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Aus Zilles Kindheit.

Zu diesem Kapitel ist besonders zu beachten das Kapitel »Zille als Künstler«, in dem schon manches von seiner Kindheit gesagt ist.

Wie fast alle Menschen aus dem Volke, weiß Zille wenig von seiner Familie und seinen Vorfahren. Eines aber ist sicher: Er, der scheinbar so ganz waschechte Urberliner, stammt nicht aus Berlin. Daß er aber durch und durch Berliner geworden ist, daran ist nicht zu zweifeln. Seine ganze Art ist berlinisch – spöttisch gegen sich selbst und gegen allerlei Auswüchse, besonders aber gegen Stärkere, ist er gefühlvoll mit den Schwachen. Und außerdem eignet ihm eine gewisse Lebhaftigkeit. Die aber hat er gewiß von seinen Vorfahren, die aus Sachsen stammen und gewiß auch böhmisches Blut in sich hatten.

Am meisten weiß Zille von den Vorfahren »von Mutters Seite«. Die Mutter hat zweifellos auch in seinem Leben ein wesentliches Quellengebiet seiner Begabung und seiner Künstlerschaft und seiner ganzen Art gebildet. Wie ja im Leben vieler Künstler die Mutter entscheidend ist. Hier müßte es wirklich heißen: Suchet die Mutter!

Allerdings scheint Zille nicht nur von der Mutter Gutes geerbt zu haben, sondern auch vom Vater. Er erzählt von ihm:

»Der hatte Schmied gelernt. Auf der Wanderschaft fand er eine Stellung als Schlosser. Und als er in den siebziger Jahren nach Berlin kam, gelang es ihm, bei Siemens anzukommen und dort an den Morse-Telegraphen und ähnlichen Apparaten zu arbeiten. So hatte er sich in seiner Arbeitsweise ohne besondere Lehre verfeinert und konnte schließlich in die große Goldschmiedewerkstatt von Friedländer, Unter den Linden, als Werkzeugmacher eintreten. Er führte die bei den Goldschmieden bis dahin fast ganz unbekannte Drehbankarbeit ein und brachte den Goldschmieden auch sonst mancherlei technische Kniffe bei. Bis in seine letzten Jahre und Wochen – er wurde auch über siebzig Jahre alt – arbeitete er für diese Werkstatt. Und als er nicht mehr hingehen konnte, ließ er sich die Arbeit in seine Wohnung bringen. Die alten Gesellen aus der Werkstatt, die einst in der Rosmarienstraße lag, sagen:

 

180. H. Zille: Meine Großmutter.

Nach dem Originalaquarell.

 

›Ja, die Werkzeuge von dem alten Zille, die halten wir noch in Ehren!‹«

Der Vater hatte mehrere Brüder. Von denen erfuhr Zille wenig. Sie wußten selbst untereinander fast nichts von ihren Brüdern. Nur alle paar Jahre tauchte mal einer von ihnen auf – um dann wieder jahrzehntelang nichts von sich hören zu lassen.

Zille selbst wurde 1858 in Radeburg geboren. Der Vater betätigte sich damals als Uhrmacher, schmiedete aber auch eiserne Gitter. »Mein Vater hat mir genau aufgeschrieben, wo überall Werkstücke von ihm sind. Die sollte ich mir später alle ansehn ....« Zilles Großvater war Bergmann.

Auch an der Forstschule von Tharandt sind Arbeiten seines Vaters.

Nicht nur der Großvater Zilles war Bergmann und ist später Uhrmacher geworden. Auch ein Onkel von ihm, ein Bruder seiner Mutter, ging in die sächsischen Bergwerke. Die waren damals noch sehr wenig ausgebildet. Oft lag die Einsteigstelle in den Schacht eine Stunde zu Fuß von zu Hause weg. Und wenn sie endlich da waren – die Leiter runtergeklettert und wieder 'ne Stunde Wegs zurück fast bis an die Stelle, wo sie wohnten. Da mußte dann, oft krauchend oder auf dem Rücken liegend, zehn Stunden lang das Gestein losgehauen und in die »Hunde«, die kleinen Kohlenkarren, geschaufelt werden. Und doch reichte der Lohn für die schwere Arbeit nicht aus, um die Familie zu ernähren. Viele Kinder jener Gegend mußten damals in die Streichholzfabrik gehen und die Hölzer in Phosphor und Schwefel tunken – schließlich hatten die Kinder gar keine Fingernägel mehr...

