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Jeremias Gotthelf und Jean Paul

Nachdem wir nun Jahr um Jahr in neuer Sturzflut die Gesamtausgaben ausländischer Erzähler in drei-, vier- und fünffacher Gleichzeitigkeit von allen deutschen Verlegern dargeboten bekamen, nachdem Dostojewski und Balzac und Flaubert und Zola und Maupassant und Gogol mit vielen anderen kleineren die Bibliotheken und Buchläden füllten, kommen nun spät und nachzüglerisch endlich zwei große Epiker deutscher Sprache an die Reihe, Jean Paul und Jeremias Gotthelf. Sie waren beide sehr lange und sehr weit in Deutschland berühmt, waren beide sehr lange und sehr radikal vergessen worden, so daß man schließlich die Antiquariatskataloge absuchen mußte, um nur eine halbwegs brauchbare Ausgabe von diesen einstigen Lieblingen der deutschen Nation zu finden. Nun, nach so vielen anderen Experimenten und Versuchen sind auch sie uns endlich wieder entdeckt, diese beiden Abseitigen, der Pfarrer aus Lützelflüh und der romantische Träumer aus Wunsiedel. Den einen, Jean Paul, bietet eine sehr kompakte und doch gleichzeitig schöne Ausgabe von Eduard Berend im Propyläen-Verlag in fünf wuchtigen Bänden dar, den anderen, Gotthelf, verheißt uns der Verlag Eugen Rentsch in Erlenbach in der Ausgabe von Dr. Rudolf Hunzinger in 26 Bänden, von denen bisher 11 gleichfalls in sauberster Ausstattung und angenehmstem Druck vorliegen. Sie haben beide lange warten müssen bis zu ihrem neuen Weg in die deutsche Welt und bekamen dafür zum Lohn ein festliches Gewand.

Und nun, da sie uns, die beiden Vergessenen, wiedergegeben sind, sei die Frage versucht, erstlich warum sie einmal so lange und so tief verloren und vergessen gehen konnten, und zum zweiten, ob sie und wieviel sie nach unserem gegenwärtigen Gefühl noch bedeuten. Ob sie wirklich nur zehn oder zwanzig schön gebundene Einbandrücken sind, die einer Bibliothek den gesicherten Eindruck der Vollständigkeit vermehren, oder ob man noch oft und gern aus dieser ungemeinen Fülle sich eine Stunde dankbar erheben wird. Es tut unbedingt not, sich selber gegenüber vollkommen aufrichtig zu sein, nicht durch Ambition, geräuschvolle Wiedererweckung in eine unaufrichtige Begeisterung sich hineinzureden, sondern diese zweifellos großen Gestalten den veränderten Ansprüchen veränderter Zeit als Prüfstein und Wertung gegenüberzustellen.

Die erste Frage, warum die beiden so lang und so tief vergessen waren, läßt sich gemeinsam beantworten: sie waren beide zu umständlich, zu breit, zu abschweiferisch für das Jahrhundert geworden. Sie schrieben im Postkutschentempo und spannen die Erzählung wie einen Spinnrocken, und das vertrug die Epoche der Eisenbahnen und mechanischen Webstühle nicht mehr. Sie hatten Zeit in ihrem Abseits, in ihrem kleinen Dörfchen, der Pfarrer Bitzius und der emsige Skribent Jean Paul Richter, sie setzten sich jeden Morgen, wenn die Hähne krähten, vor ihren Tisch und schrieben Bogen um Bogen voll, und die Menschen, die ihnen zuhörten, waren kleine Leute, die Zeit hatten: sentimentale Mädchen bei Jean Paul und Geistliche und Bauern bei Jeremias Gotthelf, die abends beim Kienlicht diese Erzählungen langsam und geduldig lasen, wie den Bauernkalender und die Postille. Dann aber begann die Zeit rascher zu kreisen, die Menschen Bedürfnisse zu haben nach stärkeren Spannungen, drastischeren Geschehnissen. Den Weltmenschen vergnügungssüchtigeren Sinnes waren die engen Milieus, die moralischen Erörterungen des Pfarrers und Dorfträumers nicht mehr genug, und so verstaubten allmählich die einst so zerlesenen Bände in den Schränken der alten Leute, und die junge Generation schlug sie nicht mehr auf.

