Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Alle abseits vom bürgerlichen Dasein sich durchs Leben schlagenden Menschen haben Heinrich Zille gereizt, sie mit seinem Zeichenstift auf dem Papier festzuhalten. Seine Zeichnungen würzte er meistens auch mit treffenden Aussprüchen, witzigen Redensarten aus dem Kreise jener, die er mit dem Bleistift und der Kohle verewigte. Das gab dann einen guten Zusammenklang. So haben wir in seinen Zeichnungen und ihren Unterschriften eine geradezu dokumentarische Schilderung dieser Nebenwelt, die allgemein »Halbwelt« und auch »Unterwelt« genannt wird. »Halbwelt« könnte man eigentlich nur die elegantere Prostitution nennen – soweit man den Anspruch gewisser reich fundierter, internationaler Kreise gelten läßt, »die Welt« zu bedeuten. Neben und mit ihnen leben nämlich diese Damen, die »halb« dazu gehören, die zufrieden sind, »Halbwelt« zu sein.
Doch diese Damen haben Zille nie so recht interessiert. Ihn veranlaßten mehr die Damen der Unterwelt, also die Frauen, die unter der »Welt« standen und die sich auch in der unteren Schicht bewegten, die unter der Welt, die öffentlich anerkannt war, ihren Lebensgehalt und Unterhalt suchten. – Diese »armen Mächens«, wie Zille sie bedauernd oft nennt. Es sind gewiß keine »Damen«. Aber darum schildert er sie wohl voll Mitgefühl.
Doch ich will hier keine Kulturgeschichte dieser Mächens schreiben. In meinem Buch »Das galante Berlin« habe ich mich über sie und ihr Tun und Treiben gründlich ausgesprochen, habe vor allem darauf hingewiesen, wie sich Veranlagung und sozialer Zwang, Schuld der Mitmenschen und eigene Schuld in jedem dieser Mädchen ganz verschieden mischen. Eine Unzahl von Typen! Zille hat sie fast alle dargestellt. Von der kleinen minderjährigen »Nutte« an bis zu dem alten Wrack, das schon selbst wieder »Nutten« auf den Strich schickt.
73. Erinnerung an die Schwiegerstraße in Hamburg. (1895.)
Diese jugendlichen Mädchen sind durchaus nicht zag bei ihrem werbenden Gewerbe. Zille läßt eine besonders keck und fidel Daherkommende fragen:
»Denkst woll, ick loofe for'n Cecillienverein?«
Dieser Verein wurde von der letzten deutschen Kronprinzessin für die Besserung von »Gefallenen« gegründet. Doch da war selten was zu bessern.
Manche kriegten zwar das graue Elend wie Fränze, det »Kiek in die Halbwelt«:
»Nu dreh ick det Jesicht nach de Wand, ick will von die janze Welt nischt mehr wissen!«
Aber die meisten hatten jene selbstbewußte Art, die Zille von einem Mädchen berichtet, das bei einer Straßenpflasterung von einem Steinsetzer angerufen wurde:
»Fräuleinchen, hier jehts nich mehr lang, der Weg is' jesperrt!«
»Quatsch nich, Mensch, un' vermassle mir nich die Fahrt!«
Das ist ungefähr dieselbe Art, die in der Bar den »Onkel« umringt:
»Aba Alfred, mach dir man keen' Fleck! Jieb uns doch wenigstens noch eene Mark für die Puschfrau!«
Unter diesen Mächens fanden sich auch jene, die ihre Ersparnisse gern in Edelsteinen anlegten, die gern mit Schmucksachen protzten und möglichst viel im Auto fuhren – die eben ihr Geschäft verstanden. Gute Wirtschafterinnen ... Sie kletterten, wenn's sein mußte, nur mit Widerwillen in den alten von Pferden gezogenen grünen Polizeiwagen.
Die Brillantenjule: »Aba, Herr Wachmeester, immer noch keen blauet Auto!?«
Doch gab es auch viele einfache Mädchen unter diesen »Strichvögeln«.
74. Nutten. Jugendliche Straßenmädchen kurz nach dem Kriege.
Sehr typisch war: Die Schifferliese.
»Aus dem Spreewald, mit einer Spreezille kam die nach Berlin. Als Amme wollte sie geh'n und stieg an der Jungfernbrücke aus. Am Bollwerk, in den alten Häusern, wo nur Flaschenkinder schrien, blieb sie. Schlief am Tag in dumpfer Stube, nachts und abends stand sie an der Brücke. Sie lief den Männern entgegen, drückte die Brust heraus und frug:
»Kind, willste mitkommen? Immer noch frisch von's Land!«
Z.