Kriegte dann der Bergmann seine paar Mark Hungerlohn – höher kam er damals nicht in der Gegend, wo ja 'ne Heimarbeiterin in der ganzen Woche nicht mehr als dreiundzwanzig Pfennig verdiente – dann wollte er seiner Familie was Gutes antun und kaufte ein geschlachtetes Kietzel – 'ne Katze, oder wenn's ganz hoch hergehen sollte, ein Stück von einem Hund. Ja ja, in den armen Gegenden im Erzgebirge werden heute noch Katzen und Hunde verspeist – ganz so, wie das Rosenow im »Kater Lampe« geschildert hat. Die Leute reden sich damit raus, sie essen's wegen dem Fett, das gegen manche Krankheit gut sein soll. Aber in Wirklichkeit essen sie das Zeug doch bloß wegen der Armut ...

Und der Bergmann durfte nichts sagen, wenn der Kohlenbaron Viere lang fuhr durch die schmalen Straßen, daß der Dreck in die Fenster spritzte und der Arbeiter sich an die Hauswand drücken mußte – und sich die Spritzer aus't Gesicht wischen durfte.

»Mein Onkel – na, der hatte noch Glück. Der hatte 'n Unfall!« sagte Zille mit bitterem Hohn. »Da brauchte er nicht wie die andern bis an sein Lebensende unter der Erde rumkrauchen. Eigentlich hätte er nun mit dem Kasten, in dem ein kleines Spielbergwerk zu bewegen war, durch die Lande betteln gehen können. Das Recht hatte er durch den Unfall erworben – ja: ›Nu kannste betteln gehn!‹ hieß es damals, wenn man sein Bein oder seinen Arm bei der Arbeit verloren hatte! – Aber mein Onkel hatte ja manches von meinem Großvater Heinitz, der ja auch basteln konnte, was eben vorkam. Und mein Onkel suchte sich nun auch sitzende Beschäftigung, als er sein Bein verloren hatte. Er fing die Uhrmacherei an, schaffte sich bald ein Häuschen, dann ein Haus – fing einen kleinen Handel an – auch mit Geschmeide – und machte so sein Glück durch den Unfall.«

*

Von dem Vater seiner Mutter plaudert Zille manchmal sehr anschaulich. »Der alte Heinitz hatte auch einen Unfall gehabt und legte sich aufs Uhrenausbessern. Er machte die Uhren seiner Arbeitskameraden ganz, und sie kamen auch alle zu ihm – ja, das war Ehrensache. Manchmal brachten sie auf Handwagen ihm ganz große Wanduhren an. Die Frau zog und der Mann trug, damit 's nicht zu schwer sein sollte, die Gewichte. Meist waren's auch bloß schwere Steine. ›Ach, Herr Heinitz ...‹ fingen sie an und erzählten 'ne lange Geschichte, was sie schon alles versucht hätten, um die Uhren wieder in Gang zu bringen.

›Na, ich werde mal nachsehen,‹ sagte der Großvater, ›kommen Sie mal wieder mit heran.‹

Ich schleppte die Uhr, wenn sie nicht zu schwer war, in'n Garten, machte das Gehäuse auf und fegte mit'n Gänseflügel erst mal 'n ganzen Schwung Schwaben und Wanzen raus. Ja, beim Großvater mußten wir alle ran. Sehr oft hab' ich auch die Räder putzen müssen. Die Leute brachten auch Taschenuhren, noch die alten, dicken Spindeluhren. Wenn wir die nachsahen, lagen darin vertrocknete Flöhe. Beim Aufziehen mußten sie wohl aus'm Ärmel reingefallen sein.

Die hatten sich dann ins Werk geklemmt. Wenn die Werke sauber gemacht waren, dann gingen sie wieder.

Ja, der Vater von der Mutter, der alte Heinitz, war 'n spaßiger Mann. Was der alles anstellte! Mal hatte er kleine goldene Mützen gemacht – und Spatzen gefangen, die bekamen die Mützen aufgesetzt. Als sie dann weder weggeflogen waren und sich über die Pferdeäpfel hermachten, rief mein Großvater die Mädchen und Frauen aus der Nachbarschaft zusammen und zeigte sie ihnen. Die staunten aber bloß immer:

›Ach nä – Herr Heinitz!‹

›Ja, das sind welche aus Afrika, das is 'ne ganz besondere Sorte‹, belehrte Großvater sie.

