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Flauberts Nachlaß

Ein ganzes Leben lang lag Geheimnis um sein Werk. Die ›Bovary‹ war durch den unnützen Eifer der Behörden ein Sensationserfolg gewesen, man bangte, harrte, wartete in Frankreich auf sein nächstes Werk; Flaubert blieb jahrelang still. Dann kam ›Salammbô‹, ›Die Versuchung des heiligen Antonius‹, Werke, die schon durch die Fremdartigkeit ihres Vorwurfs den rasch Berühmten dem Publikum wieder entfremdeten, und immer wieder kam Schweigen, ein langes regloses Schweigen, und nach jeder dieser jahrelangen Unterbrechungen ein Meisterwerk. Jedes war gewissermaßen umhüllt von einem Mantel von Geheimnis und Schweigen, jedes schien aus einer anderen Welt zu kommen, und niemand wußte, was in diesen langen Zwischenräumen von Werk zu Werk in Flaubert geschah. Die Freunde klagten über seine Trägheit, die Mißgünstigen nannten sie Sterilität, niemand wußte die Wahrheit: sie hieß Arbeit. Gerade jene Zeit war unfähig, das Mysterium dieser Zurückhaltung zu durchdringen, denn Produktion bedeutete für sie Extensität, niemand vermochte darin diesen geheimnisvollen, an die Härtung des Stahls erinnernden Prozeß der Komprimierung, diese vor Flaubert unbekannte äußerste Anspannung zur Sparsamkeit zu ahnen. Denn Kunst galt damals als Verschwendung.

Flaubert begann als Autor zu einer Zeit, wo Balzac und Dumas unablässig Buch nach Buch herausschnellten, eines hing noch mit dem anderen zusammen. Gestalten liefen hinüber und herüber; wie ein ungeheurer Strom, auf dem die Geschehnisse unablässig tanzten, floß ihr Schaffen dahin. Es gab da keine Rast, kein Innehalten, fast schrieben sie mehr, als ihre Zeit lesen konnte, sie überholten mit ihrem Werk die Neugier und das Interesse, ihr ganzes Leben war Öffentlichkeit. Sie waren geheimnisvoll in ihrer Tätigkeit, rastlos in ihrer Anspannung. Nach diesen Verschwendern kamen die ersten Versuche Flauberts, der freilich arm erscheinen mußte neben solcher Verschwendung, und am Ende seines Werkes stand schon ein anderer heroischer Arbeiter, Zola, dessen aus wohlbehauenen Quadern fast geometrisch getürmter Ruhm sein Werk überschattete, stand die beispiellose Beliebtheit seines Schülers, des geschmeidigen, einfallsreichen Maupassant. So von rechts und links überschattet, gänzlich geschützt vor dem Einbruch der Neugierde, blieb sein Werk unbeachtet, es schien klein, steril, aber doch schon damals umwittert von einer seltsamen Legende. Den ganzen Umfang seines Werkes zu schauen, ist erst uns gegeben. Erst wir können sehen – können's hören aus den gequälten Aufschreien seiner Briefe, belauschen in den Fragmenten, nachweisen in den zerarbeiteten Manuskripten –, daß die Arbeit, die hier fünf Bücher schuf, nicht geringer ist und sicherlich nicht vergeblicher als diejenige Balzacs und Zolas, die ihrer fünfzig auftürmten. Ein wundervolles Geheimnis entschleiert sich uns: und Ehrfurcht zwingt uns ins Knie vor der beispiellosen Aufopferung dieses Schweigens.

Bisher hatten wir nur die Bücher. Die waren wie Statuen kalt, ehern, unvergänglich, klassischen Angesichts, eines dem andern fremd und den brüderlichen Ursprung nur bezeugend durch die Fehllosigkeit ihrer Kunst. Von der ungeheueren Glut, die sie beseelte, jener unterirdischen, sorgsam vor fremden Blicken gehüteten Glut, die alle Schlacken des Zufälligen, alle Unreinlichkeiten der Schöpfung restlos verzehrte, haben wir erst jetzt eine Ahnung, da sein Nachlaß veröffentlicht wird, die Werke, die er verworfen hatte, die zahllosen Versuche des Schülers vor der Meisterschaft. Das Buch, das Paul Zifferer für Deutschland herausgibt, (›Flauberts nachgelassene Werke. Erster Band: Flauberts Werke bis zum Jahre 1838.‹ Übersetzt und eingeleitet von Paul Zifferer. Verlag J. C. C. Bruns, Minden 1910), ist der erste erlaubte Blick in des Meisters Werkstatt. Man sieht die feurige Esse noch einmal flammen, sieht Rauch und Unrast gemengt im Werke eines, der nur den makellosen, wandellosen Guß zu seinen Lebzeiten der Welt übergab.