Solchen armen Mächens ging es oft bald wie der Karren-Mieze. Das unruhige Leben, das nächtliche Herumtreiben auf
75. »Ob die Schafsnäse ruffkommt?«
den Straßen und in schlechtgelüfteten Kneipen – eben der »Lebenswandel« – rieb die Mächens bald auf. Sie wurden zwar am Alexanderplatz von der Sittenpolizei regelmäßig auf Geschlechtskrankheiten untersucht. Aber sie gingen doch schließlich zum Privatarzt und baten:
»Ja, Herr Doktor, horchen Se mal, wie's da aussieht. Ick jeh alle Woche eenmal nach de Sitte; aba, det wolle Jott, det sich die Kieker ooch mal um die edleren Teile bemühten!«
76. Kinder der Straße. Erster Entwurf zum Deckel des gleichnamigen Zillebuches, der vom Verlag als zu kräftig abgelehnt wurde ...
Außer diesen nur ihrem Beruf lebenden Mächen fand Zille auch noch manche Frauen, die nicht weit von ihnen einzuordnen waren. Er neckte sie, indem er zwei von ihnen, die aus ihren Fenstern miteinander sprachen, bekennen ließ:
»Komm' Sie denn mit Ihr'n Wirtschaftsgeld aus – Frau Nachbarin?«
»Det ick nich wüßte! Ick muß ooch so'n bißken mitverdien!«
»Ick ooch!« (Bild 75.)
Zugleich hat Zille mit diesen Worten ein scharfes Urteil über Zustände ausgesprochen, in denen die Männer nicht genug Wirtschaftsgeld für ihre Familien verdienten ...
*
Was diese Mächens oft durchzumachen hatten, hat Zille in vielen Bildern und in vielen Unterschriften geschildert. Die Abschnitte »Zille-Milljöh« und »Zille-Kneipen« enthalten manches davon. Vor allem sei auf Frau Clara im Abschnitt »Zille als Künstler« hingewiesen, auf die Kellnerfrau, die den Frack ihres Mannes als Feigenblatt benutzte und deren Lebenswandel und deren Umgebung Zille selbst so eindringlich beschrieben hat. Das Stärkste – und nicht etwa Ungewöhnliche erzählte er aber mündlich:
»Ja, die Frieda, diese Ruine von 'ner Sängerin, die im Jüdenhof wohnte, ging doch für den langen Paul. Da traf ich sie beide eines Tages auch in der Parochialritze. Damals wohnten noch ein paar Schuster da. Die Parochialstraße war ja überhaupt mal die Schusterstraße. Im Keller, im Laden, in jeder Ecke hausten Flickschuster, von denen auch mancher mit alten, ausgebesserten Stiefeln handelte. Einer von den übrig gebliebenen, ein altes Männeken, war der einzige Gast außer Paul und Frieda und mir.
Plötzlich – warum war nicht zu merken – wurde Paul wütend und fiel über Frieda her. Mit einem Stoß lag sie in der Ecke. Und denn mit 'nem Stuhl über sie her. Erst die Stuhlbeine auf sie kaputt – dann den Sitz noch.
77. »Mit Minister und Geheimräte bin ick früher man so rumgesprungen!« Zwei Straßenmädchen, die »Firma« zeigen (saubere Unterwäsche), d. h. Reklame laufen.
Wie das ein Mensch aushält! –
Man sollte meinen, er müßte dann zu Gelee zerkloppt sein.
Und als der alte Schuster was dazwischenrief, – Paul hin zu ihm – den Mann mit dem Stuhl hoch – und ihn auf dem Stuhl raus zur Tür.
Der arme Kerl verschwand humpelnd in seinem Schuhkeller ...
Frieda stand wieder auf.
Paul erholte sich aufatmend von dem Hinauswurf des Schusters.
Und dann standen die beiden, Paul und Frieda, an der Theke und versöhnten sich, tranken Versöhnung.
So gingen sie noch weiter. Die Versöhnung mußte doch gefeiert und vor den Kollegen und Kolleginnen besiegelt werden.
Im zweiten Lokal ging die Keilerei wieder los.
Frieda wurde nochmals geschleudert und mit Füßen getrampelt.
Aber schließlich zogen die beiden Arm in Arm nach ihrer Wohnung im Jüdenhof ...
Frieda hatte den langen Paul verpfiffen. Die Keile war ihr wohl doch zuviel geworden. Sie hatte eben angegeben, daß er von ihr Geld genommen hatte. Daher vielleicht auch ab und zu seine Wutausbrüche – weil er wußte, sie brauche sich nicht alles gefallen lassen – sie könne sich einmal rächen.
