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Der fünfte Stand – das sind die wirklichen Proletarier. Das sind die Leute, die nichts mehr besitzen, die nicht mal mehr die Hoffnung besitzen. Die nicht mehr die Möglichkeit sehen, aus diesem Zustand herauszukommen.
Die andern Proletarier sind ja heute in Wirklichkeit keine Proletarier mehr. Durch das Kassenwesen, durch die öffentlichen Versicherungen sind sie mit der ganzen Wirtschaft verknüpft und haben Anteil an dem gewaltigen Besitz des Reiches und der Gemeinden und an unendlich viel andern Gütern. Wirkliche Proletarier sind heute eigentlich nur noch die Landstreicher und Pennbrüder.
Auf den Straßen sieht man sie selten. Sie haben ihre stillen Winkel, wo sie ungestört ihr glückselig-unglückselig Leben verbringen. Auf einzelnen Plätzen, in der Nähe berühmter Schnapslokale, halten sich wohl einzelne Trupps. Sie verschwinden da in der Masse der Menschen, sie sind geborgen durch die Menge.
Aber meist haben sie dort, wo sie einen gelegentlichen Verdienst finden, wo sie zur Nacht unterkriechen können, ohne Geld dafür ausgeben zu müssen, und wo sie vor jedem spähenden Auge sicher sind.
Viele »pennen« in Möbelwagen. Überhaupt sind die Fuhrhöfe und Garagen ein beliebter Unterschlupf der Pennbrüder. Da verdienen sie sich ab und zu durch Handreichungen die Erlaubnis, in den Ställen nächtigen zu dürfen. Auch in der Nähe von Steinplätzen und Holzhandlungen halten sie sich auf.
Am häufigsten aber leben sie auf den großen Terrains der zahlreichen Güterbahnhöfe Berlins. Die vielen Lagerplätze, die Schuppen, die Warenstapel, die vielen Zäune und Bretterbuden – vor allem aber die Schlupfwinkel, die ihnen die Bahnviadukte geben, verlocken die Pennbrüder zu ihrem ungebundenen Leben. Diese, einem jeden geordneten Dasein abholden Menschen finden auf den verlorenen Wegen und auf den Güterfeldern zwischen den Schienensträngen ihr Paradies. Hier sind sie sicher vor der Polizei, hier erwerben sie sich durch kleine Besorgungen, die sie für die Wärter und Arbeiter ausführen, und durch Auflesen der Abfälle ihren geringen Lebensunterhalt, hier feiern sie ihre kümmerlichen Orgien – und hier vergrübeln und verdämmern sie die übrigen Stunden.
Es ist eine merkwürdige Menschensorte. Manch ein Philosoph könnte sie für sein Ideal halten. Nach irdischem Glanz und Ruhm streben sie nicht mehr. Das haben sie längst aufgegeben. Sie fragen nicht, ob sie noch einmal in einem mit schönen Bildern geschmückten Zimmer an reich gedecktem Tisch, der mit blendenden weißen Leinentüchern überzogen und mit Blumen bestreut ist, sitzen werden. Sie verlangen nicht nach einem Schlafzimmer, dessen Möbel aus kostbarem Rosenholz gefügt und neben dem ein farbenglühender, mit Mosaik ausgelegter Baderaum zu zeitigem Aufstehen einladet. Alles ist eitel! meinen sie und schlucken aus der schmierigen Schnapsflasche eine Wonne der Vergessenheit und ihren siebenten Himmel ....
Was sie zu solchen antikulturellen Anschauungen geführt?
Hunger und Liebe, Schwäche und Kraft, Verdorbenheit und Größe, natürlich auch soziale Not – bald dies, bald das, bald nur eins und bald wieder mehreres – und ganz, wie es jeder auslegen will. Philosophen mögen sich darum streiten.
Eins ist jedenfalls sicher: Ihre Verkommenheit konnte nicht alle persönlichen Züge austilgen. Und trotz der zerlumpten Kittel, der zerbeulten Hüte, der Stiefel ohne Absätze und der verschnapsten Gesichter, die fast allen gemeinsam sind, hat doch jeder seine Eigenheiten, unterscheidet sich einer von dem andern. Viele von ihnen nächtigen auch oft im Asyl für Obdachlose und in den Herbergen, die von der Heilsarmee, der inneren Mission, den Innungen und Gewerkschaften unterhalten werden. Das sind Tausende, die wirklich keinen Halt mehr haben, Unzählige, die einst Luftschlösser bauten und denen die Luft jetzt das einzige Besitztum ist. – (Bild. 165.)
