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Gundolfs ›Kleist‹

In seinem weitblickenden, durchdringenden und längst schon zu einem Gut Vieler gewordenen Goethe-Buch, hat Friedrich Gundolf die verbundenste, teilnehmendste, ein ganzes Zeitalter umfassende und durchbildende Gestalt der deutschen Geschichte gezeigt, den einzigen Dichter, der durch Breite des Lebens, Vielfalt der Anteilnahme, Wandelbarkeit der Formen ein nationales Universum neben oder über dem Irdischen geworden ist. In Kleist (Friedrich Gundolf: ›Heinrich von Kleist‹, Georg Bondis Verlag) gestaltet er fast absichtlich antithetisch den Gegenspieler, den isolierten Menschen, den »geborenen Einsiedler«, dem ein Schicksal versagt, trotz stärkster Willensanstrengung, in irgendeiner Form mit seiner Zeit, seinem Vaterland, mit seinen Menschen und Dichtern verhaftet zu sein. In der furchtbarsten Einsamkeit, in der sich je ein produktives Genie inmitten seiner Generation befunden hat, immer fingerbreit nah vom ersehnten Ziel und durch sinnvoll unsinnige Verkettung des Schicksals davon zurückgestoßen, von niemand empfangend und niemandem von den Nächsten gebend, sondern erst einem späteren Geschlecht – so tragisch umwölkt, mit dämonischem Brandmal gezeichnet, irrt er quer durch die Zeit und wirft, müde gehetzt, das Leben gerade in dem Augenblick weg, wo sein wahrer Anfang, seine vitale Wirkung gekommen wäre.

Diese tragische Einstellung sieht Gundolf, der eminenteste Klardenker, den wir in literarischen Dingen heute haben, in einziger Sachlichkeit. Er stellt sie manchem von Kleistens Verehrern, die immer wieder von der Tragik dieses Menschen, dieses Werkes bis in das Letzte ihres Wesens erschüttert sind, vielleicht sogar zu sachlich, zu klar, zu kalt dar, seine halb akademische, halb Stefan-Georgische Verhaltung selbst der äußersten Gefühle baut und gliedert in kristallener Helligkeit noch dort begriffsklar, wo einem anderen Mitgefühl oder Pathos der Leidenschaft längst die Empfindung verwirrte, aber eben durch diese Impassibilität des Urteils, durch diese Unsentimentalität des Gefühls, durch diese Helligkeit selbst beim Blick in die Abgründe, sieht Gundolf das Problem Kleistens mit einer Deutlichkeit, die alle vor ihm nicht gekannt oder kaum geahnt haben. Mit harten, geraden, unverwischbaren Linien grenzt er es nach vorn und rückwärts ab und zieht seine Größe ebenso wie seine Grenze mit unbeirrbarer Gerechtigkeit. Das locker angewendete Wort vom Genie schon läßt er beiseite. Für ihn ist Kleist kein »schlicht Großer«, sondern »eine gewaltsam starke Seele« – eine Definition, die leicht abgedungen ist von Goethes abwehrendem Wort von den »forcierten Talenten«, und seine unmittelbare Tragik, sein Scheitern empfindet er im letzten begründet durch die große Beziehungslosigkeit, die eigentlich jedem deutschen Dramatiker im Verhältnis zu seiner Nation anhängt, die bei Kleist aber im Superlativ zu einer stockigen und bockigen Eigenbrödelei geworden war. Diese Eigenwilligkeit, diese Eigenbrödelei verfolgt nun Gundolf prachtvoll durch alle Formen, von den kulturellen, von der Unfähigkeit, die großen Ideen der Zeit zu teilen, bis hinab zu den scheinbar äußerlichen, bis hinein in die sprachlichen Gewaltsamkeiten der Syntax und wölbt diese eingeborene Disharmonie von Kleistens Natur empor zu einer »Beziehungslosigkeit zwischen seiner Seele und der Welt, die er durch Vergewaltigung aufzuheben sucht«. Aus solcher Formel ergibt sich gleichsam organisch die dichterische Grundform einer genialisch aufgetriebenen Natur, die im ewigen Spannungszustand zu sich und der Welt schwebt, der es andererseits aber an geistiger Bindungsform infolge einer starken Ungeistigkeit mangelt; der Mensch der Spannungen, der gefühlsmäßigen gewitterhaften Entladungen muß (obwohl Kleistens Struktur im tiefsten die eines Musikers war und vielleicht eben darum das Dramatische als seine Form fand) die Sinnlichkeit, die Intensität seiner vulkanischen Natur notwendig tragisch äußern, in einer Art von Dynamik, wie sie einem gewissermaßen gemischten Genius – etwa Goethe – im Dramatischen nie erreichbar war. Diese Grundlinien eines dichterischen Charakters sind bei Gundolf meisterhaft gezogen, das Thema ist umgrenzt und formuliert: nun folgt in einzelnen Analysen die Darstellung der Stücke, jede selbst wieder ein Meisterstück. Mit erstaunlicher Scharfsinnigkeit unterscheidet Gundolf zwischen dem Müsser Kleist und dem Könner, zwischen einem Stück wie der ›Penthesilea‹, wo sich das innere Leben seiner gehemmten und gestockten Erotik im ungeheuerlichen und vernichtenden Ausdruck verströmt, und einem Werke wie dem ›Zerbrochenen Krug‹, wo der bloße Techniker aus einem Könnerstolz und einer gar nicht zwanghaften Spannungsfreude ein Thema beinahe spielhaft angeht. Er unterscheidet deutlich die einzelnen Dämonien, die sich gleichsam plastisch im Werke isolieren, als gestauter Tatendrang in den einzelnen Werken austoben, bis dann das letzte, das nachgelassene Werk, der ›Prinz von Homburg‹, sie alle in einem einzigen Strombett vereint und Kleist endlich nach vielen Verwandlungen in der Urform seines Blutes als der preußische Dichter der Pflicht, der Anwalt der Bändigung und der Heros der Zucht sich gestaltet, und dies gerade im Augenblick, wo er schon bereit ist, sich selbst zu vernichten. Daran schließt sich noch der rasche, aber umgreifende Blick über die Erzählungen. Auch hier das gleiche Problem der Besessenheit vom Stoffe, die Wollustkunst der quälenden Spannung, die Feststellung des Mangels an positiver Erzählerfreude – und schon ist die ganze Atmosphäre Kleistens gewissermaßen im Fluge durchdrungen, ihr Feurigstes entrafft und ihr Gehalt vergeistigt. Niemals schien mir Gundolf so stark, so genial in der Gabe der Abgrenzung, der Knappheit als hier, wo der Gegenstand ihm Härte von sich gab und diese merkwürdig normale, bis zur Rücksichtslosigkeit unsentimentale Art seiner Klarsichtigkeit kann vorbildlich sein für alle Darsteller, die bei den großen Gestalten immer gleich selbst in das Kleistsche Verhängnis, in eine »Verwirrung des Gefühls« hineingeraten. Hier ist literarische Materie nicht wie sonst paraphrasiert und auszüglich nachgebildet, sondern wahrhaft beherrscht, von oben herab gesehen, ohne Hochmut, aber doch von gesichertem Standpunkt. Und gerade in der scheinbaren Kälte des Urteils, in dem Verhalten des Mitgefühls entfaltet sich produktiv ein Ethos, das unserer neueren Literaturgeschichte sonst fremd geworden ist und noch irgendwo von verschatteter Quelle, von Lessing her, einem großen Darsteller zurückgekehrt ist.

