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Thomas Manns ›Rede und Antwort‹

Nichts vermag die prominente, ja sogar privilegierte, das heißt mit besondern Vorrechten der Neigung und des Vertrauens ausgestattete Stellung Thomas Manns innerhalb unserer neueren Literatur besser zu verdeutlichen, als die Tatsache, daß wir ein Buch, das wir bei fast jedem andern als verfrüht, als überheblich empfunden hätten, bei ihm nicht nur leidenschaftlich billigen, sondern längst mit Ungeduld forderten und, nun es uns gegeben ist, um keinen Preis wieder missen wollten. Sein neues Werk ›Rede und Antwort‹ (S. Fischer, Verlag, Berlin 1921) ist ja in jenem höheren Sinn, der vom Buch nicht bloß Sammlung eines Gelegentlichen, sondern Formung eines einheitlich Notwendigen fordert, ein typisches Unbuch, ein Nichtbuch; es ist geradezu jener landläufige letzte Band aus einem Nachlaß, wo der Philologe beharrlich datierend zusammenklittert und -kleistert, was der Autor an einzelnen Aufsätzen, Rundfragen, Äußerungen in ephemeren Zeitungen durch Jahrzehnte verstreute, »Zufallserzeugnisse«, wie sie Thomas Mann selbst einschränkend nennt. »Es handelt sich«, sagt er, auf vielfachen Wunsch von Freunden und Fremden sich bescheiden berufend, »um eine sozusagen interne Veranstaltung, um ein Buch für die Freunde meines Lebens, welche, selbst schon vertraut mit seiner Ökonomie und Kultur, bereit sein mögen, auch in dem Bei- und Außenwerk mit einer gewissen Genugtuung die Beziehung zum Ganzen zu entdecken.« Wirklich, es hat keine andere Mittelachse, dieses schöne Buch, beim besten Willen läßt sie sich nicht erklügeln, als den Menschen Thomas Mann; aber die ist, weiß Gott, solide genug, um auch Gelegentlichstes zu einer hohen Einheit zu erheben. Und das scheinbar Formlose, wie ist es geformt schon durch sein waltendes Element, durch die herrliche, stahlgehämmerte Thomas Mannsche Prosa, die uns, den im gleichen Sinne Bemühten, einen so restlosen, künstlerischen, ja sogar sportlichen Genuß bedeutet, daß uns das Thematische darin fast nebensächlich wird. Jeder, auch der abseitigste Gegenstand, wird in dieser seiner Prosa wichtig durch Gegenständlichkeit der Darstellung, alles Sachliche interessant durch Sachlichkeit der Behandlung, und wären in diesem Buche auch allerprivateste, selbst domestikale Dokumente abgedruckt, wie ein Zeugnis für ein entlassenes Dienstmädchen, ein Rekurs gegen eine Steuervorschreibung, ein Verlagsentwurf, so hätte wenigstens für mich die Meisterschaft der präzisen Formulierung – die bei ihm nicht eine artistische Neigung ist, sondern ein im innern Ethos verwurzelter Zwang – noch einen fachlichen, einen sachlichen, einen künstlerischen Anreiz. Das Gleichgültigste wäre, von ihm präzisiert, durch die Kunst der Formulierung, noch kunstwerkhaft, seine abseitigsten Dokumente im artistischen Sinn ebenso lehrhaft, wie es uns zum Beispiel die amtliche Prosa, die Bußtagsbotschaften und Kamerialerlässe des Herrn Stadtschreibers Gottfried Keller waren. Denn es gibt bei Thomas Mann gewissermaßen keine private Prosa, so sehr ist jede, auch die gelegentlichste seiner Äußerungen, durch menschliche Verantwortlichkeit, durch bildnerische Zucht vorbildlich und meisterlich; nie kann sie gehaltlos werden, so sehr ist sie Gestalt.