164. Hundestunde der armen Frau, die nichts hat auf der Welt als ihren Hund.
Daneben gibt es natürlich noch manche, die zwischen dieser Schicht und den andern Schichten schweben und hin und her pendeln. Zille schilderte mir einige solcher Figuren, die er ja gut kennt:
»Die Familie, die mit ihrem Kram auf dem kleinen Wagen unterwegs war, das waren Trockenwohner. Vorm Kriege wurden neue Häuser nicht gern sofort bezogen. Und da lernte ich 'ne Familie kennen, die wohnte immer nur als Trockenwohner. Die zahlte nie Miete.
Den Mann und Vater nannten wir Nulpus.
Der bildete sich was auf seine Schlauheit ein, daß er mietefrei wohnte.
Der hätte auch keine Miete zahlen können.
Das arme Luder – der war doch schwach im Kopf.«
*
»Der Krögelmax verstand sich durchzubringen durchs Leben. Der wohnte auf'n Hof im alten Krögel und hatte 'n paar Hühner. Die liefen da rum. Und davon lebte er fast ganz. Die Eier lieferte er nämlich an einen Bereiter in den Marstall von Wilhelm II. Der wollte täglich frische. Wenn die Hühner aber nicht genug legten, packte Krögelnaxe auch andere dazwischen, die er im Laden gekauft hatte ...
Als ich nach Jahren mal wieder in die Gegend kam, stand Maxe mit'n kleinen Wagen am Straßenrand und verkaufte Speiseeis.
›Willst mir woll zeichnen!‹ rief er mir zu und wendete sich ab, damit ich nicht sein Gesicht auf mein Papier kriegte.
Ich beruhigte ihn und wünschte ihm Glück zu seinem neuen Unternehmen.
Ach, Maxe war vielseitig. Er ging auch abends als Anreißer für einen Photographen auf den Rummel. Ja, er guckte sich das Photographieren ab und ging schließlich selbst mit'n kleinen Apparat los – in die Kneipen und in die Vereine, die da tagten.«
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Außerdem hat Zille diese wirklichen Proletarier in seinen Unterschriften gekennzeichnet. Da ruft ein Zerlumpter vor einem Keller aus, in dem Lumpen angekauft werden:
»Wenn ick jetzt Lumpen hätte!«
165. Penner: »Da Ede, een Luftschiff – ich baute mal Luftschlösser!«
Ihre Hauptspeise wird durch diese Frage enthüllt:
»Wat jiebt's heite, Kleener?«
»Blauen Heinrich!« Eine Gefängnissuppe aus Hülsenfrüchten, Reis usw.
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Den mangelhaften Gehalt der Armensuppe kritisiert Zille in einem Zwiegespräch:
»Entschuldigen Se, junger Mann!«
»Schad't nischt, det macht keene Fettflecke!«
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So ist es denn kein Wunder, daß sie beim Auseinanderklauben der Müllhaufen begeistert rufen:
»Liese, aus'n Kempinskihaufen en feiner Knochen! Det de det nich so ißt, det is zu fett! Vater hat noch'n Schluck Henkell Trocken!«
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Und andere, verschämte Arme bekennen:
»Ich werde immer magerer und mein Hut wird immer fetter.«
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Im Budikerkeller bekommt man aber auch oft zu hören, daß es manchen dieser Bettelbrüder ganz gut gelingt:
»Heite dreimal warmes Mittagbrot und sechsmal feine belegte Stullen gekriegt. Wenn ick nu nich bald uffhöre im Westen zu betteln, muß ick wirklich bald zu arbeeten anfangen!«
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Und Erfahrene geben im Hammelkopp-Keller die weise Anschauung weiter:
»Junger Künstler – Kunst ist – wenn Sie noch jeden Tag Ihren Hammelkopp haben und sich satt essen können – wie unser Nachbar hier – –«
166. Arme Mutter.
Berlin O., 3. Hof im Keller.
