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Bezeichnend für den Menschen und für den Künstler ist seine Stellung zu seinen Modellen. Künstler, die wie Zille das Volk schildern wollen, müssen ganz in der Seele des Volkes aufgehen, dürfen seine Eigentümlichkeiten nicht von außen wie eine ethnographische Merkwürdigkeit betrachten. Sondern sie müssen mit dem Volke empfinden, müssen alles mit ihm miterleben, müssen mit ihm leiden und jammern, mit ihm aufbegehren und drohen, sich mit ihm freuen und mit ihm lachen.
Das hat Zille denn auch Zeit seines Lebens getan.
Er ist jahrzehntelang »ein Knecht des Kapitals« gewesen, hat sich immer als Proletarier gefühlt. Aus dieser seelischen Einstellung zur Umwelt ist er nie herausgewachsen. Vielleicht war es für ihn eine innere Begrenztheit. Er hatte in gewissem Sinne keine Entwicklung. Aber um so fruchtbarer machte ihn das auf seinem eigensten Gebiet, auf dem Gebiet dessen, was wir unter Zillekunst verstehen.
Seine Gestalten, seine proletarischen Männer und Frauen, seine kessen und seine rhachitischen Zillekinder leben aus dem Innern heraus. Sie sind nicht nur abgezeichnet. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes in tiefster Seele erlebt. Sie haben in jedem Strich alles das, was ein überarbeiteter Mann, eine abgehetzte, verhärmte Frau, ein verschnapstes Wesen, ein verkümmertes Unglückskind empfinden und erleben.
Dies haben sicher alle seine vielen Modelle aus dem Volke empfunden, die ihm freiwillig oder unfreiwillig Modell gestanden haben. Er stand sich immer gut mit ihnen. Und auch sie standen gut mit ihm. Er gehörte zu den wenigen Künstlern, bei dem das Volk gewissermaßen roch, daß er zu ihnen gehörte. Dennoch weiß auch Zille von manchem unfreundlichen Erlebnis zu berichten und äußerte nachdenklich:
»Wenn ein Zeichner die Menschen aufs Papier bringen will, sind sie alle beleidigt, drehen den Kopf weg und schimpfen oder wollen ›einen aus dem Anzug stoßen!‹
Wenn aber ein Photograph sie auf die Platte haben will: Dann sind sie alle da und machen ein freundliches Gesicht!«
*
»Erst wollten viele von den Brüdern in den Destillen nichts von mir wissen. Sie waren höllisch mißtrauisch. Ich mußte sie heimlich zeichnen – hinter 'ne Zeitung oder hinter 'm Weißbierglas. Damals gab's ja noch die großen Bottiche, in die man mit'n Daumen reinfassen mußte, um sie hoch zu heben. Jeder kannte seine Stelle an seinem Daumengriff. Oder ich mußte heimlich unter'm Tisch rasch in't Buch skizzieren.
Aber bald freuten sie sich, wenn ich kam. Ich kaufte ja auch meistens, was auf der Theke stand – Buletten oder Rollmöpse – und teilte aus. Und denn könnt' ick ooch mal 'n Witz riskieren. Und weil mir ein Schriftsteller schon oft gesagt hatte, er würde gern mit mir mitkommen, fragte ich eines Tages in der Kneipe, ob es ihnen recht wäre, wenn ich den mitbringen würde.
›Den?‹ sagten sie vergnügt. ›Ja, bringen Se den man mal mit. Denn kann er aber seine Dreckfinger amputieren lassen. Der schreibt ja bloß über uns, um Jeld zu schinden ... Der soll man kommen!‹
Sie mußten wohl gesehen haben, daß ich 'n bißchen stutzig wurde über ihre drohenden Gebärden. Sie beruhigten mich aber wieder:
›Nee – Meister Zille – Sie können immer wiederkommen. Ihnen duhn wir nischt. Sie meinen's ja ehrlich!‹«
33. Zilletypen.
Eine Zusammenstellung von allerlei Bekannten.
Einmal hatte ich eine von den Damen, die damals in der Fischerstraße und Umgegend spazierengingen und den Hausdienern aus der Gegend und den Schiffern von der Friedrichsgracht zärtliche Augen machten, getreu abgezeichnet und dummerweise in den »Ulk« gebracht. Als ich nun auf die Redaktion kam, sagte mir Fritz Engel, sie hätte sich beschwert. Das gäbe noch einen Mordskrawall.