Dieser erste Band des Nachlasses enthält die Novellen des Fünfzehnjährigen, des Sechzehnjährigen und Achtzehnjährigen, die künstlerischen Versuche am Rande der Kindheit. Es sind Novellen aus der Zeit des Lernens, Schulnovellen, aber in einem höheren Sinne, etwa wie er sie seinen Famulus Maupassant schreiben ließ, jede Woche eine, gewissermaßen Fingerübungen auf dem Klavier der Sprache. Aber immer Versuche eines Meisters. Die Geschichte, die der Knabe aus den Büchern in sich aufnimmt, formt der werdende Dichter zum Bild, jede Seite aus dem Geschichtsbuch wird ihm zur farbigen Novelle, Lektüre verwandelt sich durch Phantasie. Er liest von Philipp II. und formt sofort eine Szene, die Königin von Burgund wird Bild aus dem Begriffe. Er erzählt, ohne zu besinnen, ohne rechtes Gefühl für die Form, ohne jenes entsetzliche Verantwortungsgefühl, das die Jahre seines späteren Schaffens in einen unaufhörlichen Kampf verwandelt. Später hielt er sich zurück, preßte er sich an jeden einzelnen Satz an, konnte sich von ihm nicht losreißen, jetzt fließt noch alles über, zerrinnt in Farben und Visionen. Es ist noch nichts darin von dem späteren Flaubert, noch nicht die Konzentration, die besonnene Gewalt, die Bindung, und doch wieder alles.

Es ist vieles in diesen Novellen, was überwunden werden mußte, die Fülle, die sich an das Einzelne verliert, ungezäumt jeder Verlockung nachgaloppiert, die wilde Erzählerwut, die sich erst in Erzählungskunst umformen mußte. Verheißungsvoll aber ist schon in diesen früheren Novellen die merkwürdige Sattheit der Farbe, ahnungsvoll das Rembrandtsche Dunkel. Die Melancholie der einsamen Kinder überschattet die Welt des jungen Flaubert, alle Novellen haben als letztes Blatt den Tod. Kühle ist darinnen, geisterhafte Kühle – ähnlich und doch so unendlich fern jener klaren, wie Schneeluft in der Kälte der späteren Werke, wo alle Umrisse, alle Farben ihre höchste Reinheit erreichen –, eine Kühle, die feucht und nebelhaft die Dinge umwittert und aus Gräbern zu steigen scheint. Ich weiß nicht, ob Flaubert damals schon E. T. A. Hoffmann gelesen hatte, aber manche Blätter haben die gespensterhafte Art dieses undeutschesten aller Deutschen, ein Totentanz, düster, »macabre« – ich weiß kein deutsches Wort dafür – zittert der Reigen seiner Gestalten vorbei. Und merkwürdig ist an diesen Novellen noch die seltsame Verschlossenheit der eigenen Gefühle, dieses Verbergen des Ich und der eigenen Erlebnisse vor der Welt, das für den späteren Flaubert so typisch ist, jene Flucht ins Objektive, die Flucht ist vor dem Gefühl und Ehrfurcht zugleich. Schon das Kind hütet sorgsam sein eigenes Leben. Redet Flaubert von sich, so hält er sich eine Maske vor. ›Erinnerungen eines Narren‹ nennt er das Stück Selbstbiographie, das diesen Band abschließt, und das schon früher einmal unvollständig französisch erschienen war. Horcht man von nahe daran, so hört man ein schüchternes Kinderherz darin unruhig schlagen, sieht man näher zu, so leuchten unter dem merkwürdig grauen fahlen Licht dieser Geschehnisse kleine farbige Bilder eines wirklichen Lebens.

Man kann den Wert dieser Novellen schwer nach ihrem künstlerischen Gut abschätzen. Mißt man sie nach dem hohen Maßstab Flauberts, dem höchsten, den je ein Künstler an die Kunst gelegt hat, so ist die Antwort durch die Tat schon gegeben: sie sind verworfen. Mißt man aber die moralische Tat, das menschliche Dokument einer Kunstschöpfung, die beispiellos ist in unserer Zeit, so gibt sich ein Wert, der gar nicht abzuschätzen ist. Wird jetzt Blatt an Blatt, Buch an Buch, der ganze Nachlaß Flauberts entrollt, so wird einer Generation von Dichtern eine Lehre zur Selbstzucht gegeben sein, die nicht zu überhören ist. Ein ganzer Roman, ›Die Spirale‹, Novellen, Fragmente, Aufsätze sind versprochen, alle verworfen von Flaubert selbst; aber, müßte man sich fragen, wieviel von all dem, was heute als Kunst gilt und sich Literatur schelten läßt, wieviel von all diesen Romanen, selbst denjenigen, die wir bewundern und lieben, vor Flaubert bestehen könnten? Schicht an Schicht, wie bei einer Ausgrabung vergangener Epochen, die uns die unbekannte Kultur vergangener Völker lehren, wird nun dieses merkwürdige Monument von Fleiß und Genie in seiner Entwicklung aufgedeckt, das wir Flaubert nennen. Das Fundament liegt jetzt zutage, Flaubert, der Knabe, der Beginner.

Paul Zifferer hat mit der Sorgsamkeit und mit der Ehrfurcht vor dem Wort, die jedem zu eigen ist, der Flaubert wahrhaft verstanden hat, die frühen Arbeiten übertragen, ein feines, impressionistisch glitzerndes Vorwort belebt die Kindheit des Meisters von Rouen. Mit Besonnenheit und äußerster Ehrfurcht hat er das verantwortungsvolle Werk begonnen: nun wird er sich, da der Schatz verraten ist, gegen unsere eigene Neugier zu wehren haben, die gerne schon morgen den nächsten Band in Händen hätte und übermorgen den dritten. Denn Flaubert will nicht eilig gelesen sein, nicht eilig übersetzt und nicht eilig verstanden. Die letzte Lehre seiner Kunst, das höchste Beispiel seines Lebens ist, so vielfältig es auch formuliert ist, doch zusammengepreßt nur ein Wort: Geduld.


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