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Welche legendarischen und mythenbildenden Kräfte in seinem Dasein enthalten waren, hat niemand deutlicher gefühlt als Byron selbst und einmal in einem Gedichte auf das prachtvollste ausgedrückt, wie unmöglich es der Nachwelt trotz Widerstand, Haß und Gegenwehr sein werde, an seinem Bildnis vorbeizugehen. Herrlich wahrsagerisch sind diese Verse, wo er diese seine Kraft beschreibt, gestaltend über sich fort zu wirken:
With all that chilling mystery of mien
And seeming gladnee to remain unseen
He had (if't were not natures born) an art
Of fixing memory on another heart ...
You could not penetrate his soul, but found
Despite your wonder to your own wound.
His presence haunted still; and from the breast
He forced an all unwilling interest:
Vain was the struggle in that mental net –
His spirit seemed to dare you to forget
Diese nur scheinbar prahlerische Ankündigung hat sich durch Jahrzehnte in unglaublicher Weise verwirklicht. Goethe in Deutschland, Grillparzer in Österreich, Victor Hugo und Lamartine in Frankreich, Puschkin in Rußland, Mickiewicz in Polen, alle waren sie unablässig berauscht und beschäftigt von dieser einzigartigen vehementen Persönlichkeit, alle in dieses geistige Netz seiner Seele gezogen, und nach Jahrzehnten der Gleichgültigkeit hebt neuerdings eine stürmische und plötzliche Byronwelle über Europa an. Die Ursache ist leicht einzusehen, denn vor einigen Jahren erst hat durch die Publikation ›Astarte‹ des Lord Lovelace sich manches von dem Schleier gelüftet, der prüde während der viktorianischen Zeit über die Beziehungen Byrons zu seiner Stiefschwester Augusta gebreitet war. Und an dieser biographischen Diskussion mußte sich notwendig das dichterische Interesse wieder entzünden.
Das erste Zeichen dieser Auferstehung innerhalb der deutschen Literatur war neben einer einzelnen Szene in einem Stück von Ernst Toller, eine Novelle Heinrich Eduard Jacobs in seinen ›Narren und Dämonen‹, eine rechte Raketennovelle, die mit einer blitzend aufsteigenden Parabel das Problem Byron erhellt. Sie stellt in richtiger psychologischer Folge dar, wie die snobistisch verlungerte Eitelkeit Byrons (seine Urkraft) durch einen törichten Angriff plötzlich zur dichterischen Tat aufgepeitscht wird, wie die rasende Lust des Sich-beweisen-Wollens aus diesem fanatischen Willensmenschen ebenso gewaltsam den Dichter herausholt, wie sich der Lahmbeinige zum Meisterschwimmer aus einer Umschaltung des Minderwertigkeitsgefühls brutal umzwang. Auch Max Brod hat in seinem dreiaktigen Schauspiel ›Lord Byron kommt aus der Mode‹ – das man hoffentlich bald auf der Bühne sehen wird, die ritterlich romantische Herausforderung an das Schicksal, den dämonischen Selbststeigerungs- und Selbstvernichtungswillen als das Zentrum der Byronschen Seele erkannt, dieses rasend gespannte Ich, das aus Trotz und Übertrotz jedes bisher giltige Maß im Dichterischen wie im Sportlichen wie im Moralischen überschreiten will. Einige Szenen sind darin prachtvoll gelungen und mit absoluter Folgerichtigkeit die Sterbeszene, die Vision Augusta's, seiner Schwester, eingeschaltet, als Symbol von Byrons Urschuld, immer in seinem Kampf mit dem Schicksal auch fremde, schwächere Gestalten mitgerissen zu haben, die dann an seinem persönlichen Übermaß zerstört, an seiner Herausforderung vernichtet wurden. Durchaus bewiesener Dichter, läßt Max Brod in Byron immer den heroischen Menschen, die herrlich expansive urpoetische Natur spüren, und gerade diese ist es, die man auf das enttäuschteste in dem Lord Byron-Roman von Kasimir Edschmid vermißt, einem Werke, dem es wichtiger scheint, apart und amüsant zu wirken, als Byron in die Tiefen und Abgründigkeiten seiner Natur zu folgen. Es geht klug, plauderhaft und recht kokett in diesem Roman zu, Byron heißt darin unentwegt und unentrinnbar Georgy, treibt Sport und raucht sogar die damals noch nicht erfundenen Zigaretten. Schwester Augusta heißt »A«, Lady Byron »Bell«, die phantastische Figur der dicken, cholerischen, Schnaps trinkenden und einem echten Landlord ähnlichen Mutter figuriert als »Mammy«, und es wimmelt von allerhand munterm small talk und kleinen Sportlichkeiten. Aber wo das Zentrale berührt werden sollte, etwa in der brüderlich feindlichen und genial verbundenen Beziehung Byrons zu Shelley, sagt Byron von Shelley zusammenfassend nach einem urbanalen Gespräche »netter Mensch« bei Kasimir Edschmid, während ich mich erinnere, daß er an Murray die entscheidende Zusammenfassung schrieb: »Ich habe niemand gekannt, der mit ihm verglichen nicht zum Tiere herabsinkt.« Kurzum ein Buch, das Unbelehrte vielleicht als Plauderlektüre erfreut, aber gerade diejenigen, die an Kasimir Edschmid doch hohe literarische Ansprüche stellen, nur enttäuschen und geradezu erbittern kann.