So steht dieses Buch ernst und stark, klar und gewichtig vor der Zeit: mir fehlt persönlich nur noch eines zur vollen Rundung des Kunstwerkes, und das wäre die gleich große, gleich gerechte Analyse der ergreifendsten Tragödie von Heinrich von Kleist: eine eingefügte Analyse seines Lebens. War es akademische Rücksicht, die ein Werk auf das rein Literarische beschränken wollte, die Gundolf abgehalten hat, die Formen von Kleistens Kunst aus Formen seines Lebens, aus Szenen und Perspektiven seines Schicksals vergleichend zu entwickeln – gewiß ist, daß er mit einer gewissen Absichtlichkeit alle biographischen Elemente aus den Analysen der Werke, aus der Darstellung des Menschen weggelassen hat. So ist, wer Kleist in seiner Ganzheit erkennen will, genötigt, noch eine Biographie des Dichters dieser großartigen Studie zur Seite zu legen und das geistige Bild durch ein historisches zu ergänzen, während es mir, und ich glaube: vielen, glückhaft gewesen wäre, diese Darstellung und Durchdringung gleichzeitig mit der kritischen Überhöhung gerade von Gundolf geformt zu sehen. Er scheint mir der Einzige, der Gestalten erlauchter, abseitiger und dichterischer ethischer Erhobenheit, wie die Kleistens – und hoffentlich bald auch die Hölderlins – im Urzusammenhang von Gestalt und Gestaltung darstellen könnte, und es ist mein einziges Bedauern bei diesem bedeutenden Buch, daß es sich einzig auf die Gestaltung, auf das Geistige beschränkt und nicht auch die Gestalt, das dämonische Schicksal, in den wunderbar geschlossenen Kreis der Erklärung und Beschwörung einbezogen hat.


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