Als sie aber vor Gericht gegen ihren Paul aussagen sollte, nahm sie alles zurück.
Es war ihr Glück. In der Parochialritze hatte kein Mensch mehr mit ihr gesprochen. Selbst ihre Kolleginnen auf der Straße waren ihr ausgewichen. Die hatten Angst, sich mit ihr sehen zu lassen.
Und wenn sie nun woanders hingefahren wäre, hätte sie auch nicht lange Ruhe gehabt. An der neuen Stelle hätten die Männer bald erfahren, wo sie vorher war und hätten nachgefragt: Dann wäre sie von Berlin aus verpfiffen worden.
78. Trine. Armes Straßenmädchen um 1900.
Und wenn sie nicht zurückgenommen hätte, wäre sie schließlich totgeschlagen worden. –«
*
Zu diesen Kreisen gehörten auch Gestalten wie die dicke Fischern, von der Zille erzählte:
»Die dicke Fischern war wieder mal wegen Stubenkuppelei nach Moabit geladen. Die Nacht vorher hatte sie noch in Männerkleidung bei einem Herrenabend des Artistenklub R. verbracht und kam ›geladen‹.
Mit Schürze und Umschlagetuch – nicht, wie man sie sonst kennt, mit großem Hut, Zigarette und Bulldogge, wenn sie vormittags von den von ihr einquartierten Mädchen die Tagesmiete einkassiert oder abends neue Schäfchen an den Straßenecken ausstellt, mit den ermunternden Worten:
›Hier bleibst du stehn, olle Kuh, bis dir eener anquatscht‹ – einfach gekleidet kam sie vor die Schranken. Sie war ›geladen‹; ›heite besorje icks die Schwarzen!‹
›Angeklagte, haben Sie noch etwas zu erwidern?‹ ›Hoher Herr Gerichtshof, ick will nich lange mäckern, aber es hat so mancher Assessor und Referendar bei meine Meechens gepennt. Wenn se aber den Trauermantel umhab'n, dann kenn se een markier'n, der die Gefühle verbietet. Darum bitte ick den hohen Gerichtshof um mildernde Umschläge!‹
Nüchtern, ohne Umschläge – aber ›geladen‹ kam die Fischern erst nach drei Tagen in ihre, häusliche Arena.«
*
Wenn diese Menschen alle recht gemütlich beisammensitzen, dann reden sie auch von den Künstlern, die besonders gern Zilletypen darstellen und meinen:
»Wenn man so in die Kintöppe seht, wie se sich hab'n, – die Lotte Werkmeister, die Cläre Waldoff, die Söneland – der lange Westermeier, un' der schlaksige Lambert Paulsen – un' wie die Prominenten alle heißen – dann denkt man, det se woll alle in die Kaschemmen sin' uffjewachsen – ihre janzen Fisimatenten hab'n se sich von uns so hintenrum abjekiekt und sich so quasi wejjeschnüffelt – Kunststück!« (Siehe Bild 3.)
79. Eigene Rechtspflege. Im Korridor des Kriminalgerichts
Das sind dieselben Menschen, von denen Zille unter ein sehr echtes, unter sein bestes Bild aus dem Scheunenviertel schrieb:
Sehet die Vögel unter dem Himmel, sie säen nicht, sie ernten nicht – –
Auf diesem Bild gingen Straßenmädchen neben alten gebückten Arbeitern, schwangeren Frauen und rhachitischen, unterernährten Kindern an den verfallenden Häusern entlang. Das Äußere der Mächens hat sich ja zwar gewandelt – wenige gehen jetzt noch mit dem hohen Haarwulst und der Schürze. Sie haben alle die Mode mitgemacht, sich verjüngt. Laufen mit Bubikopf und kurzen Kleidern und brauchen nicht mehr mit dem weißen Unterrock »winken«, brauchen nicht mehr die Röcke anheben (Bild 77). Aber ihr Lebensinhalt ist der gleiche geblieben.
Die meisten bleiben stecken in dem »Lebenswandel« und tippeln als Straßenmädchen weiter ihren Weg, leben weiter zwischen alten, gedrückten Arbeitern, kränklichen, unterernährten Kindern und überbürdeten Frauen.