Sie schlankweg, wie manche rasche Formulanten belieben, die beste neuzeitliche Prosa zu nennen, scheint mir verwegen, denn die Vielfalt geistiger Werte graduiert sich nicht, sie nuanciert sich nur. Aber gewiß ist sie die männlichste, die sachlichste, die begrifflichste, und nur, wenn man deutsch mit protestantisch, mit pflichthaft und verantwortlich gleichsetzt, auch die deutscheste Prosa der Zeitgenossen. Sie bildert nicht, sondern sie bildet; sie umschreibt nicht, sondern sie ist geschrieben; sie singt nicht, sondern sie spricht; sie steigert nicht den Gegenstand, sondern hält ihn im rechten Maß. Ihre Präzision, ihre Sachlichkeit hat so recht die »heilige Nüchternheit«, von der Hölderlin, der Ekstatiker, als von seinem Gegenpol schwärmte; in ihrer Zucht und Straffheit, ihrer leidenschaftlichen Verantwortlichkeit entäußern sich Werte, die nicht aus turnerisch geschmeidigem Handgelenk, also äußerer Kraft, gestaltet werden konnten, sondern ihre Vehemenz von einer moralischen Geradlinigkeit, ihren Schwung von einer inneren Gespanntheit konzentrierten Willens herleiten. Die Aufrichtigkeit dieser Prosa kommt, das spürt auch der Laie, aus der Einheitlichkeit eines Charakters: in einer bildnerischen Fixierung Thomas Manns gibt es nichts Ungesagtes, Ungenaues, Approximatives, nichts Niedergedrücktes, nichts Feig-Verborgenes, sondern immer nur eine energisch bestimmte restlose Präzision, ein Gradeaus, das kein Deuteln duldet und nichts der Konjektur überläßt. Thomas Manns Prosa ist niemals »raisonnement«, also Klugschwätzen, Herumsprechen, sondern immer Aussprache im Sinn von Aus-Sprechen, Zuendesprechen: ihre einzelnen Sätze haben darum fast immer die diktatorische Unabänderlichkeit von vollkommenen Gedichtzeilen, die, kaum gestaltet, schon zu kristallener Unwandelbarkeit klar erstarren. Biegsam, sind sie zugleich auch hart, feurige Masse in Eis gehärtet, was ja von je als das Geheimnis der toledanischen Klingenschmiede galt.

Dieser Stil hat Zucht, aber er wird nie amorph. Seine Begrifflichkeit bleibt sinnlich, seine Sinnlichkeit wiederum diszipliniert sich höherem Gesetz. Muskeln und Sehnen hat dieser gymnastisch geübte, turnerisch gelenke, sportlich trainierte Stil: an eine schöne, eine fast griechische Männlichkeit muß man denken, die Schwerstes als Spiel meistert und in ihrer heiligen Nacktheit naturhaft wird. Dieser Stil kann schnellaufen, ohne zu keuchen, kann springen und ringen, ohne zu stocken, klaren Auges, sicherer Hand trifft er ins Ziel – all die Kraftkunst, all die Kunstkraft (heilige Einheit!) des Jünglings, des Mannes wird hier Schönheit durch gesteigertes Maß. Rhythmisch taktiert, hat er naturgemäß weniger Musik als der seines meisterlichen Gegenspielers in der Prosa, als jener Hofmannsthals, der wieder alle Magie des Weiblichen hat: das Hinströmen, die weiche voluptuöse Linie, die blühende, warme, duftende, süße, fruchthafte Fleischlichkeit des Wortes, das Verschweben und das erhaben Aufgelöste der Melodie. Bei Thomas Mann ist die Kunst immer Disziplin, die Disziplin immer Kunst.

Solch eine Prosa ist notwendig meisterhaft in der Formulierung. Thomas Mann spricht einmal irgendwo in diesem Buch über die Kunst, »eine Sache siegreich auszudrücken«. Siegreich: besser kann er nicht veranschaulicht sein, der bei ihm immer vorausgegangene Kampf des Wortes um die Sache, das angestrengte, in jahrelangem Training mit allen Finten vertraute, feldherrnhafte, ja strategische Umstellen, Umspüren, Umfassen der Dinge durch das Wort bis zum Kernschuß des Attributivs, der dann pfeilhaft sicher dem Begriff in das Herz trifft. Siegreich, ja das ist das rechte, das einzige Wort für diese nervige Prosa Thomas Manns, die nicht aus einer inneren Eingeborenheit, einer prästabilierten Harmonie ihm locker aus der Hand schwingt, sondern die redlich, planhaft, mit Verbissenheit und Verzweiflung sogar, immer aber mit einer nie nachlassenden, pausenlosen, straffgespannten Energie sich an den Gegenstand heranarbeitet. Der Gegenstand, die Sache, sie ist ja so lange für ihn der Feind, als sie sich seinem dämonischen Diktat, Gegenständlichkeit, Sachlichkeit zu werden, weigert, als sie sich in das Joch des Wortes nicht gefügt hat. Er muß ihrer habhaft, sie ihm restlos hörig werden: auch als Stilist ist Thomas Mann kein Pazifist.

