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Der Roman ›Hiob‹ von Joseph Roth

Joseph Roth: Hiob

Was an dem neuen Roman Joseph Roths vor allem so überrascht und ergreift, ist seine große gebändigte Einfachheit. Schon Roths frühere Bücher, ›Rechts und Links‹, ›Die Flucht ohne Ende‹, gaben ihm ersten Rang unter den jungem deutschen Erzählern. Ungewöhnliche Hellsichtigkeit in der Betrachtung politischen und sozialen Lebens und zugleich eine beglückende Hellhörigkeit des Herzens zeichneten sie besonders aus. Aber doch, diese zeitdokumentarischen Bücher entbehrten letzter Gebundenheit, sie waren im strengern Sinn fragmentarisch. Sie fragten hinein in die Zeit, betasteten neugierig alle Probleme, schälten sie auf, sogen geistig lüstern ihr innerstes Arom, ohne aber ihr Wesen völlig künstlerisch aufzuzehren. Es war ein Ergreifen und Wiederfallenlassen, ein Herangehen und Wiederweitergehen in ihnen, eine nervöse Sehnsucht, irgendwo sich zu binden und doch wieder der gleich nervöse Skeptizismus, sich nicht völlig mit dem Glauben einzulassen. Bücher einer aus dem Kriege fremd und fragend, mißtrauisch und wachsam heimgekehrten Generation. Vibration ging von ihnen aus, Erregung, flirrende Farbe, ein feiner, gleichzeitig seelischer und sinnlicher Reiz, aber sie reizten ohne zu befriedigen, und man bewunderte sie, ohne sie ganz zu lieben, und ich wünschte mir sehr heftig, gerade weil ich den gewaltigen Könner, den wahrhaftigen Menschen in Joseph Roth so sehr fühlte und bewunderte, dieser Begabteste von allen möchte einmal sich in einem Werk ganz innerlich zusammenfassen.

Das hat Joseph Roth nun in diesem Roman auf das überraschendste getan, indem er in einer denkbar einfachen (aber wissend kunstvollen) Weise die schlichteste aller Geschichten erzählt. Keines der beliebten Probleme der Zeit, Krieg, Schule, Politik, forcierte Aktualität, sondern ein Heute, das für gestern und morgen und jederzeit gilt und jedem verständlich ist, der mit dem Herzen versteht. Mir und dir und jedermann kann diese wahre und klare Jedermannsgeschichte heute oder morgen oder übermorgen geschehen. Im Nachbarhaus und um die Ecke ereignet sie sich täglich. Man müht sich und wirkt ohne viel Aufhebens und Begeisterung sein tägliches Werk. Man ist nicht so gut als man sein sollte, aber man ist auch nicht so schlecht als man sein könnte. Man ist weder ungläubig noch übermäßig gläubig: man ist eben wie alle, wie die meisten sind. Und dann fällt plötzlich von oben her, von irgendwo ein Schlag und trifft mitten hinein. Mich kann er treffen oder dich oder den Nachbar um die Ecke, den Freund oder den Feind. Unglück schickt über Nacht seinen erbarmungslosen Büttel ins Haus, Krankheit, Tod oder Armut; das Schicksal, bisher gleichgültig, wirft sich in einem plötzlichen Anfall von Bosheit auf einen, und zwar auf einen, der ebenso schuldig oder unschuldig ist wie die andern. Das geschieht jeden Tag links und rechts, im ersten, im zweiten, im dritten oder vierten Stock jedes Hauses, aber immer taumelt dieser eine Mensch auf unter dem Keulenschlag und schreit und ballt die Fäuste und fragt: Warum gerade mich? Was habe ich getan, daß es mich so hart trifft? Warum nicht die andern. Warum nicht den Nachbar, den Freund, den Feind, warum gerade mich unter allen?

Dieser Schrei, über zwei Jahrtausende schon hallt er herüber, der Schrei eines dieser Jedermanns, der anklagende wilde Protest des einfachen, schlichten, gewöhnlichen Mannes, den plötzlich über Nacht das Unglück so anfällt. Hiob hieß der erste, von dem wir wissen, und wohnte im Lande Uz. Ein reicher Mann war er, gottesfürchtig und fromm, aber nicht reicher als die andern und nicht frömmer als die andern, und doch hat gerade ihn Gott ausgesucht, um mit dem Teufel zu streiten, gerade seinen Rücken gewählt zum Austrag der grausamen Wette. Schlag auf Schlag hämmert das Unglück auf ihn los, ohne daß er weiß, warum. Da richtet sich Hiob auf und rechtet mit Gott, ein einzelner mittlerer Mensch lehnt sich gegen das Schicksal auf, und seine Stimme dröhnt anklägerisch durch zwanzig Jahrhunderte. Und jedem Geschlecht wiederholt sie sich tausend- und millionenmal.