Wenn er draußen im Hof arbeitete, dann sang er dabei allerlei Lieder. Die waren manchmal ganz saftig. Und die Frauensleute kicherten. Ich stand auch dabei und hörte zu, aber ich verstand ja nichts davon.

 

181. Der Ortsvorsteher von Stralau-Rummelsburg.

Nach dem bisher unveröffentlichten Original.

 

Sonntags setzte er sich an sein Instrument, ein altes Harmonium, und spielte Kirchenlieder.

›So, nun ist Kirche‹, sagte er.«

*

Aus trüben Kindertagen sagte Zille vor sich hin:

»Als ich noch kleen war, da klappte was nich bei meinem Vater – un Mutter un wir Kinder mußten zu Jroßmuttern. Na – 'ne Weile lang ging ja das ganz gut.

Da hatte ich auch Jelegenheit, die Vaterlandsverteidiger und das ganze Soldatenwesen kennenzulernen. Sechsundsechzig kam mit'n Mal der Preuße an. Un da marschierten zuerst unsere sächsischen Vaterlandsverteidiger ein. Da wurden immer Berge von belegten Broten hingestellt. Die braven Soldaten fraßen den Belag herab und sagten murrend und drohend:

›Is des was for uns Vaterlandsverteid'ger?‹

Die alten Semmeln, eine Festgabe für uns Kinder, schmissen sie uns an den Kopf.

Die Preußen, die kamen ja denn bald – un die waren vernünftig – die aßen wat se kriegten. Die hielten Ordnung un Mannszucht. Die sahen, daß wir selbst nichts hatten und schenkten uns Jungs hier und da 'ne Scheibe Kommißbrot.

Ja – da kriegte ick wat zu sehen un zu hören. Die Uniform macht doch die Menschen gar zu leicht überheblich und unvernünftig! –

Aber schließlich – det kostete ja doch allerlei, wenn wir alle mitaßen. Un wenn't Jeld kost't, is't selbst Jroßmuttern schließlich uff die Dauer zu ville ...«

*

»Als wir noch bei Jroßmuttern uff't kleene Nest hausten, da waren wir froh, wenn wir Kinder 'ne harte Semmel kriegten. Die gab's damals fürs halbe Geld. Das ging fast alle Kinder so. So alt war die Semmel, daß wir sie nicht beißen konnten. Dann gingen wir an'n Brunnen und hielten sie unters Wasser – un weichten sie erst auf, um sie überhaupt essen zu können.

Das war noch was Feines, damals – 'ne harte Semmel ....«

*

»Schließlich zogen wir nach Dresden. Und da lernte ich schon mithelfen. Damals mußten doch de Joldfischjläser auf der Kommode zwischen den Fenstern oder auf'n Disch in der guten Stube stehn. Da hielt jede ordentliche Familie drauf. Und in den Gläsern mußte auch was drin sin – nich bloß Fische. Wer was uff sich hielt, hatte auch noch Korallen drin – so'n roten Zweig. Echt waren die selbstverständlich nicht. Die mußten künstlich sein. Und da machte ich die aus Draht und dann noch was rumgewickelt – und dann mit so'n bestimmten Lack überzogen – und der Korallenzweig aus der Südsee war fertig.«

*

»Jaja, meinem Vater ... dem war's schlecht gegangen. ›Mösers Ruh‹, das alte Schuldgefängnis in der Köpenicker Straße, kennen Sie doch? Da soll jetzt 'ne Kneipe drin sein. Aber früher wurden Leute festgesetzt, ihrer Schulden wegen vom Gläubiger. Hatten mehrere 'ne Schuld aufgenommen, dann konnte einer den andern ablösen. Das nannte man ›Wechselhaft‹. Na, und in solche Sache war mein Vater ganz ahnungslos reingeschliddert. Zuerst saß er auf dem Boden des Dresdner Gerichtsgebäudes in der Landhausstraße und genoß seinen unfreiwilligen Landaufenthalt. Wir konnten ihn besuchen. Manche leere Wein- und Bierflasche – noble Abenteurer waren darunter – ging dann mit und wurde im Lumpenkeller verschärft.