Ich kriege einen Schreck und denke, das mußt du gleich wieder gutmachen. Also sofort hin in ihre Stammkneipe, in die Parochialritze.
Es dauert nicht lange, kommt sie rein. Aber mit 'n Blick! – an mir vorbei.
Ich rufe sie freundlich an:
›Lise, wat is denn?‹
›Ick bin nich Ihre Lise!‹
Setzt sich und kehrt mir den Rücken zu.
Da mußte ich also abzieh'n.
Als ich an einem der nächsten Tage auf die Redaktion komme, ist große Aufregung. Lise ist da und verlangt Genugtuung. Und nicht zu leise! Sie war doch gewohnt, recht schön laut zu sprechen auf der Straße.
Da nahm Franz Mehring, der damals noch lebte und mit Fritz Engel zusammen den ›Ulk‹ redigierte, einen Band von dem Witzblatt und zeigte ihn ihr:
›Sehen Sie, da is der Kaiser – der Kanzler – alle Minister und Könige. Keiner sagt was, wenn er angeulkt wird. Und nun werden Sie Krach machen wollen, wenn wir Sie veröffentlichen?‹
›Das scheniert mir, wenn ick so in de Öffentlichkeit gezogen werde! Ick bin nich für die Öffentlichkeit!‹
›Sind Sie denn überhaupt Frau Ebersdorf?‹ fragte Mehring.
›Nee – Fräulein Ebersdorf. Prostituierte! ...‹
Sie ließ sich schließlich beruhigen, diese öffentliche Dame, die nich for de Öffentlichkeit war.
Ich ging dann öfter hin in die Parochialritze. Lise war erst mächtig böse, wenn sie mich sah.
Andere sagten dann zu ihr:
›Is doch de beste Reklame! In de Zeitung!‹
34. Das bucklige Lieschen. »Hof«-Sängerin.
Nach Wochen lachte sie schließlich, wenn sie mich sah. Die alte Lise – Fräulein Ebersdorf ... Is nu ooch längst dot. –«
*
Von andern Erlebnissen mit seinen Modellen aus dem Volke plauderte Zille:
»Das letztemal war's bucklige Lieschen bei mir, als sie aus dem Krankenhaus kam. Aus'm Friedrichshain. Mitten im kalten Winter. Bei zehn Grad Kälte. In 'ner dünnen Sommerbluse, ein Sommerröckchen an und 'ne dünne Hose drunter.
Im Herbst hatte sie 'n Unfall gehabt. Mit dem Singen ging's wohl nicht mehr so recht. Da hatte sie ihr Kind genommen und hatte Unter den Linden Streichhölzer verkauft. Und da hatte sie nicht achtgegeben und war vom Auto angefahren worden. Das ganze rechte Bein aufgerissen. Bis an die Leiste. Als sie mir die Wunde zeigte, war sie noch ganz rot. Ein Streifen von unten bis an den Leib.
Und so war sie vom Friedrichshain bis zu uns gelaufen – bis beinah nach Westend. Durch ganz Berlin – durch den Tiergarten – und durch ganz Charlottenburg. Mit der dünnen Kleidung und ohne was Warmes im Leibe. Kurz vor'm Mittagessen hatten sie das arme Wurm rausgeschickt in die Kälte.
Da hat meine Schwiegertochter sich hingesetzt an die Nähmaschine und hat dem buckligen Weib 'n paar warme Stücke zurechtgenäht von den Sachen, die wir noch von meiner verstorbenen Frau da hatten.
Und denn haben wir Lieschen ins Hospital untergebracht.
Denn nu konnte sie natürlich nicht mehr so lange auf den Füßen sein und sich ihr Geld verdienen.«
*
»Einmal wollte ick 'ne Familie aus Berlin N bei't Essen am Familientisch zeichnen und sagte, ick würde zum Sonnabendabend kommen. Sie sollten sich man ein warmet Abendbrot machen. Ick würde det schon bezahlen. Als Modelljeld. Aber se sollten sich wat Ordentliches kochen.
Nu wissen Se, wat se janz vagnügt ausriefen?
Pellkartoffeln und Hering!
Die armen Ludersch! Det war for se 'n Festessen!«
35. Else B ... (14½ Jahre alt) 4.12.03.
»Cläre Waldoff, die als erste ein Zillemädchen mit ihrer ganzen Deftigkeit auf die Bühne brachte – in einem Kabarett in der Behrenstraße, 1922 war's wohl – stellte mir so um 1916 mal 'ne junge Kollegin vor. Die kam mir ja bekannt vor. Aber auf den Namen konnte ich mich nicht besinnen. Da lachte sie und sagte:
›Ich war doch mal Ihr Modell!‹
Und da erkannte ich sie: die Else, die ich so um 1904 als Modell gehabt hatte. Vierzehn-, fünfzehnjährig.