Aber das Rad läuft immer wieder zurück, und gerade Überspannung erzeugt Sehnsucht nach Entspannung. In unseren Tagen ist der als der langweiligste Roman verschriene deutsche Roman, für dessen vollkommene Lektüre Hebbel einmal höhnisch die »Polnische Königskrone« versprochen hatte, ist Adalbert Stifters wunderbarer ›Nachsommer‹ und sogar sein ›Witiko‹ mit all seiner Geschehnislosigkeit oder vielleicht eben darum wieder zu Ehren gekommen, und wie eines Verschollenen besinnen wir uns wieder Jean Pauls und Jeremias Gotthelfs. Und nun, da die beiden Werke so ziemlich vollzählig vorliegen, kann man die zweite Frage wagen, was von diesen beiden Werken, von diesen beiden sonderbaren und großen Dichtern unsere Welt denn noch wirklich zu werten vermag.

Hier aber gabelt sich (wenigstens bei mir) die Empfindung, und man kann diese beiden Dichter gleichen Schicksals nicht mehr einhellig, sondern eher im Gegensatz behandeln. Ich gestehe offen, und gegen viele laute (und vielleicht nicht immer ehrliche) Bewunderung, daß ich von Jean Paul kaum mehr als je drei oder vier Seiten hintereinander zu lesen vermag, so restlos ich sonst seine ganz einzige Sprachvielfältigkeit, seinen krausen Einfall und seine sinnreiche Behendigkeit bewundere. Aber ich kenne auch kaum einen Autor deutscher Sprache, der einen so müde macht durch das ewige Zick-zack seines Einfalls, durch das Übermaß an Ornamenten, die die Erzählung überwuchern und selbst ihre edelste Blüte, den Humor niederziehen. Das gewaltsam Schrullige, das unablässig Hyperbolische, das Spielerische und Verspielte seiner krausen, beständig irrlichternden und nie klar bildenden Phantasie verdirbt mir die Fähigkeit der Einfügung, ja sogar die Fähigkeit des bloßen zu Ende-Lesens bei diesem reichen, überschwenglich reichen Geiste. Ich muß zu meiner Schande bekennen, daß, wiewohl ich hier ein Urteil über ein Gesamtwerk wage, ich weder den ›Titanen‹ noch den ›Hesperus‹ eigentlich wirklich gelesen habe, weil es mir nicht möglich war, zielhaft vom Anfang bis zum Ende zu kommen. Ein paar einzelne Seiten bedeuten mir jedesmal unerhörten Genuß, führen mich gleichsam in eine neue Welt der Sprache, in eine heitere Sphäre der Betrachtung, wo sich die Welt aus Chaos oder Geschäften in ein behaglich katzenhaftes, schnurrendes Spiel verwandelt, ich genieße mit innigster Freude die naive ebenso wie die wissende Romantik mancher Szenen und den skurrilen Humor der ›Badereise‹ – aber doch, diese kleinen Stimmungen, so sehr sie befeuern, ermüden, wenn man sie zu einer regelrechten Lektüre dehnen will, und für ein wirkliches Durchackern der großen Romane muß mir irgendein Sinn der Gemächlichkeit, der bequemen Sofaruhe und Gartenlaubensiesta irgendwie fehlen, denn obwohl ich vier- oder fünfmal schon angesetzt habe, ist es mir niemals gelungen, durch das Labyrinth der Worte bis an das Ende eines seiner großen Romane zu gelangen. Ich bin immer umgekehrt vor dem Ende, niemals enttäuscht und immer wieder zufrieden, einen kleinen Spaziergang im Ziergarten Jean Pauls zu tun, aber im ganzen finde ich ihn doch nicht als Welt von unserer Welt, mein Gefühl weicht ab von seinen weiblichen Sentimenten, und ich verstehe, daß diese überschwengliche Seele trotz ihrer Fülle niemals mehr die unsere in Schwung versetzen kann. Es ist gut und lobenswert, daß wir ihn nun wieder nahe haben durch diese neue Ausgabe, die ganz auf einen Zug zu lesen keinem Deutschen von heute wohl mehr möglich sein wird und die doch für Vereinzelte ganz sorglose Stunden, ein angenehmes »Blumenstück« oder ein »Souvenir« aus dem deutschen Traumland bieten wird.