Nach einer solchen Verplauderung und Vergesellschaftlerei eines tragischen und eminent dichterischen Problems tut es dann geradezu wohl, eine sachlich klare, gerechte, übersichtliche Biographie zu lesen. Helene Richter hat sie geschrieben, und sie darf selbst nach der ausgezeichneten von Ethel Colburn-Magne in Ehren bestehen. Eine geheimnisvolle Anziehung scheint auf Helene Richter gerade der dämonische Dichtercharakter auszuüben, denn wir danken ihr schon das ausführlichste, gründlichste und belehrendste Buch, das über den dichterischen und malerischen Mystiker William Blake in deutscher Sprache geschrieben wurde und in dem die gleiche gründliche, solide und gerecht abwägende Methode zu überzeugendsten Resultaten führt. In diesem monumental angelegten Werke stellt sie Byron vor allem mitten in die Zeit, so daß er nicht wie ein Meteor wirkt, sondern trotz seiner scheinbaren Gegensätzlichkeit als urtümliches Produkt seiner Rasse und Gesellschaftsklasse, und ausgezeichnet ist dann entwickelt, wie sich aus den allgemeinen Bedingtheiten die leidenschaftliche Revolte, die eigenwillige Einmaligkeit Byrons entfaltet. Mit viel Wissenschaft ist dann seine europäische Wirkung ausgedeutet und mit Recht die Kunst seines Briefstils, seiner privaten Äußerungen den dichterischen beinahe gleichgesetzt. Man spürt hier nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte einer säubern und sorglich schaffenden Wissenschaft, die durch Fülle des einzelnen das Gesamtbild erkundet, und man spürt hinter dieser philologischen Mühe die tief innerliche künstlerische Neigung, die ehrlich bewundernde Liebe, ohne die es keine wahrhafte Gestaltung gibt.
Viel Liebe, sehr viel wirkende und schöpferische Liebe, vielleicht nur – dies als einzige Einschränkung eine manchmal etwas zu mütterlich verbergende, zu vorsichtig zudeckende Liebe. Die Beziehung zu Augusta, der Stiefschwester, faßt für mein Empfinden Helene Richter etwas zu ängstlich an, als ob es hier wirklich noch etwas Todsündhaftes zu bemänteln und zu verstecken gäbe, als ob nicht gerade der tiefste Sinn Byrons eine Herausforderung an das Schicksal gewesen wäre und seine tiefste Schuld, daß er im Augenblick der Krise (wie Goethe bei Friederike) sich durch Flucht rettet und die ganze von ihm heraufbeschworene Qual der Zurückbleibenden hinterließ. Verschwiegen wird vielleicht auch die andere Schuld, die mit Recht die Engländer niemals dem Gentleman Byron verziehen haben: nämlich seine gefährliche Beichtlust, alles von sich auszuplaudern, seine privatesten Verhältnisse, seine intimsten Beziehungen, selbst die gefährlichsten und wie in diesem Falle naturwidrigsten, in Dutzenden Briefen und unter dünner Verhüllung in seinen Werken aller Welt ins Ohr, nicht zu flüstern sondern zu schreien; gerade zu diesem Charakterschattenpunkt wäre auszuführen, wie das selbstdarstellende Genie seiner introvertierten Natur sich im privaten Leben kleinlich, beinahe lächerlich offenbart in einer peinlichen und wenig reinlichen Indiskretion, wie das Minderwertigkeitsgefühl des Körperlichen sich durch Exzesse der Selbstvergottung kompensiert. Das sind termini technici der Psychoanalyse, ich weiß es, aber vielleicht fehlt nichts diesem prächtigen Buch so sehr als der Mut und die Freiheit dieser neuen Psychologie, denn man darf ruhig sagen (um ein berühmtes Wort zu paraphrasieren), daß heute keine psychologische Biographie mehr