Als aber das Gesetz über die Schuldhaft fiel, wurden die Gläubiger erst recht unangenehm. Mein Vater ging ihnen aus dem Wege und fuhr nach Dänemark. Wir andern zogen im November 1867 nach Berlin. In der Kleinen Andreasstraße 17 hatten wir unsere erste Wohnung. Na, viel Wirtschaft besaß die Mutter nicht. Ein Ofen, ein Schemel, eine Tasse ohne Henkel und als Tisch der Koffer, das war unser Speisezimmer – auf der Erde schliefen wir. Es war manchmal hartes Lager ...«

*

»Ja, damals gab's noch allerlei Originale in Berlin: Guckkastenmänner und Drehorgelspieler mit dem Abzeichen aus den Befreiungskriegen. Die Pferde wurden in der Spree geschwemmt, und weil's noch keine Wasserleitung gab, schöpften Männer das Flußwasser in Tonnen und ›handelten mit der Spree‹. Die Frauen nahmen das weiche Flußwasser gern zur großen Wäsche.

Auf der Spree selbst kamen Hunderte von Torf- und Holzkähnen an. Torfweiber, wie sie Hosemann und Dörbeck gezeichnet haben, barfbeinig und bis in die Ohrenlöcher schwarz, trugen den Torf in Kiepen auf dem Rücken den Käufern zu.«

*

Zille war schon als Kind sehr betriebsam. Das hatte er zweifellos zuerst von der Mutter, die sehr geschickte Hände hatte:

»Was die Mutter einmal sah, das konnte sie gleich!«

Er bewährte sich auf allen möglichen Gebieten:

Als ich noch 'n kleiner Junge war, mußt' ich für unsre Hauswirtin in der Krautstraße, 'ne Schlächtersfrau, die Briefe, die Anmeldungen und so schreiben; sie konnte das nich. Dafür kriegte ich jedesmal 'n Stück Wurscht; sie zahlte regelmäßig mit Wurscht. Ich hatte manchmal so ville, daß ich in der Schule davon abgeben konnte. Damals hieß ich jradezu »Wurscht-Zill«. Ja, nun staunste: »Zill«. Jahrelang, noch in meiner ersten Zeichnerzeit, hieß ich Zill. So steht's auf meinen Zensuren, auf meinen Zeugnissen ... Erst viel später entdeckte ich, daß mein Vater bei unserer Übersiedlung nach Berlin das »e« hinten stillschweigend abgehängt hatte – um seinen drängenden Gläubigern zu entgehen.

*

In der Gemeindeschule in der Krautstraße und mehr noch im Umgang mit den Jungs seiner Straße wurde der »gleene Sachse« dann rasch zum richtigen Berliner. Zum Spielen mit den Straßenjungs blieben ihm jedoch oft nur wenige Minuten. Er mußte seiner Mutter bei der Heimarbeit fleißig helfen.

 

182. Die von der Arbeit erschöpfte Mutter.

Nach der bisher unveröffentlichten Originalzeichnung.

 

Abends hatte er einen kleinen Nebenverdienst gefunden. Vor dem Wallnertheater verkaufte der Knirps Theaterzettel. »Einmal bin ich sogar in 'ner Loge des Theaters gewesen. Ein Herr und eine Dame meinten, wenn ich mit den Zetteln handle, müßte ich auch das Stück kennen – und nahmen mich mit. Ausgerutscht bin ich auf dem glatten Parkett nich – ich war barfuß. Die ›Mottenburger‹ wurden gespielt. Na, ich glaube, beim damals viel gefeierten Puppenspieler Linde hat's mir besser gefallen.«

Wir mußten alle mitverdienen. Mutter schnitt Tierchen aus Stoffresten; daraus nähte sie Tintenwischer oder Nadelkissen. Die durften aber nicht mit Sand gefüllt werden. Im Sand rosteten die Nadeln. Da ging ich denn in die Lumpenkeller und kaufte den Weberstaub. Beim Weben ballt sich doch der Wollstaub, der dabei abfliegt, zusammen.

Ich sagte natürlich nicht, wozu ich den Staub gebrauchte. Hätten die Lumpenmatze gewußt, wozu ich die Ballen haben wollte, daß ich die zum Geldverdienen brauchte, hätten sie mir feste Geld abgenommen. Ich sagte, daß ich's zum Spielen brauchte. Da bekam ich die Dinger für'n paar Pfennige.