*
Voll Bitternis über soziale Ungerechtigkeiten schrieb Zille unter ein Bild, das Mächens zeigte, wie sie zur ärztlichen Kontrolle nach der Sittenpolizei gehen:
Und wirst du die Geschlechter beide fragen:
»Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte.«
*
Aber er zeigte die Mächens auch, wie sie ihre Erlebnisse – selbst im Warteraum der »Sitte« auf dem Alex – gern mit Scherzen heiter durch würzten:
»Det dauert ja heite so fürchterlich lange!«
»Weeßte, da is'n neuer Doktor, der scheniert sich noch.«
Manchmal wurden sie auch elegisch:
»Weeßte, so im Frühjahr muß ick immer an mein' ersten Bräutijam denken!«
»Welcher? Der Schiele? – Der Lange?«
»Nee, nee, der mit'n Holzbeen!«
80. »Mutta, verjiß nich die Visitenkarten mit die neue Adresse drucken zu lassen.
Und auf gute Beziehungen zu ihrer Familie legten sie auch Wert. Zu Vaters Jubiläum brachten sie Sekt und sagten liebevoll:
»Hier Vata, noch wat janz Extra's von mein Baron, wat wir imma bei Adlon trinken.«
Aber sie konnten auch schadenfroh sein und beim abgebauten Schutzmann auftrumpfen:
»Na, Schutzmannskarl, nu kannste keen fleißiges Meechen mehr die Tour vermasseln!«
81. Morgenstimmung.
»Nu halt' mir ordentlich feste, un wenn mir eener kennt, denn seid ihr meine Töchter.«
Aber es gab auch Schwachköpfe unter ihnen, wie Lene mit's Jlasooge:
Bei ihrem neuen Liebsten machte Lene außerdem noch Sonntags auf dem Rummel die Frau Direktor, sie rekommandierte: Bild jefällig? usw. Nur konnte sie, Männern gegenüber, die beiden Gewerbe immer nicht recht auseinanderhalten und flüsterte oft:
»Na, Kleener, mitkomm? Jleich um die Ecke!«
82. In der Kaschemme.
»Warum heiratste nich de Liese, Paule? Sie kocht dir, se wäscht dir – un wenn de besoffen bist, weeßte, wo de hingehörst!«
Wenn man sie jedoch sehr mit Abgaben bedrohte, erklärten die Mächen sich für »Selbsthilfe«:
»Wenn se uns ooch noch sollten eene neue Steier uffknallen, weeß Jott, Olja, ick passe – da wer ick lieber wieder anständig!«
War die Zeit der Liebe vorbei – war Lude gestorben, dann machten sie seine Kleidung wieder zu Geld und brachten sie zum Leihhaus, wenigstens so lange, bis sich ein anderer Bräutigam dafür fand:
»Fünf Mark auf die Hose, Fräulein, ick denke Ihr Bräutigam is tot?«
»Is er auch. Ich habe se ihm aber nich mitgegeben!«
Wenn aber ihre Zeit vorbei war, wenn die vergängliche Schönheit abgefallen war, dann dachten sie an Abfindung und an eine gute Brotstelle, wie die »Schokoladen-Toni«.
»I – mein Schwarm is' – – wenn mir mein Jraf eene Damentoalette in een pickfeinet Restaurant pachten täte, dann hat man doch immer noch Anschluß an die noble Welt!«
Daß ihr Lebenswandel nicht nur eitel Sonne und Wonne war, mußten sie meistens schon früh erfahren. Zu Weihnachten, wenn andere Menschen ihrem eigenen Gefallen leben dürfen, wenn die jungen Mädchen in der Familie gehütet und gehätschelt werden, dann müssen sie, trotz Kälte und Nässe, »Geld verdienen«. Und wenn es ihnen nicht glückt, recht viel zu erwischen, dann werden sie in der Familie ihrer Kuppelmutter barsch angeschrien:
»Zehn Em uff den Heiligenabend! Det ihr eich nich schämt! Aber wart' man, ick bringe euch noch in die Fürsorgeerziehung!«
Sehr zärtlich sind ja die Kupplerinnen und Mädchenhüterinnen nicht immer. Und da stehen dann die Schäfchen auf der Straße und bitten:
»Frau Müller, machen Se uff, 's is kalt, et regnet, 's is nischt mehr los – wir frier'n –«
Trotzdem verstehen die Mädchenhüterinnen immer wieder Nachwuchs an sich heranzuziehen. Und erinnern die Jungen an die vielen Lustmorde, dann tröstet die Alte:
83. »Det Jift soll ihr bis hinten durchgebrannt sind!«
»Dann kriegt ihr ooch 'n pickfeinet Begräbnis – 'n weißen Sarj Jungfrauensarg. und der Verein singt! – –«
*
Hierzu sind die nächsten Kapitel: »Die Männer der Mächens«, »Milljöh« und »Zille-Kneipen« und die in ihnen enthaltenen Bilder zu beachten.