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Heinrich Zille hat zwar viel mit Käte Kollwitz gemeinsam. Auch Käte Kollwitz zeichnete das Volk in Not. Aber sie läßt nur Krankheit und Armut und erdrückendes Leid sehen.
Zille aber setzt fast allen seinen Bildern humoristische Lichter auf. Er zeichnet das Volk nicht nur als passiven, leidenden Teil. Er betont gern die Kraft des Volkes, seine Aktivität. In vielen seiner Skizzen und Bilder leben Männer und Frauen von ungebrochener Kraft. Mit großer Inbrunst gab er auch einen Eindruck von zusammengefaßter Volkskraft und zeichnete 1918 den Arbeiterzug von Spandau nach Berlin – nachdem er Jahrzehnte vorher den Maiausflug der Arbeiterfamilien skizziert hatte. (Siehe das Bild in diesem Kapitel.)
Ja, Zilles Freude an der Volkskraft bricht durch alle Elendsschilderungen durch. Und wenn es oft auch nur jene Gerissenheit und jene verschmitzte Schlauheit ist, die sich aus Selbsterhaltungstrieb einstellen muß, wenn das Volk keine andern Auswege sieht – Zille weiß sie mit dem Zeichenstift ebenso zu fassen und für sie zu wirken wie mit den Sprachproben, die er gibt.
Er läßt den einen Obdachlosen zum andern sagen:
»Wat brauchen wa Alkohol, wenn wa Schnaps haben?«
Oder eine alte Frau setzt sich vergnügt auf eine Bank im öffentlichen Garten und meint:
»Damit mein Oller ooch mal wat uff de Bank hat!« (Bild Nr. 163.)
Diese Menschen, die nie bei einem Geldinstitut ein Bankguthaben besitzen, finden sich mit dieser tragikomischen Bemerkung mit ihrer Besitzlosigkeit ab. –
In diesem Ausspruch der Alten kommt auch Zilles schalkhafte Sprachkunst zur Geltung. Er weiß immer sehr anschauliche, bildliche und beziehungsreiche Ausdrücke zu finden. Auch in seinen Unterschriften und in seinen kleinen Erzählungen offenbart er ein leuchtendes Stück jener ursprünglichen Volkskraft, die in ihm steckt. Er findet stets Wendungen, die aus dem Volkstum hervorsprudeln, die in jeder Weise dem Volklichen innewohnen. Sie sind dem Volk nicht nur verwandt. Sie sind das Volk selbst.
Wer Zilles Unterschriften liest, wird das Volk und dessen Auffassung von der Welt und vom Leben viel leichter begreifen, als wenn er sich selbst darum müht.
Zilles Unterschriften sind ein ausgezeichnetes Mittel, das Volk kennenzulernen, es zu verstehen.
Und gerade in seinen gesellschaftskritischen Äußerungen kommt der Kern mancher Dinge und Empfindungen des Volkes deutlich ans Tageslicht. Ob es immer recht hat, ist eine andere Frage. Aber man muß wissen, wie es denkt und fühlt. Man muß es hören. Dann wird man ihm auch gerecht werden können, wird seine berechtigten Wünsche nicht mißverstehen, sondern versuchen, sie zu erfüllen.
Diese Mission des Meisters Heinrich Zille ist ihm heilig.
Sie drückt sich in der Lebensphilosophie einer armen Frau aus:
»Von's Verjnügen der reichen Leute ham wir Armen doch noch immer wat: von die Pferde die Wurscht, von die Zigarr'n und die Zigaretten die Stummel, von die Flieger die Notdurft un von die Automobile den Jestank!«
*
Er selbst zeichnet sich, wie er auf einem Dach sitzt, umgeben von qualmenden Schornsteinen:
»Der Kassenarzt hat mir Höhenluft verordnet –«
Er wohnt eben vier Treppen hoch und wird oft genug Schornsteindunst atmen müssen.
*
170. »Hof«-Kinder aus Berlin N.
Typische, rhachitische Sprößlinge, die an Luftmangel und Sonnenlosigkeit leiden.
Wie der Galgenhumor alles überwindet, zeigt sein Wort: »Aus großer Zeit«:
»Nich mal begraben kann man wer'n, et jiebt keene Särje mehr!«
»Ick fange an zu stinken, dann wer'n se mir schon holen! '
*
Bitter klagt Zille die verständnislose Zeit vor dem Kriege an in der Unterschrift:
»Wat hat denn der Kronprinz jesagt, Großmutter?«
»Er hat mir een Zehnpfenniger zum Andenken gegeben und sagte, ich soll'n nich vernaschen!«
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Aus dem Krieg selbst stammt der echte Volksliedvers:
Die Gesundheit ist verloren,
Wo soll'n wir denn nun hin?