In den Pelzläden in der Post- und in der Königstraße holte ich die Abfälle in Säcken, ein paar Pfennige für den Sack voll. Allerlei Reste und selbst Fuchsschwänze gab's zu. Daraus wurden auch Tierchen genäht und gestopft.

Aber die Langhaarigen waren dazu nicht zu verwenden. Da kam ich auf'n Trick:

Den Jungs in meiner Schule, die doch alle keine wilden Tiere kannten, bot ich Pelzsammlungen an. Ich stellte Kollektionen von Resten zusammen – Füchse, Marder, Persianer, Karnickels und was so an Pelztieren rumkraucht –, auf ein Stück Papier geklebt. Wenn ich keinen Namen für das Fell wußte, wurde einer erfunden! Die Jungs kauften fast alle. Als das nicht mehr zog, wurden Haare von den Lehrern gesammelt. Vor allem von einem Rothaarigen, der sich eine Perücke hatte machen lassen. Am Katheder suchten wir nach, wenn die Stunde um war. Aber von dem Roten fanden wir wenig.

Dann kamen Münzen ran. Die meisten sahen wir bei Lumpenfritzen in der Krautstraße; die hatten im Kellerfenster Schachteln mit Münzen und Eisernen Kreuzen. Aber über Dreier und Heller kamen wir nicht 'raus ...

Schließlich, als ich schon fast sechzig war, vorm Kriege, hatte ich doch ein Goldstück gesammelt – englisches Pfund –, das ich dann 1915 auf dem Altar des Vaterlandes opferte ...«

 

183. H. Zille: Mein Vater, der Werkzeugmacher des großen Juwelengeschäfts Unter den Linden.

Nach einer bisher unveröffentlichten Studie.

 

Zille lachte höhnisch auf: »Jetzt sammle ich Kommerslieder. – Werde bald ein paar Millionen beisammen haben ...«

*

»Auch andre Kostbarkeiten machte ich als Schuljunge damals. Jeder, der was auf sich hielt, hatte doch solche schönen glänzenden Öldruckbilder. Und mit den glatten Rahmens waren sie damals nicht recht zufrieden. Da wurden nu aus Lederresten Blumenblätter ausgeschnitten und bunt bemalt. Und dann wurden sie mit Leim oder anderm Klebstoff auf die Rahmen aufgepappt. Dadurch wurden sie dann hart und steif.

Und die Stadtkinder, die damals nicht rauskamen aus den Straßen und als es noch keene Blumenbeete auf den Plätzen gab, die dachten dann, so sind alle Blumen – so sind natürliche Blumen.

Und das hatten wir mit unsern Kinderhänden zusammenjepappt.«

*

»Im Rattenhaus habe ich als Junge oft Kommißbrot eingekauft. Das ist das alte Haus in der Alexanderstraße gegenüber Magazinstraße, in dem »Die Ratten« von Gerhart Hauptmann spielen. Damals war es noch Kaserne, so aus der Zeit vom Soldatenkönig, deftig, aber mit niedren Stuben und dunklen Gängen. Wo heute die Stadtbahn auf den hohen Bogen fährt, floß der Festungsgraben. Und auf der andern Seite vom Graben lag die andere Kaserne. Das war wohl das Kadettenhaus.

Im Rattenhaus holte ich von den Soldaten die schwarzen Brote, das Stück zu siebzehn und achtzehn Pfennige. Da mußte man sich vorsichtig auf den weiten Gängen, die nach Putzzeug und Stiefelschmiere rochen, herumdrücken. Die Unteroffiziere waren nicht immer gemütlich. Aber die Soldaten selbst auch nicht. Wenn man zwei Pfennige weniger bot, gab's gleich 'n Katzenkopp!