*

Kein Pazifist, durchaus nicht. In der Art, wie er als Essayist ein Thema angeht, darin liegt etwas von der Entschlossenheit eines Duellanten. Alles faßt er frontal an: er sieht den Dingen ins Gesicht, ohne sich von seinem vorgefaßten Standpunkt um einen Schritt zu entfernen; alle Nerven spannt er zusammen und stößt dann mit dem Blick auf sie los, mit diesem magisch klaren Blick, der nichts, auch in liebevollster Betrachtung, übersieht. Nie verändert er seine Positur, seinen Standpunkt: das gibt seiner Haltung etwas Starres und zugleich das Persönliche eines Charakters, gibt seinem Blickfeld eine gewisse Begrenztheit, aber anderseits eine seltene Statik, seinem Urteil ein privates, aber auch vollwichtiges Maß. Er sieht, er wägt alles nur von sich aus, nicht vom Weltraum, nicht aus einer absoluten Sphäre der Werte, sondern »à travers son temperament«. Versuche ich noch einmal, zur Verdeutlichung seiner Art die antipodische darzustellen, so sei wiederum der andere große dichterische Essayist, sei Hofmannsthals künstlerische Umfassung literarischer Gegenstände herangezogen. Hofmannsthal sieht alle großen Gestalten in Bindung untereinander: von Ferne zu Ferne baut er Brücken, umschreitet die einzelne Figur von allen Seiten, gleichsam aus einem imaginären Raum der Anschauung her. Seine Wertung hat immer Bezug auf ein unsichtbar Absolutes, nie aber auf seine eigene Person: er taucht gewissermaßen ein in die Erscheinung, indes Thomas Mann ihr entgegentritt als der immer Unverwandelte, starr stehend vor der Erscheinungen Flucht, Ja und Nein sagend nicht aus lockerem Gefühl, sondern aus entschlossenem Charakter, herrisch zurückweisend, was ihm Unbehagen schafft, dem Feindlichsten aber nicht ausweichend zur offenen Fehde.

Das gibt dem Essay Thomas Manns das, was Goethe das »Prävalieren des Subjekts über das Objekt« nennt. Im strengeren Sinn hat das Buch keine Gegenstände, obzwar es meisterlich über Fontane, Friedrich den Großen, Chamisso, Heine und Keyserling spricht, sondern bloß einen Gegenstand: Thomas Mann. Das Objekt dient immer dem Subjekt nur als Vorwand, als Deckfarbe: irgendwo wird es unweigerlich transparent. Ausgezeichnetes, ja Unübertreffliches ist hier über Dichter und Gegenstände gesagt; am besten verdeutlicht sich trotz allem, aber ohne jede Beabsichtigung, der Sagende selbst, Thomas Mann. Mit jedem Strich an einem Porträt ergänzt er das seine: wo er zu reflektieren scheint, werden seine Gegenstände Reflexe; sie glühen nicht von innen, sondern werden Widerschein. Scheinbar sich vereinzelnd an einer Vielfalt von Themen, sich zerstückelnd in dreißig Materien, füllt er sich ganz zur vollen Figur, rundet er sich ab. Seine Auseinandersetzung setzt sein Bild erst zusammen: nirgends war die Plastik seines Charakters so physiognomisch offenbar geworden wie an diesem »Stegreifwerk«, das gerade durch das Spontane der gelegentlichen Äußerungen besser biographisch-bildnerisch wird als die bewußten Darstellungen seines familiären Lebens in ›Herr und Hund‹ und dem ›Gesang vom Kindchen‹.

