schönes, Lichtes eingeschlossen war, das vielleicht schon tot war oder wie Gold in dem Schoß des Berges eingeschlossen lag, und daß es schon längst Zeit war, dieses Gold in Scheidemünzen zu verwandeln. Aber dieser Schatz war schwer und tief mit Unrat und angeschwemmtem Schutt belastet. Jemand schien ihm die vom Leben und von der Welt zugedachten Schätze gestohlen und in seiner eigenen Seele vergraben zu haben. Etwas hinderte ihn daran, sich ins Leben zu stürzen und mit vollen Segeln des Verstandes und des Willens hinzufliegen. Ein heimlicher Feind hatte ihn beim Beginn seines Weges mit schwerer Hand belastet und ihn vom geraden Pfad der menschlichen Bestimmung weit fortgeschleudert ...«
In diesen eintönigen Zustand tritt nun eine Episode, die man leicht für den Roman selbst ansehen könnte. Oblomow wird durch einen uneigennützigen Freund – denn Schmarotzer haben sich selbstverständlich sofort an ihn herangemacht –, den Deutschen Stolz, ein wenig aus der Apathie erweckt. Er bringt ihn zu einer Familie, und dort lernt Oblomow ein kluges, stilles Mädchen, Olja, kennen, in die er sich verliebt. Und was das Merkwürdige ist, er findet eine sorgliche zärtliche Gegenliebe. Ihr gefällt die müde Schwermut Oblomows, die nichts anderes ist als die Folge seiner Schlafsucht, sie spürt manchmal, wie seine kristallreine Seele leise zu klingen beginnt durch all den Staub, der auf ihr lastet; und sie sieht vor allem in ihrer Liebe ein Ziel, sie weiß, daß es in ihrer Hand liegt, einen Menschen zu schaffen und zu erheben, und ihre junge Seele weiht sich diesem Gedanken.
Ein kleines Idyll funkelt in diesem breiten und düstern Buche auf. Wie mit Silberstift sind die intimen und keuschen Liebesszenen in dem Werke gezeichnet – man könnte vergessen, daß ein Russe sie geschrieben, denn ein heiteres, stilles und geklärtes Licht liegt über ihnen. Aber bald erwacht das Gespenst wieder in Oblomow und reißt ihn an sich. Noch kämpft er – etwa wie ein ertrinkender Hund im Wasser ringt, mühsam und kraftvoll, aber der Stein zerrt und drückt, und je schwächer die Anstrengungen werden, desto unerbittlicher zieht die Last zum Grunde hinab ...
Und mit einem Male ist alles aus. Er ist wieder Oblomow, aber noch düsterer, träger und verlorener wie vorher, weil er keine Träume mehr spinnt und keine Hoffnungen mehr hat. Nichts Unerbittlicheres und Traurigeres läßt sich denken wie die Szene, wo er Stolz, dem Freunde, der ihn noch retten will, mit gefaßten, abgeschlossenen Worten andeutet, daß es zu spät ist. Die Trägheit hat ihn ganz in ihrer Gewalt und gibt ihn nur dem Tode frei.
Man sieht – es ist eine Geschichte vom Alltag, und grausam ist sie wie das Leben, wenn man ihm in seinen Tiefen nachspürt. Und Gontscharow verbohrt sich in den Stoff, wie alle die Russen, die in ihrem analytischen Drang die kleinste und unscheinbarste Handlung in die subtilsten Strömungen auflösen. Russisch ist aber vor allem der Typ selbst mit allen seinen Einzelheiten, die der Dichter geflissentlich belauscht. Nie sind die kleinen Bequemlichkeiten, die Trägheit des Aufstehens, die Kunst des Ausredens und Sich-selber-Vorredens um der Faulheit willen mit so psychologischer Peinlichkeit entwickelt worden; man müßte Oblomow für ein ganz einzig dastehendes Genie in der Kunst der Faulenzerei halten, wüßte man nicht, daß die russischen Naturalisten selbst in das Schlichteste und Primitivste tausendfache Komplikationen zu legen wissen – man betrachte nur einmal genau die Arbeiter und die Vagabunden des Maxim Gorki. Ich weiß nicht, wie man von Oblomow deshalb scheidet; ich persönlich habe selten zu einer Gestalt so viel Mitleid empfunden, wie zu ihm, nie so das Bedürfnis gehabt, förmlich hineinzugreifen in die Handlung, um ihn zu rütteln: »Werde wach, werde wach, ein Glück geht an Dir vorbei und Du kannst es noch greifen!« Und ich glaube, die meisten werden so empfinden. Denn Mitleid und Zuneigung empfinden wir vor allem bei Zuständen und Geschehnissen, die wir verstehen können oder erlebt haben, weil das egoistische Gefühl hier durchbricht, daß an uns das gleiche Schicksal herantreten könne. Und wo ist einer, der stets so tätig und zielbewußt geschaffen, daß er nicht doch ab und zu in seinem Leben ein Oblomow gewesen wäre?