Ich holte nicht bloß für uns das Brot. Nein, gleich fürs ganze Haus – auf'n kleinen Wagen. Und gab's im Rattenhaus nicht genug Brot, dann gingen wir über den Steg nach der andern Kaserne. Da war immer Bedarf nach Bargeld ...«

*

»Mit zehn Jahren habe ich Fremde geführt. Damals kannte man die Provinzler noch viel leichter 'raus. Wenn man in die Nähe vom Schloß kam – namentlich um die Mittagsstunde, wenn die Wachtparade aufgezogen war –, dann standen sie in Reihen und Gruppen auf der Schloßbrücke und bei der Schloßfreiheit. Und dann führte ich die Leute bei den Museen vorbei – auf die Lange Brücke zum alten Kurfürsten, bei Rudolph Hertzog vorbei, der ja damals mit seinem Geschäft das größte Warenhaus in Berlin war, zum Rathaus und zum Molkenmarkt, wo noch das Polizeipräsidium stand und die Almas und Rosas zur Kontrolle in das Tor reinstolzierten – immer in der feinsten Kluft, mit so 'nem Cul de Paris ...«

(Eine Handbewegung um die hintere Hüftenseite deutete die aufgebauschte Mode jener Zeit an.)

»Und zum Schluß wollten die Herrschaften denn auch meist 'ne richtige Berliner Weißbierkneipe kennenlernen. Dann führte ich sie zum Landré in der Stralauer Straße. Wenn sie nicht von selbst wollten, dann sagte ich eben, daß sie das doch kennengelernt haben müßten.

Das Weißbier war den Fremden aber meist zu sauer. Dann habe ich's ausgetrunken!

Man wird nämlich durstig, wenn man bei der Hitze durch die Straßen läuft. Und damals, als noch so viel Pferdefuhrwerke unterwegs waren und viel mehr Leute durch das Zentrum liefen – die Straßen zwischen den Linden und dem Molkenmarkt waren dichte voll – da war's noch stoobig in Berlin.«

*

Zille sah bei dieser intensiven Beziehung zur Umwelt mancherlei was ihm auffiel. Sittliche und soziale Zustände. Im Kapitel von seiner Künstlerschaft wird darauf eingegangen, wie das auf sein künstlerisches Werden einwirkte. Die Clara mit dem Kellnerfrack als Feigenblatt, der versoffene Kommodentischler und manche andere Gestalt aus seiner Kindheit kann er heute noch – nicht nur mit dem Zeichenstift, sondern auch sehr lebendig durch Worte hinstellen. So erzählte er von einer Frau Direktor, die mit fünf Tingel-Tangelmädchen in einer kleinen Wohnung über einem Roßschlächterkeller hauste:

»Der Vertraute und Laufjunge der Kapelle war ich, damals zwölf Jahre alt. Trug Briefe weg, schleppte den mit Kostümen vollgestoppten Reisekorb nach den Bahnhöfen oder in einen neuen Tingel-Tangelkeller Berlins. Auf das Packen des Korbes mußte ich immer warten und mir die Zeit beschaulich ausfüllen.

Halbnackend, beim Waschen und Ankleiden übten sie noch das neue Programm. Damals waren mir die Sängerinnen angezogen lieber; Die dunklen Flecke auf Brust und Leib waren mir Schönheitsfehler. Am besten gefiel mir die Thusnelda, vor allem, wenn sie auf dem hohen Veloziped Sonntags nach dem Tiergarten gondelte.

Mit fünfzehn Jahren war sie Kassiererin in einem anatomischen Kabinett. Dann stand sie im Trikot ›Muster‹ vor einer Athletenbude in der Hasenheide. Auch machte sie den ›Bunten Komiker‹, was man auch ›Klamotte oder Kittneese‹ nannte, auf einer Sommerbühne. Dabei mußte sie ›laut machen‹, eine Trompete blasen. Am liebsten waren ihr ›Hosenrollen‹. Weil sie ein hübsches Mädchen war, geigte sie als ›Blindspieler‹ bei einer Damenkapelle den mit Seife eingeschmierten ›toten Bogen‹. Bei Castan war Thusnelda für kurze Zeit die ›Dame ohne Unterleib‹, und ehe sie Sängerin wurde, machte sie den ›Untermann‹ bei einem Parterreakrobaten. Ihr damaliger Verehrer, ein Engros-Schweineschlächter vom Viehhof, entdeckte ihre Stimme und ließ sie ausbilden.

 

184. Der Eingang zu unserm Wohnhaus in Rummelsburg.

Nach dem Originalaquarell.