Eine besonders bevorzugte Klasse sind die alten Kriegsveteranen, die sich unterhalten (den Veteranen von 1870 ist ein Ehrensold von »Drei Mark« bewilligt worden, 1925):
»Wat willste denn mit den Daler Ehrensold anfang'n, Justav?«
167. Freilicht-Theater auf Picheiswerder (»Albrecht der Bär«).
»Herr Direktor, brauch'n Se Statisten? Wir sinn echte Wenden, un eigne Kostüme hab'n wir ooch un wohnen jleich in die Häuschen.«
»Na, dafor laß ick mir mein Holzbeen schwarzweißrot anstreichen und loofe für die ›Retterregierung‹ Reklame.«
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Arbeitsveteranen sitzen sinnend auf den Bänken in den Parkanlagen:
»Weeßte – man darf jarnich drüber nachdenken –«
168. »Herrlichen Zeiten führe ich Euch entgegen! ...«
Kriegsverletzter – »Krüppel!« behauptet H. Zille hartnäckig. »Sie wollen bloß das schlimme Wort nich hören!«
Viele von ihnen benutzen in den milden Jahreszeiten diese Bänke als Bett. Sie bevorzugen die frische Luft und verzichten aufs stickige Obdach. Sie rufen sich frühmorgens zu:
»Aujust, hörste, schon der erste Stadtbahnzug! Ach Jott nee, um die Zeit mußte ick früher nu schon uffstehn!«
*
Wer aber noch 15 Pfennig aufbringen kann, sucht manchmal die Stadtbahn als Ruheort zu benutzen, wird aber meist entdeckt:
»Sie fahren schon zum viertenmal um Berlin, wo woll'n Sie denn hin!«
»Jarnich! Ick lese Zeitung, der Petroleum is mir zu teier!«
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Bei den Armensuppen sind Gespräche zu hören, die von manchem grausigen Schicksal künden:
»Die Athletenminna holt ja nischt mehr – is se ausjewandert?«
»Ach, mit die soll et sehr schlecht stehn. Die liegt in die Klinik, die soll der Nabel ans Rückjrat anjetrocknet sind.«
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Das waren Frauen, die sich beim Gürtelringkampf in der Schaubude betätigten und von denen ausgerufen wurde:
»Hundert Mark demjenigen, der den Champion von Frankreich, Aimable de la Galmette, besiegt. Die Begräbniskosten zahlt der Sieger!« (Bild 95.)
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Da erfährt man auch von Klau-Maxes Bescherung, dessen Frau krank im Bett lag, als er berauscht den Weihnachtsbaum umstieß und das übliche Weihnachtsfeuer verursachte:
»Mann, der Boom fällt um! Ach Jott, 's is man jut, det ick die Jardin'n nich mehr waschen konnte!«
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Oder es wird berichtet von der schlagfertigen Antwort eines andern Klaubruders:
»So, Sie haben das Messing nicht gestohlen. Wozu haben Sie denn die Türschilder abgeschraubt?«
»Von wegen jestohlen – jestohlen – putzen wollt' ick se, un die Kleen' sollt'n wat zu lesen hab'n –«
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169. »Wir winden Dir den Jungfernkranz! ...«
Und schließlich kommt aus einer Zilleunterschrift zum Vorschein, daß nicht alles Elend echt ist. Da sagt ein angeblich Gelähmter zu seinen Leuten:
»Heite abend is mein Kejelabend, ihr braucht mir nich zu holen, die Karre lass' ick bei'n Budiker un loofe nach Hause.«
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Manche von ihnen wissen sich eben gut auf ihre Weise gegen das Elend zu wahren. Und manche von ihnen rappeln sich auch auf mancherlei Art heraus – wie z. B. der Krögelmaxe, von dem Zille erzählte.
Fast alle aber sind doch bedauernswerte, hilfsbedürftige Menschen. Sie haben Unglück gehabt. Ihnen fehlt die Begabung, das Unglück, das ja jeden anrempelt, zu überwinden.
Das hat Zille empfunden und erkannt. Und darum hat er mit Vorliebe den Minderbegabten und Minderbeglückten die Hilfe seines Stiftes geliehen ...