Alsdann so wird es heißen:
Ein Vogel ohne Nest –
Nun Bruder nimm den Bettelsack,
Soldat bist du gewest!
*
Auch dieser Schmerz stammt aus den Hungerjahren des Krieges:
»Na, Olle, laß man nichts in de Suppe fall'n!«
»Wenn schon! eene Laus in Kohl is besser wie jar keen Fleesch!«
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Und die Verständnislosigkeit für das, was dem hungernden Volk am nächsten liegen muß, äußert sich bei dem mit der Bibel in einem frommen Verein beschenkten Familienvater nach der Christbescherung in Berlin NO.:
»Wenn jetzt eener wat von uns will, denn hau' ick ihm mit det Wort Jottes uff'n Schädel, det er brüllt wie'n Affe!«
171. Noch 'ne Gummipuppe.
Ein richtiger Berliner Steppke, dein schon die Skepsis aus dem. gedrückten Gesicht sieht.
Der Mann, der jahrzehntelang seine besten Kräfte im Dienst eines Betriebes geopfert hat, wird von seinen Arbeitsgenossen zum Jubiläum aufgefordert:
»Fritze, wir gratulieren dir, nu jeh. man zum Scheff, der muß doch was zum besten jeben!«
Und dort erhält er diesen freundlichen Spruch zum Ehrentage:
»So, heute sind Sie fünfundzwanzig Jahre bei mir, nun denken Sie mal, wieviel Geld Sie mir schon haben weggeschleppt.«
Dies Wort ist gewiß scharf, aber leider nur zu treffend. Die Arbeitgeber wissen nicht, wieviel Wind sie säen, weil sie nicht für die Altersjahre ihrer Mitarbeiter sorgen ...
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Und weil sie dafür nicht sorgen, erzählen schon die Kinder im Volke:
Paul »De olle Schulzen sagt, mit 'ner Zuckerschnur uffhäng'n wär een süßer Tod!«
Sonja: »Wenn och – aber de Seele muß hinten raus!«
*
Stark beschäftigten sich Zilles Gedanken auch mit der Wohnungsnot. Er sah täglich, ja stündlich die Nöte der Menschen in den Mietskasernen – die ja nicht immer ganz unverschuldet sind, weil viele Menschen im Volke nicht den Wert der guten Wohnung kennen und schätzen und mehr Geld für andere Dinge als für ein wirklich ausreichendes Heim ausgeben. Hier muß eben Erziehung und Fürsorge durch Verantwortliche noch stärker einsetzen. –
Zille wendet sich gegen das Verbot der Feuerungsanlagen in den Laubenkolonien: Mutter sagt zum Schupo:
»So! – Ofen und Kochen is nich mehr? – Denken Sie vielleicht, wir wollen uns een Sechser-Käse über die Petroleumlampe wärm'!«
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Und das Schlafstellenunwesen kennzeichnet Zille in mehreren glänzend gefaßten Sätzen:
»Die Schlafstelle is für een, der det nachts arbeet und am Tage schläft; wir hab'n bloß det eene Bette!«
172. »Die uns geführt Lasalle!«
Ausflug eines Arbeiter-Vereins mit Familien im Beginn der neunziger Jahre.
»Die Kambüse ohne Fenster hab'n Se ooch vermiet?« »Na, bloß an een blinden Klavierspieler.«
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Im alten Schlafburschenheim, das mit zahlreichen Menschen überfüllt ist, aber sagt der Vermieter trotzdem:
»Seit Errichtung des verdammten ›Ledigenheims‹ ist's bei mir wie ausjestorben.«
173. »Mensch, det is der reene Schwindel!
Da kriege ick zu Hause janz andere Sachen zu sehn! –«
Die Schlafstellenvermieterin jedoch triumphiert: »Bei mir is nie een Bette leer!«
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Mit diesen wenigen Sätzen ist Zille mehr gegen die Wohnungsnot angegangen, als andere mit langen Abhandlungen.
Am meisten leiden unter den unzulänglichen Wohnungsverhältnissen die Kinder. (Siehe das Kapitel »Zillekinder«.)
