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Vor etwa einem halben Jahrhundert brachte Ferdinand Freiligrath, unvergessener Pionier demokratischen Geistes, den Deutschen zum erstenmal Walt Whitman in einem Bündel Übersetzungen. Die deutsche Geistigkeit, die damals ihr lyrisches Ideal in Paul Heyse und bestenfalls in Eduard Mörike suchte, sah in diesen breit hinrollenden, wild ihrem eigenen Rhythmus nachströmenden Gedichten kaum mehr als einen merkwürdigen Barbarismus, genauso wie sie, vom Ideal einer falschen Klassizität benommen, die chinesischen, die japanischen Gedichte, diese Essenzen des Stimmungsgedichtes, nur als merkwürdig, nur als »kurios« empfand, als eines jener Mitgebringe aus den Tropen ohne irgendeinen Beziehungswert zu unserer Welt.
Nach einem Vierteljahrhundert war es dann ein Deutschamerikaner und schließlich Johannes Schlaf, die mit erneuter Leidenschaft für den »guten grauen Dichter« eintraten, dann kamen Karl Federn, Max Hayek und eine ganze Reihe anderer, jeder mit Übersetzungen der ›Grashalme‹, die allmählich eine Ahnung von Whitmans Wesenheit und Wirkung bei uns in Deutschland aufging, während gleichzeitig in Frankreich seit zwanzig Jahren unser brüderlicher Freund Léon Bazalgette mit Übertragungen und einer prachtvollen Biographie ihm Bahn in das europäische Geistesleben brach.
Nun fühlt man ihn schon als den, der er ist: der stärkste Dynamo moderner Lyrik, ungeheure Ströme von Kraft und Helligkeit aus der rhythmischen Energie seiner Gedichte verbreitend, ein Energiezentrum ohnegleichen, angehäuft mit Schwung, genug, um ein Weltall damit zu erfüllen. Und unerschöpflich ist dieser Mensch, dieses Dichters Vitalität, sie reicht nicht nur aus für sein eigenes Leben, sie reicht nicht nur aus, um dann noch das Gedicht ganz mit dieser glühenden Existenzwärme zu erfüllen, sie hat noch Kraft, durch dieses Gedicht andere Lebenskräfte zu steigern: drei Zeilen, einen Absatz Walt Whitmans nur muß man lesen, und schon fühlt man den elektrischen Funken in sich überspringen, alle gedrückten Energien straffen sich auf, der Kern der Vitalität ist wie von Sonne bestrahlt und beginnt zu blühen und zu fruchten. Greift man aber tiefer in seine Fülle, wirft man sich ganz in den Katarakt seiner Hymnen hinein, so scheint einem dies eigen Bewußte in einem panischen Taumel zu entschwinden; man rauscht selbst hinein, weggerissen von den rauschenden Kaskaden dieser Ströme, zerstampft von der Wucht dieser schäumenden, niederstürzenden Unendlichkeit.
Die Intensität dieses Werkes, sie kannte man also schon, diese bei aller Breite des Ganzen und Einzelnen so gepreßte Selbstheit des Dichters, die so stark ist, daß eine Strophe schon berauscht, eine Seite schon lebenstrunken macht: in dem kleinsten seiner Gedichte, in einer Zeile schon ist Whitman ja immer enthalten, so wie ganze Wälder in einem Samenkorn. Aber die volle Breite seines Werkes, die Fülle, die Vehemenz seiner Dichtung vermögen in Deutschland jene, denen die Originale nicht zugänglich sind, erst heute kennenzulernen an der umfassenden zweibändigen Ausgabe, die Hans Reisiger – Dank ihm, innigster Dank! – nun endlich meisterlich zu Ende geführt und bei S. Fischer erscheinen ließ.
Sie ist voll, sie ist weit, sie ist lebendig und breitschultrig wie er selbst, Walt Whitman, sie stellt nur dar, ohne zu übertreiben, ohne zu umschreiben, ohne jeden der modischen Versuche, einen Menschheitsdichter rasch in eine neue Religiosität umzuschwindeln oder ihn zum Parteimann zu degradieren. Ihr innerster Wille ist, Walt Whitman nicht nur lyrisch als Neurhythmiker empfinden zu lassen wie bisher, aber auch nicht politisch als demokratisch und nationalpsychologisch als Amerikaner, sondern einfach als Element, stark leuchtend und unerschöpflich wie Radium, klar wie Wasser, hell wie Sonne und reinschmeckend wie Morgenluft, als eine innere, unzerstörbare Einheit, in der Mann und Werk, Leben und Dichtung nur zwei verschiedene und doch komplementäre Formen derselben einmaligen Urkraft sind.
Diese Form, einen fremdländischen Lyriker wiederzugeben, indem man sich nicht darauf beschränkt, einzelne Proben in das Deutsch-Lyrische umzumodellieren oder künstlich die Gesamtheit seiner Gedichte nachzubilden, sondern indem man bei der Auswahl seiner Gedichte auch die Fülle seines Lebens entgegenstellt, indem man den lyrischen Menschen, die Erscheinung als Lebenselement, als Typus in deutscher Sprache ahnen macht, die ja doch das lyrische Geheimnis der anderen nie ganz mitzuteilen vermag – sie scheint mir die einzig notwendige in Deutschland.
Man verzeihe mir's, wenn ich da einen Augenblick von mir selbst spreche: ich habe bei Verhaeren, Rimbaud, Desbordes-Valmore, Verlaine dieses Prinzip längst als das einzig wesentliche und wahrhafte erkannt, und eben aus der Schwierigkeit, die sich da oft der Bildkräftigkeit eines Menschen, der Durchdringungsfähigkeit seines Gedichts mir entgegenstellte, vermag ich es so recht nachfühlend zu sagen, wie ausgezeichnet hier Hans Reisiger der Zusammenklang gelungen ist und wie rein der Urton Walt Whitmans mir in diesem Zusammenklang erscheint.
In den Versen rollt der Rhythmus straff und nur von innen gebändigt dahin, zum erstenmal zeigen die »Democratic Vistas« diese herrlichen Prosaseiten, das bisher unübersetzte erlauchte Manifest des Dichters an die Menschheit. Briefe und Aufsätze tun seine innersten und persönlichsten Gedanken auf, das Ganze aber faßt eine ausgezeichnete Biographie zusammen, klar, knapp, menschlich, ohne künstliche Dunkelheiten, gleichsam selbst durchfiltert von dem offenen, hellen Lebensblick Walt Whitmans, ein rechtes Meisterstück bescheidenkräftiger Darstellung, einzig vergleichbar der schönen Liebestat Léon Bazalgettes in Frankreich.
So ward ein Buch, das man von innen her lieben mag, zu dem man immer wieder zurückkehrt, um Kraft und Freude für eine Stunde sich anzutrinken, ein Buch, das ein Menschgedicht gestaltet, seine Gestalt zum Erlebnis macht und darum mehr als ein Buch bloß wird: eine Tat, eine echte und rechte, rein schöpferische Tat.