 

So kam Thusnelda vom Parterre in den Tingel-Tangelkeller.«

*

Doch war Zille in seiner Kindheit nicht nur betriebsam und aufmerksam auf seine Umgebung. Er war sicher auch ein guter Schüler. Von der Schule erzählt er:

»Manches Gute habe ich auch wohl in der Schule empfangen. Wir hatten damals einen alten Lehrer Ulrich. Der hatte langes, lockiges Haar wie Uhland. Der war geduldig mit uns Berliner Jungs, in der Schule in der Krautstraße. Wir waren doch alle zwölf und dreizehn Jahre alt! Da haben wir dem alten Mann das Leben nicht leicht gemacht.

Wenn damals auf der Straße das Hurraschreien losging – es war 1870 und Kriegs- und Siegesdepeschen kamen fast alle Tage –, dann mußte er sie uns reinholen lassen. Denn dann mußte er uns doch freigeben. Ganz traurig las er vor von den Gefallenen und Gefangenen. Und dann sagte er nachdrücklich:

›So – nu geht nach Hause und sagt das eurer Mutter!‹

Aber erst mußten wir noch singen:

›Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt,
Komm mit deinem Scheine, süßes Engelsbild!‹

Ja, ganz wehmütig wurde der alte Ulrich dabei und wenn er von den Toten erzählte. –

Ja – da mag wohl denn die erste Saat von der Sehnsucht nach Freiheit in mir gekeimt sein – gemerkt habe ich damals nichts davon und heute auch noch nicht viel von der Freiheit.«

*

»Wir Schulkinder machten damals schon Ausflüge nach dem Zoo. Weil wir aber keinen Groschen zum Fahren hatten, liefen wir den ganzen Weg von der Krautstraße bis zum Zoo, meistens am Wasser entlang – durch die ganze Stadt durch. Damals waren die armen Tiere noch in Käfigen auf Rollen eingesperrt. Ganze große Fetzen vom Fell hatten sie sich beim Hin- und Herlaufen in den engen Käfigen abgewetzt.

Wir hatten Mitleid mit den Biestern und fürchteten uns auch.

Na – dann wurden ja auch bessere Käfige gebaut ....«

*

»Nachmittags, wenn Schönwetter war, machten wir manchmal Landpartien nach der Lausewiese – der Weberwiese. Die Lehrer ließen eben den Nachmittagsunterricht, der sonst noch üblich war, ausfallen. Da konnten wir beobachten, wie die Weber ihre Arbeit zwischen den Bäumen aufhängten und trockneten.

Und dann konnten wir auch aufpassen, daß wir uns nicht selbst Läuse holten. Denn eine Menge Sonnenbrüder lagen da und ließen sich bescheinen. So hießen doch früher die Penner und alten Bettler.«

*

Da haben wir wieder den echten Zille, der schon in seiner Kindheit die offenen Augen für die verschiedenen Volksschichten und besonders für den fünften Stand hatte. Nach allem diesen ist es zu verstehen, wenn er in seinem Lebenslauf, den er bei seinem Eintritt in die Akademie einreichen und vorlesen mußte, sagte:

»Als Kind bei Entbehrungen aller Art aufgewachsen, machten die Hogarthschen Stiche, die ich als Junge in den Pfennigmagazinen entdeckte, großen Eindruck auf mich; ich verglich den Inhalt der Bilder mit dem Leben, das ich um mich sah. Mein Vater war der älteste Insasse des Schuldgefängnisses, den die Gläubiger schon jahrelang festhielten, bis das Gesetz über die ›Wechselhaft‹ fiel. Dort erlebte ich Szenen, wie sie Dickens im ›David Copperfield‹ geschildert hat. Aus buntem Tuch und Pelzresten verstand Mutter Schweinchen, Hunde, Katzen, Mäuse usw. plastisch darzustellen, wobei die Schwester und ich bis in die Nacht hinein halfen. Dann wurden die Tierchen auf ausgezackte Tuchläppchen genäht und gingen als Tintenwischer in die Welt – nachmittags, nach der Schule von mir verhandelt in den kleinen Schreibwarenläden – im Osten Berlins. Es kauften auch größere Geschäfte, und ich hole mir noch heute mein Zeichenmaterial von Bormann in der Brüderstraße und lege mein Geld dafür auf denselben Tisch, auf dem ich als Junge den kargen Verdienst für unsere Arbeit mürrisch hingeschoben bekam.«


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