Ich kriegte sie ja meist erst, wenn sie müde waren, die Modelle. Ich konnte nicht so früh da sein in der Aktstunde. Na – da zeichnete ich sie eben im Sitzen oder im Liegen. Das übt ja auch ...
Aber ich hatte auch das Glück, daß mir künstlerische Kolleginnen standen. Ja, das war 'n besonderer Vorzug. Die üblichen schönen Modelle waren das nicht. Aber das war mein Glück. Da sah ich das Weib in seiner wirklichen Art. (Siehe Kapitel ›Studien‹.)
In meiner Jugend habe ich die Modelle genommen, die mir die nächsten waren: Großmutter, Vater, Mutter. Die waren ja manchmal erstaunt, wenn sie aufm Fetzen Papier abkonterfeit waren. (Siehe Kapitel ›Kindheit‹.)
Na, und selbstverständlich malte ich auch meine Kinder ab. Die wollten ja nicht immer stille halten. Dann mußte ich sie beim Spiel belauschen. Oder sie einfach zum Modellstehen antreten lassen. (Siehe Bild ›Die drei Zillekinder‹ im Kapitel ›Zillekinder‹.)«
*
Zille hat natürlich in seiner Jugendzeit brav nach Modellen in der Akademie der Künste gezeichnet. Das war um 1877 herum, als Anton von Werner Direktor der Akademie der Künste war. Viele junge Leute arbeiteten fleißig in den Unterrichtssälen und erleichterten sich die Arbeit durch übermütige Streiche.
Nur nach stillstehenden, nackten Männern wurde in den Abendaktklassen gezeichnet. Immer eine ganze Woche lang nach demselben Mann. –
36. Müdes Modell, sitzender Backfisch. 20.11.02.
Weibliche Modelle bekamen die wenigsten zu sehen. Sie waren nur in den Meisterateliers zu finden – und nur bis zur Brust entblößt (Bruststück). Nur wenige bevorzugte Kunstjünger durften in diesen Ateliers Akt zeichnen. Zille sagte dazu:
»Auf einem akademischen Fest der Schüler war unter vielen sehr guten Vorführungen auch eine ›Pythia‹, eine ›Hellseherin‹. Sie wurde gefragt: ›Wann bekommen wir einen weiblichen Akt?‹
Antwort: ›Nie nackt!‹
Na, so um 1900 ist's dann endlich anders geworden, aber nur in Privatmalschulen, die Akademie sträubte sich noch Jahre ... Wenn nun im Abendakt der ›schöne Adolf‹ Modell stand, dann war's gerammelt voll. ›Adolf‹ verstand die ›sehr geehrten Herren Maler‹ und die ›sehr geehrten Herren Bildhauer‹ mit seinen Akrobatenkunststückchen, Erzählungen und Vorträgen zu fesseln, dabei brauchte er nicht still zu stehen, wurde mit Apfelsinen usw. beworfen, bekam Zigarren – alles Vorteile.
Der ›schöne Adolf‹, von allen Künstlern begehrt, um Rat und Hilfe angegangen, war wirklich nicht nur körperlich ein Prachtmensch, er hatte auch Gemüt, Liebe zur Kunst und war immer hilfsbereit. Brauchte ein Maler wie der alte Knaus alte abgetretene Holzdielen, um sein Bild ›Jägerheim‹ fertig zu malen, Adolf holte das Holz vom Abbruch der alten Schule in der Burgstraße. Wollte jemand ›Böcklinsch‹ malen, Adolf wußte, wer in Berlin noch 'ne Ziege oder Kaninchen hatte, er holte ran. Der Historienmaler lieh sich von ihm eine alte Lutherbibel, und den ›einzigen Esel‹, den damals Berlin hatte, sah ich oft hinter ihm hertraben, um irgendeinem Maler im zweiten Quergebäude im Norden Berlins zu einem ›italienischen‹ Bilde die Staffage zu geben. Auch rote Dachziegel brachte er den Malern, die nur Schieferdächer und Pappdächer um sich sahen. Manche Frau sagte: ›Von dem möchte ich ein Kind haben‹ (nicht als Modell), und mal soll er auch deswegen auf einige Zeit nicht Modell gestanden, sondern ›gesessen‹ haben.
