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Elemente der Menschengröße

(Rudolf Kaßner, ›Von den Elementen der menschlichen Größe.‹ Leipzig, Insel-Verlag.)

Bei den großen Meistern der Lyrik ist vor allem ein Phänomen so wunderbar typisch für die ursprüngliche Gewalt ihrer Anschauung, ein seltsamer Vorgang, der noch unendlich bedeutsamer ist als ihre neubildnerische Kraft, nämlich die Fähigkeit, ein gänzlich verbrauchtes und durch allzuhäufige, schon automatisch gewordene Benutzung unsinnlich und falsch gewordenes Attribut, ein kaltes, gewöhnliches Wort also, plötzlich durch eine unerwartete und vor allem richtige Anwendung wieder sinnlich, neu und packend zu gestalten, es gleichsam von dem Mißverständnis seiner grob prosaischen Verfälschung wieder in die poetisch reine, kristallklare Form der dichterischen Sinnlichkeit zu erlösen. Ein Phänomen, das jedem Liebhaber der Lyrik hundert jähe Entzückungen geschenkt hat und das in unseren Tagen bei Stefan George und Rilke am eindringlichsten und lautersten zu finden ist. Unversucht hingegen ist bis auf wenige Ausnahmen in unserer Zeit das Bestreben, nicht nur das Wort, sondern auch die Begriffe von der Abgegriffenheit journalistischer und rhetorischer Verwendung zu befreien, sie wieder zurückzuführen in die rein lautere, hier aber gänzlich unsinnliche Atmosphäre, ihre elementare Isoliertheit wieder herzustellen. Und unter den vielen Gesichtspunkten, von denen die Bedeutung Rudolf Kaßners für unsere Zeit aus betrachtet werden könnte, scheint mir diese für sein Werk eine der bedeutsamsten.

Er hat Begriffe und Scheidungen, die ihre Schärfe und ihren Glanz in der Verwahrlosung lässigen und geistig trägen Gebrauches verloren haben, wieder blank erneuert, und so fremd stehen nun diese Worte, diese Begriffe den früheren und allgemein gebräuchlichen gegenüber, daß ihre ursprüngliche Einheit kaum mehr zu erkennen ist, die Lektüre der Kaßnerschen Bücher geradezu ein Umlernen der Sprache, eine Umschaltung der Begriffssymbole bedeutet. Ich weiß nicht, ob es mir je gelingen könnte, klar zu machen, selbst in ausführlichster Form, ein wie verschiedener geistiger Kosmos der Kaßners von allen anderen Weltbildern deutscher Schriftsteller ist, unter wie hohem geistigen Luftdruck diese Bücher stehen, wieviel Glut aber und Feurigkeit des Intellekts, eine wie strenge Moral, eine wie unbarmherzige Ästhetik unter ihrer kalten, anscheinend schmucklosen und beinahe aufgelösten Form versteckt ist. Ich weiß nur, daß es viele gibt, die Kaßners Bücher von vornherein als unlesbar, ja selbst als sinnlos erklären, so wie sie ja im Lyrischen Stefan George oder die späteren bildnerischen Gedichte Rainer Maria Rilkes einfach erledigt zu haben glaubten, wenn sie sie als kalt und verworren abfertigten. Ich weiß aber auch, daß es heute in Deutschland vielleicht zwei- oder dreihundert Menschen gibt, die in Kaßners Welt heimisch wohnen, die in seinen Worten reden, seine Formen denken, und denen niemand mehr berufen erscheint, der Praeceptor Germaniae in ästhetischen Dingen zu sein, als dieser Mann, dessen persönliche Gewalt, geistige Bildung und innerliche Berufung außer Frage stehen. Und es ist nur die ungeheure Einsamkeit seiner Persönlichkeit, die es so schwer macht, ihn zu erklären, weil alles Klarmachen doch nur durch Vergleiche geschehen kann und eine Persönlichkeit wie die Kaßners in der ganzen heutigen und auch vergangenen deutschen Literatur nichts hat, dem sie angenähert werden könnte, nicht einmal der Nietzsches, die heute noch immer erreichbarer erscheint als die wie ein harter, trotziger und vielleicht unfruchtbarer Fels in freundlicher Landschaft sich aufreckende Gestalt dieses Allereinsamsten, von dem niemand weiß, ob er Führer sein wird oder Verführer. Bewundernswert aber für jeden Einsichtigen muß der ungeheuere Ernst, das aus rein geistiger Leidenschaft gehärtete Pathos und der wirklich monumentale Stil seiner Bücher wirken. Er allein müßte Kaßner davor schützen – nicht so sehr mißverstanden zu werden als mißachtet – und jeden selbst dann zu Respekt zwingen, wenn sein eigenes Begreifen ihm nicht zu folgen vermag.

So gestehe ich, daß ich den innersten Willen und auch die geheime Struktur seines neuen Buches ›Von den Elementen der menschlichen Größe‹ nicht zu verstehen vermag, aber die bezwingende Pracht einzelner Erkenntnisse, die unverkennbare Einheit einer inneren Absicht und die edle Haltung des ganzen in wunderbarer Bedrängtheit zusammengefaßten Buches lassen mich willig glauben, daß ich selber daran die Schuld trage und nicht etwa Kaßner, lassen mich hoffen, daß ich in einigen Jahren vielleicht hier bekennend lieben werde, wo ich heute noch in Bewunderung zögere. Ich wünschte, daß wir in Deutschland mehr Bücher hätten, die dadurch, daß sie, wie dieses, unserem Intellekt und unserem inneren Formgefühl die denkbar höchsten Anforderungen stellen, erziehlich wirken nur durch die bloße Anstrengung, in solche geistige Einsamkeiten nachzufolgen, und mehr solche Menschen, wie Kaßner, die in unserer Zeit der platten Verbreiterung und Verwässerung aller ethischen und ästhetischen Werte nur in sich selbst ein neues Maß für die geistige Welt suchen.


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