Dieses Autoplastische, dies unbeabsichtigt Selbstbildnerische, dies – um Stendhals Wort zu gebrauchen – »Egotistische« der Darstellung steigert dieser ›Rede und Antwort‹ literarischen Reiz. Vielleicht sind sonst Persönlichkeiten von Dichtern nur anziehend durch das Inkommensurable, das Unberechenbare ihres Wesens. Bei Thomas Mann ist nun die Wurzelformel ganz offen an der Oberfläche und von jedem zu fassen: sie heißt Verantwortlichkeit; aber diese sonst bürgerliche, diese Pflichtmenschentugend ist bei ihm zu einem solchen Fanatismus, fast sagte man, zu einer solchen kirchenhaften Bigotterie gespannt, dermaßen zur Qual, zur Hemmung, zur Krankheit, ja zum leidenschaftlichen Laster des Künstlers gesteigert, daß sie seiner scheinbar ganz normal gewachsenen Natur etwas Dämonisches entäußert, die kalte Dämonie des zuchtvollen Willens, nicht jene hitzige des zuchtlosen Gefühls. Unwiderstehlich, unaufhaltsam wütet in ihm der Zwang, alles Verworrene, alles Verschwommene, Undeutliche, Unverbindliche, Gallertige ebenso in der äußeren Welt abzuwehren, wie in seiner Prosa zu reinen kristallinischen, durchleuchtenden Formen abzuschleifen: so schwelt in dieser scheinbar ruhenden Natur ein fortwährender Prozeß gewaltsamer Klärung und Ausscheidung. Auch zum entferntesten Objekt in einer unbestimmten, einer nicht genau fixierten Beziehung zu stehen, irgendwo einen Begriff, ein Problem nicht wortplastisch bewältigt zu wissen, das reizt seinen elementaren Ordnungssinn, seinen Klarheitsmuskel zu gespannter Kontraktion, das drängt ihn zur Aussprache (die seinem Kunstprozeß zufolge notwendig zu Formulierung führt). Man spürt zum Beispiel deutlich, wie sehr Thomas Mann das rein soziale und gesellschaftliche Problem des Künstlers innerhalb des Staates bedrängt. Daß da, im Verhältnis des klassenlosen, gleichsam in der Luft hängenden, zwischen dem Bürgerlichen und dem Anarchischen pendelnden Wesen, etwas Amphibisches, etwas Unorganisches enthalten ist, das schafft ihm, der sich diesem zwittrigen Berufe zugehörig weiß, ein sichtliches Unbehagen: irgendwie möchte er den Dichter im Deutschen Reich gerne stabilisieren, den »Stand«, den sozialen Stand dieses labilen Elements einmal sachlich begrenzen, den deutschen Schriftsteller nicht, wie den Sarg Mohammeds in der Kaaba, im Luftleeren zwischen Himmel und Erde, zwischen Gesellschaft und Anarchie hängen wissen. Nirgends habe ich deutlicher die offenbare Beunruhigung empfunden, die dieser Fanatiker des Konkreten, des Korrekten, des Präzisen, des Scharfbestimmten an jedem ungeklärten Gegenstand, sobald er ihm die Epidermis streift, geradezu physisch erleidet, und es ist typisch, daß er allem, was eine Klassierung, eine äußere Wertzuerkennung der Literatur bedeutet, darum das Wort redet, daß er sogar die Tatsache eines Ehrendoktorats (die mir durch die Verleihung an Erzherzöge, Kanonenindustrielle und besiegte Generäle reichlich an geistigem Wert gemindert erscheint) oder die Errichtung einer Akademie als förderliche, weil offenbar Ordnung bringende Dinge einschätzt. Diese Bindung seiner ererbten – von ihm prachtvoll offen, ja leidenschaftlich auch zu konjunkturwidrigster Zeit bekannten – Bürgerlichkeit mit dem erworbenen makellosesten, feurigsten Künstlertum, gibt seiner Persönlichkeit einen ganz unvergleichlichen, zwiespältigen Reiz; denn was da Zweiheit scheint, ist ja nur Doppelform innerster Einheit. Ein und derselbe Urtrieb – Verantwortlichkeit, fanatischer Ordnungssinn – wirkt sich bei ihm nach zwei Seiten, gegen das Leben hin und gegen die Kunst, in zwei divergenten Formen aus, nach beiden Seiten hin aber mit derselben Intensität, demselben Radikalismus: das protestantische Ordnungsbedürfnis, das Klassengefühl des deutschen bürgerlichen Menschen wird im Künstler Thomas Mann transmutiert zu Meisterschaft der Distanz, zu visueller Präzision. Diese Doppelwirkung ist eigentlich keine überraschende. Fachmänner erzählen, daß die Mathematik, diese nüchterne, präzise, steifleinene Arithmetik des täglichen Rechnens in ihrer geistigen Sphäre, in der höheren Mathematik, etwas wunderbar Freies, Phantasievolles, ja Berauschendes werde, etwas ganz irdisch Abgelöstes wie Musik. So kann, das zeigt Thomas Mann, und das zeigte Kant noch großartiger vor ihm, das bürgerliche, das preußische Pflichtbewußtsein, sobald es aus dem Konventionellen, dem Militärischen sich verwandelt ins Abstrakte, plötzlich aufregend, bezaubernd, ja hinreißend werden. An irgendeinem Punkt wird alles, selbst die Gründlichkeit, zur Genialität.