37. Meine Mutter. Ruhepause.
Also der ›schöne Adolf‹ – und wenn er seine ›Requisiten‹ zum Taucher (von Fr. v. Schiller) mitbrachte, waren selbst die ältesten Professoren, die sonst gar nicht den Aktsaal betraten und doch Lehrer waren, als Hörer da.
Da wurde der Aktsaal zur Arena. Auf den Fußboden streute Adolf große und kleine Muscheln, bunte große und kleine Kieselsteine, stellte selbsterfundene Seetiere aus Pappe und getrocknete Fische in den Sand, greuliche Masken und Larven lugten aus allen Winkeln des Raumes – trockenes Seegras mit Matratzenfedern (Spiralen) machten den Strand anschaulich. Adolf ›der Taucher‹ stand auf seinem Podium. Seinen geschmeidigen, straffen Körper zierte nur eine alte, abgetragene, schwarze Sammetweste, die er vom alten Historienmaler Camphausen zum Andenken erhalten hatte – die war, laut Gedicht, ›sein Mantel‹. Seine roten Hosenträger, um den Bauch gewickelt, waren der ›Gürtel‹. So ausgerüstet, deklamierte er das herrliche Gedicht, markierte die Stimmen der verschiedenen Personen, vortrefflich gelang ihm das Erröten und Bitten der Jungfrau, denn der schöne Adolf – das will ich noch einflechten – mußte manchmal auch als Weib Modell stehen bei Malern, die zänkische Frauen oder kunstfremde Mütter hatten.
Bei den Worten – ›den Gürtel wirft er, den Mantel weg‹ – da fliegt beides auf den alten wackligen, eisernen Ofenschirm. Aber den Kopfsprung hat er nicht gemacht, trotz allem Zureden und Anfeuern. Wenn er dann zu der Stelle kam: ›Da hing auch der Becher an spitzen Korallen‹ – dann langte er so 'n kleinen Blechbecher von der alten, krummen, verrosteten Ofentürklinke, dazu hingehängt, herunter – und: ›sonst wär' er ins Bodenlose gefallen‹ – dazu diente ihm als Requisit eine alte Hose von irgendeinem berühmten Maler, der sich den Professor darin ersessen hatte.
38. Sohn Hans spielt mit Kegeln.
Die Hose war ›bodenlos‹, morsch, löcherich – und ›Adolf‹ ließ den Becher, zum Beweis, durchfallen.
Kurz gesagt – er brachte alles mit Sprache und Gebärden, immer wieder Neues einflechtend, zum Gaudium der Zuhörer, zum Gehör. Man dankte und belohnte ihn mit Brüllen – das sollte das grollende Meer sein.
Und schön ist noch, daß der schöne Adolf allen Ernstes glaubte, er hätte den unerfahrenen jungen Leuten einen naturwissenschaftlichen Vortrag gehalten. –
Zur Berichtigung: ich, Zille, war kein Akademiker, nur ein geduldeter ›Hospitant‹.«
*
Daß Zille auch sonst Modelle gut beobachten konnte, beweist seine Skizze »Modellpause«. Da sitzen und stehen mehrere Aktmodelle verschiedenen Alters beisammen. Und eine Erfahrene unterweist die Jüngeren:
»Bei die Malers müßt ihr erst lern' versteh'n wat se sag'n. Woll'n se een' nackt – dann sagen se ›Akt‹, mal'n se die Brüste – dann sagen se ›Büste‹ – und woll'n se den Rücken, wo er hübsch is – dann sagen se ›Kiste‹.«
Er weiß also einiges aus dem Treiben der Maler recht erfrischend mitzuteilen. Aber auch das Leben und die Erlebnisse der Modelle sind ihm nicht verborgen geblieben, wie der Text zu einer Abbildung beweist, auf der ein Maler ein weibliches Wesen fragt:
»Haben Sie schon mal gesessen?«
Sie: »Erinnern Sie mir bloß nich an die Zeit!«
Und auch die soziale Lage, die wirtschaftlichen Nöte der Künstlermodelle betont er, wenn er – mit verbissenem Humor – ein Mädchen zum Maler sagen läßt:
»Ick wer Ihn' wat husten un' eenjal for'n Hungerlohn Venus sitzen ... ick verlange Üppigkeitszulage, det Se't wissen!«
*
Doch alle diese Berufsmodelle sind ja nicht die eigentlichen Zille-Modelle. Das sind vielmehr alle jene Gestalten aus den unteren Volksschichten, die uns auf seinen Zeichnungen und Bildern, auf den ernsten Darstellungen sowohl wie auf den Blättern für die humoristischen Zeitschriften begegnen und uns mit ihren entweder übermütigen, fidelen oder elenden und verkümmerten, duldenden, oft auch mit drohenden Augen ansehen. –
39. Der schöne Adolf.
Eine berühmte Modelltype vor 50 Jahren.
