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Thomas Mann, ›Lotte in Weimar‹

In diesen Tagen der Bedrücktheit muß jede Freude doppelt begrüßt und bedankt sein. Eine solche geistige Freude höchsten wie reinsten Ranges ist uns mit Thomas Manns neuem Roman ›Lotte in Weimar‹ gegeben, einem Meisterwerke, und seinem vielleicht vollgeratensten, trotz den ›Buddenbrooks‹, dem ›Zauberberg‹ und dem Epos von ›Joseph und seinen Brüdern‹. Vollkommen in den Proportionen, vollendet, ja in einem noch nie erreichten Grade durchbildet in der Sprache, scheint mir ›Lotte in Weimar‹ alles frühere nicht nur durch geistige Überlegenheit zu übertreffen, sondern auch durch eine innerliche Verjüngtheit, ein Brio des Vortrags, der beinahe spielhaft leicht das Schwierigste bewältigt und weise Ironie mit einer noblen Getragenheit in einer selbst bei Thomas Mann noch überraschenden Weise bindet. Alles, was die gefesselte und geknechtete Binnenliteratur Hitlerdeutschlands in den sieben wahrhaft magern Jahren produziert hat, ergibt zusammengerechnet nicht Gehalt und Gewicht dieses einzigen Buches aus dem Exil.

An sich schiene die Fabel dieses Romans nicht vielversprechend und kaum mehr Substanz zu haben als die einer souverän zu erzählenden Anekdote oder zierlichen Novelle. Ein literarhistorisches Aperçu, so meint man zuerst: Lotte Kestner, die ehemalige Lotte Buff, die Jugendgeliebte Goethes und unvergeßbar als die Lotte des ›Werther‹, kann der Versuchung nicht widerstehen, nach fünfzig Jahren, nach einem halben Jahrhundert Goethe, den Theseus ihrer Jugend, wiederzusehen. Ein Großmütterchen, reichlich delabriert von der Zeit und sonst weise geworden durch sie, begeht sie die süße Torheit, noch einmal das weiße Wertherkleidchen mit der rosa Schleife anzuziehen, um den ordensbesternten Geheimrat an die süße Torheit seiner Jugend zu erinnern. Und er sieht sie, ein wenig geniert, ein wenig gestört, und sie sieht ihn, ein wenig enttäuscht und noch geheimnisvoll berührt von diesem etwas gespenstischen Wiedersehen nach einem halben Jahrhundert. Das ist alles. Eine Fabel, groß wie ein Tautropfen, aber wie dieser ein Wunder an Farbe und Feuer, wenn angestrahlt vom oberen Licht.

Kaum daß Lotte Kestner ihren Namen einschreibt ins Fremdenbuch, drängt die kleine, neugierig-geschwätzige Stadt heran; einer nach dem andern aus Goethes Kreise kommt, sie zu sehen, und jeder ist genötigt, wie immer das Gespräch sich wenden mag, von Ihm zu sprechen, der sie alle im Bann hält trotz ihren inneren Widerständen und gekränkten Eitelkeiten. So bildet sich aus Reflex und Reflex langsam ein Bildnis Goethes, jede Facette eine andere Seite seines Wesens spiegelnd, und endlich tritt er selbst in die Mitte dieses Spiegelzimmers. Er tritt ein mit einer derartigen Wahrhaftigkeit, daß man meint, seinen Atem zu spüren. Es ist ein Porträt von einer Wirklichkeit und gleichzeitig von einer inneren Durchdringung, wie es nicht annähernd in irgendeinem mir bekannten Romane gelungen ist. Das Kleinliche, das jedem Irdischen anhaftet, ist beobachtet und bewahrt, aber allmählich verdämmert es im immer voller sich ergießenden Licht hinter dem Gewaltigen der Erscheinung. Mit einer Art Tiefenplastik ohnegleichen, die in mancher Beziehung auch Kühnheiten und Verwegenheiten nicht scheut, ist hier von innen heraus die Gestalt gebildet und so bis in jede Bewegung, bis in Tonfall und Geste die Erscheinung verlebendigt, daß man trotz aller philologischen Kenntnis nicht das Zitat von der dichterischen Zutat zu unterscheiden vermag. Dichterische Biographie, unerträglich, soweit sie romantisiert, schminkt und verfälscht, ist hier zum erstenmal vollendete Kunstform geworden; Goethes Bildnis, dessen bin ich gewiß, wird für die nächsten Generationen einzig gegenwärtig bleiben in dieser sublimen Formung Thomas Manns.

Kein Wort des Enthusiasmus scheint mir zu viel für dieses Werk, in dem sich Kunstverstand zu wahrhaftiger Weisheit erhebt und eine fast unheimlich versatile Meisterschaft des Ausdrucks dem größten und zugleich schwierigsten Gegenstande gerecht wird. Es wird in kommenden Zeiten ein literarhistorisches Kuriosum absurdester Art bilden, daß dieses deutscheste Buch, das beste und vollendetste, das seit Jahren und Jahren in unserer Sprache geschaffen wurde, bei seinem Erscheinen den achtzig Millionen Deutschen verboten und unerreichbar blieb. Fast könnten wir eine schlimme Freude empfinden, daß nur uns das (sonst bitter erkaufte) Privileg zuteil wird, es in deutscher Sprache lesen zu dürfen, in der es allein vollendeten Genuß bieten kann (denn jede Übersetzung wird, fürchte ich, viel davon zerstören, und gerade das Zarteste, das in Andeutungen und Beziehungen Schwebende wird dabei verlorengehen). Nehmen wir es darum nicht als Kunstwerk bloß, sondern auch als bestärkenden Beweis, daß für einen Künstler Exil nicht nur Verbitterung und seelische Verarmung bedeuten muß, sondern auch gesteigerte Anspannung und inneres Wachstum erschaffen kann. Und seien wir dankbar, daß wir dieses Buch heute schon empfangen durften, indessen jene andern im tatsächlichen Exil, die innerlich doch im Deutschland Goethes verblieben sind, es erst als Kriegs- und Leidensentschädigung erhalten werden.


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