ohne einen Tropfen freudischen Öles geschrieben werden kann, ohne die mitleidslose, bis zu physischen Organen niederblickende Psychoanalyse, die hinter jeder »Seelenschuld« die natürlich logische Ursache als ein Selbstverständliches sieht. Im Psychologischen bleibt hier darum die Durchdringung hinter dem Literaturwissenschaftlichen zurück, und es ist vielleicht kein Zufall, daß diesem Buche vor dem Titel gerade die Büste von Thorwaldsen vorgeheftet ist, die nach bewährt alter Auffassung den »Dichter« in makelloser Schönheit, den Blick sinnend zum Himmel erhoben und den Bleistift in der Hand zeigt. In ebenderselben schönen, idealistischen, uns aber nun schon etwas allzu idealistischen Auffassung ist das Buch geschrieben, ebenso technisch vollendet in seiner Art als die Büste Thorwaldsens als Kunstwerk, aber in der Haltung, in dieser allzu schönen, allzu »poetischen« Einschleichung unserem Generationsgefühl nicht mehr ganz gemäß.
Darum ist es gut, daß diesem wissenschaftlich trefflichen und vorzüglich gearbeiteten biographischen Werk eine moderne psychologische Untersuchung zur Seite tritt: ich meine das anregungsvolle, reiche und auch seelisch profunde Buch von Charles Du Bos. Charles Du Bos ist eine exegetische Natur. Er schafft keine ganz reinen, selbständigen Bildnisse, sondern prachtvolle psychologische Paraphrasen zu jedem geistigen Gegenstand. In einem engen Kreis von Paris, vor fünfzehn, zwanzig Zuhörern hält er seit Jahren Vorlesungen über Byron und Novalis, über Baudelaire, über Gide – großartige Kurse, die bisher nie die Öffentlichkeit erblickten. Jetzt sind zum erstenmal seine sechs Vorlesungen über Byron und Gide gesammelt, und nun erst weiß man, welch erlesener Genuß durch überlange Zeit einzig einem engsten Zirkel vorbehalten war. Charles Du Bos reizt nur das Geheimnis an jeder Natur. Einzig das Schwierigste in jedem Problem betrachtet er in seiner wissenden und durchdringenden Art, und manches ist hier von Byron zum erstenmal festgestellt, was der früheren, auf der alten Psychologie fußenden Betrachtung niemals verständlich war, vor allem die merkwürdige Dreieckbeziehung zwischen Byron, seiner Schwester und seiner Frau und die merkwürdige Kontrapunktik seiner innern, eisigen Menscheneinsamkeit und seines Bedürfnisses, die ganze Menschheit mit seinem Ich zu beschäftigen. Legt man diese beiden Bücher zusammen, das übersichtliche, tatsachenreiche und plastisch die Figuren voll umreißende der Helene Richter mit diesem aufhellenden, diesem geistig fluktuierenden und seelisch orientierenden des Charles Du Bos, so ergibt sich ein vortrefflicher Zusammenklang, eine wie vom geistigen Schicksal fast geforderte und gewollte gegenseitige Ergänzung. Mit diesen beiden Werken und der schon angekündigten Biographie von Maurois dürfte wahrscheinlich für einige Jahrzehnte wieder die geisteswissenschaftliche Position Byrons endgiltig umrissen sein, aber nur für einige Jahrzehnte; denn es ist das Wesen jeder wahrhaft problematischen Natur, daß sie ihre Fragen immer neuen Geschlechtern entgegenstellt und so die innere Schöpfungsenergie immer wieder in neuproduktive umsetzt: Gestalten, die vollkommen ausgedeutet sind, haben das Beste ihre vitalen Kraft verloren. Nur die nicht völlig zu erschöpfenden – und Byron gehört zu ihnen – werden nie ganz Geschichte, also Vergangenheit, sondern bleiben Mythos und damit fortgestaltete Gegenwart.