Sie sind es, die gelegentlich selbst ihrem Meister Zille zugerufen haben:
»Wer mir schief ankiekt, den stoß ick aus'n Anzug!« Andere riefen ihm aus dem Kellerfenster zu, wenn er sich vor ein Schaufenster stellte und unbeobachtet, als besichtigte er nur die ausgelegte Ware, irgendeine Gestalt oder eine Szene abzeichnen wollte:
»Na – Ihr Vater war ooch keen Glasermeester! Der hat Ihnen keene Scheibe injesetzt!«
Und Zille mußte beiseite gehen und seine Skizzenblättchen einstecken.
Als er bekannter geworden war, als er mit dem Spitznamen »Pinselheinrich« herumlief, standen sie ihm allerdings gern Modell, ja, Mütter gruppierten sich besonders mit ihren Kindern vor ihm und selbst der Säugling wurde ermahnt:
»Halte stille! Der Pinselheinrich will dir malen!«
Zille selbst berichtet von seinen Modellen in vielen Anekdoten, die in manchen andern Kapiteln dieses Buches zu finden sind, vor allem in den Kapiteln: Zille-Milljöh, Zille-Kneipen, Zille-Kinder, Zille-Fräuleins, Zille-Mächens usw. Wie er sie selbst sieht, hat er einmal schriftlich niedergelegt:
»›Sie haben woll sonst keene Zeit, det se det noch bei'n Regen missen zurechtfingern!‹ Die Ansprache der so wenig Vertrauen erweckenden Gestalten in der verregneten Gasse hätte wohl zarteren Kunstjüngern das Zeichnen verleidet. Mir sind die Menschen und Gassen seit langem vertraut, wie mal jemand sagte: ›Det is Zille sein Milljöh! Der fünfte Stand.‹ Menschen, die ihrem Geschick nicht entgehen können, die das Resultat der heutigen und früheren Gesellschaftsordnung sind. Bedauernswerte, in der ›Charité‹ oder im ›Fröbel‹ geboren, finden sie ihren Lebensweg schon in harten Lettern vorgeschrieben. Zusammengepfercht in hohe Mietskasernen, mit schmalen ungelüfteten Treppen. Elende Zufluchtsorte in nassen Kellern und über stinkenden Ställen, ohne Luft und Sonne.
›Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genau so gut töten, wie mit einer Axt!‹
Garstige finstere Höfe, stinkende Müllkästen, die verschwiegenen Leichenhallen für ›Abgetriebene‹ und Neugeborene.
Unter Schlafleuten und Absteigemädchen, – so entwickelt sich der Lebensfilm Abertausender.
40. Großmutter, die ihr Enkelkind aus dem Trubel des Fahrdamms gerettet hat.
»Das hätte dir wohl so gepaßt, det dir Jroßmutter 'n neuet Särgekin hätte koofen müssen!«
41. Kauernder Backfisch.
Eine Welt für sich – die man bekämpft – aber nicht heilt!«
Z.
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Aber dies bittere Wort ist nicht das einzige und letzte Wort, das Zille über seine Modelle zu sagen hat. Ihm ist die große Gabe des Humors gegeben, des Humors, der immer wieder aus vollem Herzen überströmt. Und so werden auch seine bittersten Schilderungen und Gestalten stets wieder vom lebensbejahenden Lachen aus ihrer Finsternis herausgehoben und uns nähergebracht. Sein Humor verhindert, daß selbst seine schrecklichsten Gestalten uns abstoßen. Es ist nicht nur der Witz, der alle, auch die ganz anders Denkenden, in menschliche Beziehungen zu Zilles Gestalten, zu seinen Modellen bringt. Nein, seine große Empfindung, die selbst das Herbste und das zum Weinen Zwingende mit Humor durchleuchten muß, sowie das unmittelbare Miterleben Zilles mit seinen Modellen – sie sind es, die uns diese Menschen so liebenswert machten, die uns alle nötigen, ihnen mit Freuden zu helfen, ihr Los zu bessern – und die uns mit Zilles Modellen, mit den untersten Volksschichten aufs innigste verbinden.