Diese Geschichte des ewigen Hiob hat Joseph Roth noch einmal erzählt. Sein Hiob wohnt nicht im Lande Uz, sondern in Rußland; er hat nicht Weide und Schafe und Rinder, nicht den geringsten Reichtum der Erde, sondern ist nur ein kleiner jüdischer Lehrer, »fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude«. Er ist nicht sehr glücklich, er ist nicht sehr unglücklich, er ist fromm, aber nicht fanatisch fromm. Er hat wenig Geld, aber ihm dünkt es genug, er kann sich nichts von den Freuden der Erde gönnen, aber doch legt hier und da seine Frau einen Rubel Erspartes heimlich unter die Diele ihres einzigen Zimmers. Er liebt seine Frau und liebt sie doch nicht zu sehr, er hat Kinder, sie sind gut geraten, aber auch nicht zu gut, alles ereignet sich unbedeutsam bei ihm, mittel und gewöhnlich. Einmal pocht dann das Schicksal mit dem knochigen Finger an, ein Kind wird ihm geboren, das nicht sprechen lernt, in Wachstum und Wesen zurückbleibt, unheimlich in seiner Schwäche und den Eltern heilig. Und seine Tochter, heiß und schön geraten, geht, kaum mannbar, heimlich mit Kosaken. So klopft das Schicksal zum erstenmal, und das Herz des alten Mannes ängstet sich. Aber das Schicksal geht wieder vorbei. Einem seiner Söhne gelingt es, die Familie nach Amerika hinüberzunehmen, dort hat der Junge ein gutes Geschäft, und das Geschäft geht besser und besser; schon 15 000 Dollar verdient er in einem einzigen Jahr. Bequemlichkeit, ja vielleicht Reichtum wartet zum erstenmal auf die Familie des kleinen Lehrers aus Zuchnow. Da wird der alte Mann wieder froh, aber nicht zu froh, denn sein Herz bleibt bescheiden, er wird nicht frech und hochmütig im Wohlstand, so wie er nicht verzagt in der Armut gewesen. Er zieht nicht hinüber mit den andern in den Stadtteil der Besitzenden, bleibt in der engen Judengasse New Yorks im kleinen Zimmer und versäumt nicht sein Gebet. Er ist ein mittlerer Mensch, er hat nicht den Mut, glücklich zu sein, und doch Kraft genug, um sich zu bescheiden in seinem kleinen mittlern Leben und dafür Gott zu danken.

Vorbildlich, einfach ist diese Chronik eines ephemeren Daseins erzählt, die Biographie eines mittlern Menschen, auf den man angeregt und mit warmem Anteil blickt. Aber großartig wächst das Geschehnis nun ins Epische, in das Erschütternde empor, wie jetzt gleich einem Räuber aus dem Wald das Schicksal mit dem Knüppel durch die zehntausend Straßen von New York gelaufen kommt und unter den hunderttausend Kammern der gigantischen Stadt gerade diesen einen kleinen Menschen aussucht, den stillen, bescheidenen alten Mann, um ihm das Herz bei lebendigem Leib aus der Brust zu reißen. Weltkrieg bricht los, der eine Sohn fällt in Rußland, der zweite im amerikanischen Hilfskorps, die Frau stirbt, die Tochter wird wahnsinnig, und von dem kranken Kind, das er in Rußland bei Fremden zurücklassen mußte, kommt keine Botschaft. Hieb auf Hieb, hart auf hart saust aus dem Dunkel das Schicksal auf diesen Arglosen nieder. Über Nacht ist er in der Millionenstadt der Fremde allein geworden, sein ganzes in sechzig Jahren Zoll um Zoll aufgebautes Leben zerstückt und zerstört. Da taumelt er auf, der alte Mann, er muß seinen Schmerz ausschreien als eine Anklage. Und da er niemand weiß, der Schuld hat, so schreit er gegen ihn, der an allem Schuld hat, gegen Gott. Wie im Lande Uz einstmals Hiob seine mit Beulen und Schwären bedeckten Arme gegen den Allmächtigen, so ballt der kleine russische Schullehrer Mendel Singer in einer Hinterstube des Judenviertels von New York sein Herz gegen den Grausamen. Er will sein Gebetbuch verbrennen, und die schrecklichsten Flüche strömen über seine alten zitternden Lippen. Hier bildet Roth genau die Szene der Bibel nach: entsetzt umstehen die Freunde den Gotteslästerer und suchen ihn zurückzuhalten, aber er schlägt ihren Einspruch nieder, und vergebens bereden sie ihn, auf ein Wunder zu hoffen. Nein, schreit er, es geschehen keine Wunder mehr. Und doch, ein Wunder geschieht: der verschollene, ehemals kranke Sohn kommt plötzlich nach Amerika herüber, er ist gesundet und begabt, und er holt den alten Vater wieder zurück in die Heimat. Wie bei Hiob beginnt der alte morsche Stamm noch einmal zu grünen, und die Saite des Schicksals, bis zum Zerreißen gespannt, nun lockert und löst sie sich wieder zu einer zarten, die Seele herrlich beschwichtenden Harmonie.

Mit welcher seelischen Kraft diese Umkehr von Joseph Roth geschaffen ist, werden hoffentlich viele ergriffen fühlen. Mit welcher verborgenen Kunst aber dies Werk gestaltet ist, werden nur die Kenner verstehen, denn seine Einfachheit, seine tiefe Zartheit ist magistraler und kraftvoller als alles Raffinierte und fühlbar Bewußte. Alles Nebensächliche in diesem scheinbar nebensächlichen Schicksal ist weggelassen, um dem Übergewaltigen Raum zu geben. Keine Arabeske stört seine entschlossenen und dennoch niemals schroffen Linien, die von den erzenen Zeichnungen William Blakes zum Buche Hiob inspiriert scheinen, kein Pathos verletzt die volksliedhafte Natürlichkeit dieser durchleuchtend klaren und dem Bildnerwillen allezeit gefügigen Sprache. Man erlebt statt zu lesen. Und man schämt sich nicht, endlich auch einmal von einem wirklichen Kunstwerk ganz sentimentalisch erschüttert zu sein.


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