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Bis hart an diesen Begriff arbeitet sich die prosaische, die bildnerische Leidenschaft Thomas Manns heran, nicht zumindest in diesen Aufsätzen, die doch nur gelegentliche sind. Ihr letzter Wert ist das Erledigende in ihnen, die Distanz, die geradezu euklidisch tabellierte Distanz vom Dichter zu jedem Dinge. Jeder dieser Aufsätze ist ein Grenzpfahl des Menschen, des Dichters gegenüber einer Erscheinung, wodurch er dann freilich schließlich selbst wie von einem Wall umgrenzt und abgesteckt erscheint. Immer ist man, welcher Erscheinung immer man durch sein Auge nachblickt, in einem stabilen Zentrum, gesichert, zugleich vermauert, immer hat man gültiges Maß und Pegel zur Hand. Kein Wort ist darin einem andern zuliebe gemildert oder gesteigert, alles von dem Einzelnen aus nur von sich und für sich gesagt. Das scheint nun selbstverständliche und gar nicht so sonderlich rühmenswerte Forderung an einen essayistischen Darsteller, daß er immer nur seine eigene Meinung ausdrücke; aber was ist schwerer, als seine wahrste, seine unbestechlichste Meinung klar – also scharf begrenzt – zu wissen, sie klar also restlos – auszudrücken! Das fordert ein unaufhörliches Wachsein des Gewissens, einen Cerberusblick der Verantwortlichkeit, fordert ein beharrliches Mißtrauen gegen das Gefühl, eine Selbstkontrolle ohne Entspannung, fordert die ganze Leidenschaft, das ganze Leben eines ganzen Menschen. Es gehört Heroismus dazu, das zu leisten, was das Selbstverständlichste scheint: sich ganz als den zu geben, der man ist, ganz in sich zu beharren und dieses Sein, dies Einmalige, ganz in Plastik, in Dauer zu verwandeln. Diese Selbstzucht des subjektiven Künstlers, die man so leicht mit Selbstsucht verwechselt, hat Goethe wohl im Auge gehabt, als er klagte: »Die Meisterschaft gilt für Egoismus!« Und auch Thomas Mann scheint sich manchmal defensiv äußeren Angriffs zu erwehren, wenn er sein Recht betont, in sich zu beharren, Imaginatives, Freierfundenes abzulehnen und immer wieder in sich selbst zu greifen, seine Produktion nur von sich aus zu zentrieren. In Dingen der Kunst entscheidet nicht die Methode, sondern das Werk: wie Flaubert hat Thomas Mann die Qualität seiner dichterischen Produktion mit einer Einbuße an Quantität bezahlt, wie jeder eindeutige Charakter die Intensität seines Urteils durch Begrenztheit der Einfühlung. Sein Standpunkt in diesem Buche und in den ›Betrachtungen eines Unpolitischen‹ gleicht einem Bergblick von seltener Klarheit, einem rechten Hochplateau, wo viele Gipfel verdeckt sind, das wundervolle Schau hat, aber nur nach einer Seite der Welt. Es ist nicht allseitige Vogelschau, Schwebe über das volle, wandernde Panorama der Welt, bei der man sich aber selbst im Gleiten fühlt: bei ihm steht man auf dem Felsen eines Charakters in einer ganz klaren, sublimen, in stürmischen Augenblicken leicht von Sils Maria-Wind durchwehten, reinen Luft, atmet frei und gut, freut sich der hellen Erhobenheit, der Klarheit des Blickfelds und freut sich zugleich, daß jenseits dieser begrenzten Schau von anderer Höhe, von anderm Standpunkt noch andere Fernsicht in die Vielfalt der Erscheinungen unserer wartet.


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