Ganz anders dagegen, urmächtig und gewaltig, eine unbekannte riesenhafte Kraft, erhebt sich Gotthelf vor uns, ein mächtiges Schweizer Gebirge, das nun, da die Nebel von ihm gesunken sind, die anmutige und bezaubernde Höhe Gottfried Kellers in vielem überragt. Gotthelf hat den Genius des unbestechlichen Blickes. Er sieht klar in Menschen und Dinge hinein, mit mehr durchdringendem als sentimentalischem Auge. Er hat eine ungeheuere Kenntnis des Lebens, sowohl der Natur als des menschlichen Betriebes und seiner geheimsten Innenwelt der Seele. Er hat die Gabe der Plastik, das saftige sinnliche Wort, das nicht Unzucht mit der Literatur getrieben hat, sondern gesund genährt vom schweizerischen Volksklang, strotzend und saftig aufgewachsen ist. Er hat alle Vorzüge eines großen epischen Erzählers und dazu noch die sittliche Reinheit eines entschiedenen Charakters, der mit seinem Werke nicht nur Zeitungsblätter füllen, sondern eine Jugend bessern, eine Zeit aus ihrer moralischen Verworrenheit herausheben wollte. Dieser Wille vielleicht verdirbt, wenn er überstark wird und immer Exempel zeigen will, statt bloß zu bilden, den Kunstwert manches seiner Werke, wozu ich selbst seinen einst so berühmten Roman ›UIi, der Knecht‹ rechnen möchte, der allzusehr Bildungstraktat und (bei aller Kunst) Sonntagspredigt für junge Knechte trotz all seinen Herrlichkeiten ist, während der unbarmherzige, grandiose, naturalistische ›Bauernspiegel‹, ein fast unbekanntes Buch, für mein Empfinden eine der großartigsten Schöpfungen epischer Plastik darstellt. Nur scheinbar fehlt es seinen Romanen an Weltweite, wenn sie auch von den großen Schweizer Bergen umgrenzt sind, aber in diesen engen Tälern ist ein unendlicher Reichtum, eine unsagbare Vielfältigkeit von Charakteren und Begebenheiten, eine kulturhistorische unvergleichliche Fülle von Details des bäuerlichen und bürgerlichen Lebens, die sie schon rein dokumentarisch für alle Zeiten unentbehrlich macht. Auch er, Gotthelf, läßt sich ebenso wie Jean Paul nicht in einem Zuge durchlesen, auch er müdet stellenweise durch Breite, durch Predigereinschuß und politische Diskussionen, auch von ihm muß ich bekennen, nicht gleich auf einen Hieb alle seine Romane gelesen zu haben, aber den vieren oder fünfen danke ich seltensten Genuß und den Eindruck mächtigster Persönlichkeit. Kaum an irgendeinem deutschen Gestalter (außer Stifter) hat die immer zu sehr nach Norddeutschland orientierte Literaturgeschichte der letzten Jahrzehnte so sehr Unrecht getan, als an dem Pfarrer von Lützelflüh, und ich glaube, daß das Erscheinen dieser Gesamtausgabe, die zum erstenmal mit gereinigtem Text in klarem, vom Schweizer Idiom nur schmackhaft durchsalzenem Hochdeutsch uns seine Werke darbietet, in kurzer Zeit die wahre Größe dieses allzusehr und allzulange verkannten großen deutschen Erzählers wird gewahr werden lassen.


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