174. »Mein Oller is 'n schlechter Steuermann. Nich een Jahr steuert er mir an de Hebamme vorbei!« sagt Frau Müller aus der Schulstraße, 2. Hof, vier Treppen.
Im stillen Gäßchen, in dem kein Halm blüht, sitzt das lahme kranke Kind. Der Bruder sagt:
»Mutta, jieb doch die zwee Blumentöppe raus, Lieschen sitzt so jerne ins Jrüne!«
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Und auf dem Hof schreit die Mutter zum Fenster heraus, als die Kleinen in der Nähe ihres zum Abregnen hinausgestellten Blumentopfes spielen:
»Wollt ihr von die Blumen weg, spielt mit'n Müllkasten!«
*
Das sind dieselben Mütter, die einander erzählen:
»Ick habe sechs Kinder uff'n Kirchoff, is det noch keene Bemühung fürs Vaterland?!«
*
Auf diese Weise ironisiert Zille den oft unklug und mit untauglichen Mitteln geführten Kampf gegen den Geburtenrückgang.
Bitter beklagen sich solche Mütter auch über ihren Ehemann:
Vor der Klinik: »Mein Oller, det is ooch so'n Steuermann! Nich een Jahr bringt er mir um det Kap der juten Hoffnung rum!
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Und wer will sich wundern, daß sie scheinbar gefühllos antworten:
»Aber Frau! Sie waschen in der stillen Woche, das bringt Unglück, da kann Ihnen was sterben!«
»Schad' nischt, Frau Rat, wenn eens weniger wird, wir hab'n jenug!«
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Oder daß sie gar ins Wasser gehn, selbst mit einem Kinde auf dem Arm und einem Kinde unterm Herzen:
175. »Ick kann Blut spucken wenn ick will!«
»Mutter, is's ooch nich kalt?«
»Sei ruhig – die Fische leben immer drin!« (Bild 68 und 128.)
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Daß die Frauen sich über die Kinder im klaren sind, erzählt man in der Poliklinik:
»Das Kleine sieht recht mikrich aus.«
»Is die Nachbarn ihrs! An die Mutter is ooch nischt!
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Nicht alle Kinder haben eben einen sorgenden Vater. Und so sagt denn eine Frau zur andern, wenn wieder eine Säuglingsleiche im Müllkasten gefunden wird:
»Haben Se sich nich so, Schulzen, draußen in de Lauben
*
Aber die meisten Mütter sorgen doch, daß ihre verstorbenen Kinder wenigstens eine »schöne Leiche« sind. Siehe das Bild vom Fräuleinskind (Bild 103) und dieses Zwiegespräch:
»Nu hat det de Maiern doch durchjesetzt mit das weiße Sarch for ihrn kleen' Justaf?«
»Na ja, se hatte doch jrade Jeburtstag, da hatte ihr ihr Oller damit überrascht!«
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So ist es denn zu verstehen, wenn ein angetrunkener Arbeiter philosophisch zu Kindern sagt:
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Nun werden zwar viele Kinder auf alle Art gefördert, kommen auch unentgeltlich in die Ferienkolonien. Da sind nun aber die Großeltern. Die sagen beziehungsvoll:
»Nu is Maxe weg! Uns tät's ooch janz jut, mal in de Ferienkolonie zu kommen!« Das Wort enthält gewiß keinen Neid, sondern nur eine Erkenntnis. Denn der vom Begräbnis seines Sohnes heimkehrende Vater gibt seiner Lebensgefährtin den Zuspruch:
»Nu laß man, Mutter – er weiß nich und erfährt's auch nich, daß wir uns die Papp-Palme und die Papierblum' nur leihen konnten!«
176. »Herr Doktor, Brot soll ick nich essen?«
»Nein, liebe Frau.« »Na, ich hab auch kein Geld, mir welches zu kaufen.«
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Und eine Mutter äußert zum blinden Vater den bescheidenen Wunsch:
»Ach Jotte doch, Vata, wenn de bloß det noch kieken kennt'st, det wäre so'n: Särjekin for mein Willy!«
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Aber nicht jeder im Volke ist so rührend bescheiden. Es gibt auch genug Menschen, die ständig einen stillen Groll mit sich herumtragen, die derart sich gedrückt und getreten fühlen, daß sie bei jeder Kleinigkeit losbrüllen, wie der arme Hundebesitzer:
»Wat fällt Ihn' denn in, mein Hund von de Laterne wegzustoßen! Der bezahlt vielleicht mehr Steier als Sie!«
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Das sind Erkenntnisse, die man auf der Straße sammeln kann, wenn man das offene Ohr und offene Augen dafür hat. So manche Frau ernährt sich mit Straßenhandel. Voll Wut schreit sie, wenn sie von den einträglichsten Stellen fortgewiesen wird:
»Schreib'n Se mir man uff, – mir, eene Frau von vierzig Jahren, kenn' Se nich mehr trocken lejen, – det war' jelacht!«
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Und der Blinde, der ja ein besonders feines Gehör und Empfinden hat, sagt philosophisch beim Bettelnstehen zu seiner Frau:
»Mutter, wat man in de Friedrichstraße alles hört, ick könnte lachen, mir tun bloß jleich die Oogen so weh!«
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Ein anderer weiß zu berichten:
»– een jutes Herz hab'n de Leute bloß, wenn se besoffen sind, aba dann seh'n se mir nich.«
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Zille weiß auch, daß mit Redereien und wüsten Schimpfereien nichts erzielt wird. Er verhöhnt die bloße Propaganda sehr kräftig auf volkstümliche Art, indem er einen Volksredner quasseln läßt:
»Es hat schon immer arme und reiche Leute gegeben, so wie man hübsch und häßlich aussehende Menschen hat. Der Reichtum kann eine schwere Last werden, der Arme möchte
177. Der Krieger tröstet:
»Na laß man, wenn ick wiederkomme, denn ziehste de Hosen aus. Denn kochste wieder for uns und ick arbeite for euch alle!«
die Last gerne tragen. Reichtum ist keine Schande und Armut macht nicht glücklich! Wer nischt erheiratet und nischt ererbt – der bleibt een dummes Luder und verderbt. Es soll ein Kamel eher durch ein Nadelöhr gehen, als daß ein Reicher in den Himmel kommt! Wo viel ist – da wird bald noch mehr dazu kommen, wer wenig hat, dem wird bald noch das Wenige genommen – wenn du aber gar nichts hast – Lump, dann lasse dich begraben – denn ein Recht zum Leben haben nur die – die etwas haben! Macht euch das Leben hier recht schön – kein Jenseits gibt's – kein Wiedersehn! Schmiede das Eisen wie dich selbst, und liebe deinen Nächsten solange er warm ist! Also – die Kartoffeln aufs Brot geschmiert, der kleinste Arm muß werden wie'n Stiefelschaft!«
Z.
Wenn aber die Prophezeiungen nicht eintreffen und das geneppte Volk ungeduldig wird und dem Volksbeglücker auf die Bude rückt, muß einer von dem inzwischen Verschwundenen melden:
»Das ist alles, was er uns hier gelassen hat – den ›Baum der Freiheit‹.«
Ein kleiner kranker Blumentopf wird der versammelten Gemeinde gezeigt ....
Der richtige Volksredner entschuldigt sich erst, ehe er auf die Wohlhabenden, auf die Schlemmer schimpft:
»Stoßt eich nicht an meinen Bauch, den sollt ihr alle auch bekommen – ich sage euch: noch besser!«
*
Meister Zille hat viele Leute angehört, viele Menschheit beglückende Ideen vernommen. Er tritt diesen Beglückern oft – leider nicht immer – mit dem angebrachten Mißtrauen entgegen. Er weiß, daß nur allzu viele der Zukunftsmacher nichts als Geschäftemacher sind. Weiß, daß sie Propaganda und revolutionäre Volksaufklärung nur um ihrer selbst willen machen und läßt darüber kräftige Worte fallen.
178. Das eiserne Kreuz.
»Mutta, bis Vata wieda kommt, vermieten wir an 'n Schlafburschen!«
179. »In der Nähe großer Städte.«
Trotzdem aber bleibt er bei der Stange. Und wenn er auch manchmal über das Ziel hinausschießt und oft nicht mit den ehrlich arbeitenden Weggenossen marschiert, sondern sich an jene »Volksredner« mit Anführungsstrichen verliert – er hat ja doch leider nur in zu vielem recht, wenn er ironisch und bitter anklagend unter eines seiner Bilder von Arbeitsinvaliden setzt:
– unser Leben währet 70 Jahr,
und wenn es hochkommt, so' sind es 80 Jahr,
und wenn es köstlich gewesen,
so ist es Mühe und Arbeit gewesen –